The Project Gutenberg eBook of Der geistliche Tod: Roman.

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Title: Der geistliche Tod: Roman.

Author: Emil Marriot

Release date: December 17, 2021 [eBook #66959]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER GEISTLICHE TOD: ROMAN. ***

Der geistliche Tod

Roman
von
Emil Marriot

Zehnte Auflage

Berlin
G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung
1907

Übersetzungsrecht und alle anderen Rechte vorbehalten.

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

Der geistliche Tod

Erstes Kapitel

Abend war es, ein schöner, warmer Sommerabend. Über den Feldpfad, der vom Bahnhof in das Dorf führte, schritt ein junger Mann. Ein großer schwarzer Neufundländer folgte ihm auf dem Fuße. Der Ankömmling stand still, entblößte das Haupt und strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Dabei tat er einen tiefen Atemzug und ließ den Blick über das vor ihm liegende Dorf schweifen ... Das also war seine neue Heimat!

Still und friedlich lag der Ort da, die Kirchtürme ragten zwischen den Häusern hervor und rings umher erhoben sich grüne Hügel und felsige oder bewaldete Berge. Die Glocken läuteten zum Abendgebet; in den Wiesen zirpten Grillen, aus den Laubwerken leuchteten Johanniskäfer auf und am Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Das war seine neue Heimat! Ein Gefühl der Rührung, der Bangigkeit, fast der Liebe durchzog seine Brust; er wollte sich hier recht glücklich fühlen, sich recht innig schließen an diese schöne Natur und auch an die Menschen, falls sie sich dessen wert zeigen sollten. Von diesen Gedanken beseelt, setzte er seinen Weg fort; der Hund ging dicht hinter ihm.

Sie kamen bei den ersten Häusern an. Meistens waren es einstöckige Häuser mit weiß getünchten Wänden und Schindeldächern, grün oder gelb angestrichenen Jalousien und Haustoren; viele hatten an der Gassenfronte einen Balkon und neben manchen lag Holz aufgespeichert; an einigen rankten sich wilder Wein und Efeu empor und auf den Veranden standen Blumentöpfe. Der Wanderer erreichte den Hauptplatz; in der Mitte des Platzes stand eine Säule und auf derselben ein heiliger Florian, der einen Kübel Wasser über ein brennendes Häuslein ausgoß. An den Häusern, in allen Ecken waren Heiligenbilder oder Heiligenstatuen angebracht; kein Wunder: lag doch das Dorf St. Jakob im Norden des glaubensstarken Landes Tirol.

Die Dorfbewohner schliefen schon oder saßen in den Wirtshäusern.

Ohne jemandem zu begegnen, langten Herr und Hund bei der Kirche an, und diese war das Ziel ihrer Wanderung; neben der Kirche stand der Pfarrhof, und dorthin gehörte der Ankömmling von dieser Stunde an.

Den Plan, auf dem die Kirche und rechts davon der Pfarrhof standen, friedete ein schwarzes Gitter ein. Die beiden Gebäude waren höher gelegen als die übrigen Häuser und ragten einsam hervor, gleichsam, um anzuzeigen, daß sie einen höheren, von den Alltagsinteressen der Dorfbewohner streng geschiedenen Zweck zu erfüllen hätten. Die Kirche machte, wie alle Dorfkirchen, einen friedlichen Eindruck; der große, kahle Pfarrhof hingegen sah düster wie eine Kaserne aus.

Der Fremde schritt auf das Haus zu und zog an der Glocke. Sogleich erscholl drinnen heiseres Gebell, dann ertönten Schritte, begütigende Zurufe wurden laut, die Tür ging auf und eine junge Bauerndirne, die einen knurrenden Hofhund am Halsband festhielt, zeigte sich auf der Schwelle.

»Grüasch Gott, Hochwürden,« sagte das Mädchen treuherzig. »Die Hand kann ich dem Herrn nicht geben, weil ich das Hundsvieh halten muß. Aber der Burschel tut nichts, er tut nur im Anfang so wüst. Wollen der Herr nicht vorausspazieren? Seine Zimmer sind in der feinsten Ordnung. Wir haben alles recht nett herg'richt.«

Derjenige, den sie »Hochwürden« genannt hatte und dessen glattrasiertes Gesicht, Collare und schwarze Kleidung den katholischen Priester zur Genüge kennzeichneten, trat, den eigenen Hund am Halsband führend, in das Haus.

»Bleib' draußen – Du!« sagte das Mädchen zu Burschel, drängte ihn ins Freie hinaus und schloß das Tor hinter ihm ab. Der Hund ließ ein zorniges Gebell erschallen.

Das Mädchen führte den Fremden zwei Holztreppen hoch bis vor eine Tür.

»Da wären wir!« sagte sie, die Tür öffnend und machte Licht, und er konnte nun die Stube in Augenschein nehmen. Sauber war sie, blank gescheuert, und an den Fenstern hingen blütenweiße Gardinen. Die Einrichtung war freilich in hohem Grade einfach und bestand durchweg aus Holz; die Wände schmückten oder, richtiger gesagt, verunzierten fratzenhafte Heiligenbilder aller Art und an der Tür hing ein kleiner Weihwasserkessel.

»Gefallt's dem Herrn?« fragte das Mädchen.

»Sehr gut,« antwortete er und überlegte im Geiste, wohin er seinen Bücherschrank, sein Klavier und mehrere andere Gegenstände, die demnächst eintreffen würden, stellen sollte; und die Heiligenbilder wollte er entfernen lassen, ... diesen Entschluß faßte er sogleich.

»Und nebenan ist die Schlafstube,« sagte das Mädchen.

»Schön; und nun eine wichtige Frage: kann ich etwas zu essen bekommen?«

»O ja. Der gnädige Herr hat wohl schon zu Nacht 'gessen, aber es wird schon noch was da sein. Freilich, der Herr werden hungrig sein nach der langen Fahrt, und i will gleich in die Küch' laufen und was bringen.«

Sie entfernte sich, der Priester ergriff das Licht und begab sich in die Stube nebenan. Auch diese war sehr sauber und hatte weiße Mullgardinen an den Fenstern. Im übrigen aber machte sie einen fast traurigen Eindruck. In der Nähe des Bettes stand ein Betschemel und über diesem erhob sich ein hölzerner Christus am Kreuze, dessen unverhältnismäßig großes Haupt wie ein Wasserkopf aussah. Über dem Bette selbst war das Bild der schmerzhaften Mutter Gottes angebracht; ihr Herz war sichtbar – sie wies mit der Hand darauf – und dieses Herz durchdrang ein Schwert. Auch in dieser Stube befand sich ein Weihwasserkessel und an den Wänden hingen oder klebten Heiligenbilder; an einer der Wände waren mittels einer Kohle die Worte: Memento mori! aufgezeichnet, und auf dem Nachttisch stand unter einem gläsernen Sturz ein kleines eisernes Kreuz, zu dessen Fuß ein Totenschädel und kreuzweise übereinander gelegte Gebeine ruhten.

Der Priester sah das alles aufmerksam an und legte sodann Handtasche und Überzieher auf das Bett.

»Asketisch, sehr asketisch sind diese Zimmer eingerichtet,« dachte er. »Nicht ein weicher Stuhl, kein Teppich, und statt des Sofas eine Bank aus Holz. Sind wir denn Mönche?«

Er ging zum Waschtisch hin und wusch sich den Reisestaub vom Gesicht und den Händen, holte aus seiner Reisetasche einen Kamm, eine Bürste und einen kleinen Spiegel – einen solchen gab es hier nicht –, kämmte sein Haar und strich mit der Bürste seine verstaubten, vom langen Fahren zerdrückten Kleider rein und glatt. Als er damit fertig war, trat er zum Fenster hin, öffnete es und lehnte sich hinaus. Das Fenster hatte die Aussicht auf den Garten, der zum Pfarrhof gehörte; die Bäume und Blumen strömten einen balsamischen Duft aus. Im Hintergrunde zeigten sich die Umrisse hoher Berge; auf dem Gipfel des erhabensten leuchtete ewiger Schnee. Der Hund war dem Herrn nachgeschlichen, richtete sich empor und legte die schweren Vorderpfoten auf das Fensterbrett. Mit einem Arm umschlang der Priester den Hals des mächtigen Tieres, drückte den zottigen Kopf an die Brust, und Herr und Hund schauten in die Nacht hinaus.

»Cäsar!« sagte der Geistliche endlich und noch einmal leise und bewegt: »Cäsar!« und verbarg das Gesicht in dem weichen Halsfell des Tieres. »Ich habe jetzt niemanden als Dich, und Du hast niemanden als mich ... Wir wollen treu zueinander halten, gelt, alter Kerl?«

Der Hund wedelte, drehte den Kopf zur Seite und leckte seinem Herrn die Hand. »Verstehe schon!« schienen seine treuherzigen Tieraugen zu sagen.

»Und wenn Dein Herr in Träumereien versinkt,« sprach der Priester weiter, »dann zupfe ihn am Rock oder belle oder treibe sonst irgendeinen Unsinn. Du weißt, daß Dein Herr nicht träumen soll. Hast Du mich verstanden?«

Schwerlich. Aber er gab sich den Anschein danach, schaute seinen Herrn mit kluger Miene an, glitt vom Fenster herab und stand, mit den Hinterpfoten am Boden scharrend, erwartungsvoll da. Dann spitzte er die Ohren und lief zur Tür hin. Die Magd war mit Speise und Trank eingetroffen und deckte den Tisch. In der Tür lehnend, sah der Geistliche ihrem Treiben zu und fragte nach einer Weile: »Kann ich dem Herrn Dekan heute noch meine Aufwartung machen?«

»Heut' wird's wohl nimmer recht angehen ... Der gnädige Herr sein schon im Schlafzimmer.«

»Wann und wo wird gefrühstückt?«

»Um halb acht, ... wann halt die Messen g'lesen sein. Das Speiszimmer ist drunten im ersten Stock. Da werd'ns a junge G'sellschaft finden: die gnädige Fräul'n und den Herrn Pater.«

»Wer sind diese?«

»Die Fräul'n ist eine Nichte vom gnädigen Herrn, ... sie ist aus Wien und bleibt übern Sommer hier, ... wegen der Luft, hab' i g'hört, ... und der Herr Pater ist ein Herr Franziskaner, der zur Aushilf' kommen is ... Es gibt halt so grausam viel zu tun in der Kirchen und da haben's die geistlichen Herren halt nimmer richten können, und deswegen ist der Pater hier.«

»Ein noch junger Mann?«

»O blutjung! Und so schüchtern! In einem fort wird er rot, und völlig net anz'schauen traut er sich die Weibsleut' ...« Sie lachte in sich hinein. »Aber a guader[1] Mensch is er, oa herzensguader ... Ich mag ihn schon leiden. Brauchen Hochwürden noch was oder kann ich gehen?« fragte sie abbrechend.

Nur noch eine Schüssel für den Hund, damit er ihn trinken lassen könne. Sie brachte auch die Schüssel.

»Wann's 'gessen haben, gangen's[2] nur ruhig schlafen,« sagte sie. »Ich werd' schon nachher kimma und die Sachen da hinaustragen. Jetzt wünsch' ich guaden Appetit und oa guade Nacht.«

»Noch einen Augenblick, mein Kind,« sagte der Priester, sie zurückhaltend. »Wie heißen Sie denn?«

»Uschei[3], Hochwürden,« antwortete sie mit einem Knicks.

»Also, Uschei,« sprach er weiter, »hören Sie mich. Morgen mit dem Frühzug wird mein Gepäck ankommen. Tragen Sie Sorge dafür, daß es mir sogleich ins Haus geschafft werde, denn ich möchte mich sobald wie möglich heimisch hier fühlen, und ohne meine Bücher und mein Klavier geht es nicht.«

»Ja, ich werd's den Knechten sagen. Gnade Ruh', Hochwürden.«

»Noa! unser neuer Herr Kop'ratter is oa liaber Mensch!« sagte sie unten in der Gesindestube. »So freundlich und fein, und Klavierspiel'n tuat er a ... Da wird's dächt'[4] a bissel lustiger bei ins[5] werden.«


Während diese kleine Szene im zweiten Stockwerk des Pfarrhofes sich abspielte, saß der Dekan von St. Jakob im Arbeitszimmer vor dem großen Pulte und beschäftigte sich mit dem Lesen von Briefen. Drei Briefe waren es, die er langsam nacheinander entfaltete, aufmerksam studierte und dann wieder zusammenlegte. Er hatte die Briefe erst kürzlich erhalten und ihr Inhalt mußte für ihn von hohem Interesse sein: denn kaum daß er sie zu Ende gelesen hatte, nahm er abermals den ersten zur Hand und begann ihn neuerdings zu lesen. Er war von einer zitternden Greisenhand geschrieben und enthielt Folgendes:

»In Erwiderung auf Ihr geehrtes Schreiben vom 15. Juni 18—, hochverehrter, hochwürdiger Herr Dekan, erlaube ich mir, Ihnen nachstehende Mitteilungen zu machen. Der junge Mann, über den Sie sich bei mir zu erkundigen beliebten, wurde meiner Pfarre vor sechs Jahren zugeteilt und brachte beinahe zwei Jahre in meinem Hause zu. Er hatte damals erst vor wenigen Tagen die Weihen empfangen und war in der praktischen Seelsorge noch gänzlich unbewandert; ich bin mir bewußt, ihm freundlich entgegengekommen zu sein und mir alle Mühe gegeben zu haben, ihm, wo und wie immer ich nur konnte, hilfreich an die Hand zu gehen. Der junge Koadjutor blieb mir jedoch, obschon er äußerlich zuvorkommend und fügsam war, innerlich ein Fremder und erfüllte auch seine Berufspflichten nicht mit jenem Eifer und jener Hingebung, die von einem Priester erwartet und gefordert werden dürfen. Ebenso machte ich bald die Wahrnehmung, daß er mit allen Leuten lieber verkehrte als mit mir und in Gesellschaft von Bauern sehr aufgeräumt sein konnte, während er im Pfarrhof stets schweigsam und verschlossen war. Indessen will ich dem jungen Manne nicht schaden, und es sollte mich freuen, wenn nichts anderes als das noch Ungewohnte seines Berufes und der große Unterschied der Jahre, der zwischen ihm und mir bestand, es gewesen wären, die ein vertrauliches Zusammenleben und Wirken nicht recht aufkommen ließen. Seinen Sitten kann ich nichts Ungünstiges nachsagen und ebenso muß ich mich gegen die Vermutung, daß ich es gewesen wäre, der auf seine Versetzung von meinem Pfarrhof in einen anderen gedrungen hätte, entschieden verwahren. Ich bin mit dem jungen Manne stets leidlich gut ausgekommen und sah ihn sogar ziemlich ungern scheiden, weil ich mich an ihn gewöhnt hatte. Die Ursache seiner Versetzung war keine andere, als daß ein Kooperator plötzlich starb, dessen Stelle sofort besetzt werden mußte. Zum Lobe meines ehemaligen Koadjutors will ich noch hinzufügen, daß er sich am Orte großer Beliebtheit erfreute und sein Scheiden allgemeines Bedauern hervorrief. Indem ich Sie bitte, hochverehrter und hochwürdiger Herr Dekan, von dieser vertraulichen Mitteilung keinerlei Gebrauch zu machen und Ihrem neuen Mitarbeiter mit unbefangenem Wohlwollen entgegenzukommen, zeichne ich« usw.

Der Dekan legte den Brief auf das Pult und griff nach dem zweiten Schreiben.

»Hochgeehrter Herr Dekan!« hieß es darin. »Zu meinem Bedauern sehe ich mich gezwungen, Ihnen auf die von mir verlangte Auskunft über die Konduite des Herrn Kooperators H— eine ungünstige Antwort zu geben. Drei Jahre lang habe ich mich mit diesem Herrn geplagt und geärgert, und ich danke heute unserem Herrgott, daß es meinen wiederholten Bitten um seine Versetzung endlich gelungen ist, ihn mir vom Halse zu schaffen. Er mißfiel mir vom ersten Augenblick an, obwohl er im Anfang sich alle Mühe gab, mich über seinen wahren Charakter zu täuschen; ich aber durchschaute ihn sofort und wußte, mit welcher Art von Menschen ich zu tun hätte. Meiner Ansicht nach hätte dieser Herr niemals Priester werden sollen. Junge Geistliche, die das Haar lang und lockig tragen und sich bemühen, die Tonsur zu verbergen, sich zierlich kleiden und ohne den Spiegel nicht existieren könnten, sind mir von jeher antipathisch gewesen. Jener junge Herr war nicht nur eitel auf seine äußere Erscheinung, sondern auch über alle Maßen weltlich gesinnt, vergnügungssüchtig und eigensinnig; Kirche und Pfarrhof waren die Orte, wo er sich am unliebsten aufhielt, – aber mit Bauern und Städtern unnützes Zeug schwatzen, in alle Häuser, wo junge Frauenzimmer wohnten, laufen, musizieren, lesen, spazierengehen, – ja, das behagte seinem hoffärtigen Sinne. Sie können sich nach dem eben Gehörten wohl ohne Mühe vorstellen, daß ich den jungen Mann nicht allzu sanft behandelte; ich wollte ihn bessern, – aber da kam ich schön an! Er widersetzte sich allem, was ich ihm zu tun befahl oder zu unterlassen gebot, konspirierte mit den Aufgeklärten (sic!) im Orte gegen mich und ging mir wie einem Pestkranken aus dem Wege. Im letzten Jahre setzte er seinem Benehmen die Krone auf, indem er mit einer Dirne, die meine Wirtschafterin (eine sehr achtbare Person) ins Haus genommen hatte, ein intimes Liebesverhältnis einging. Glücklicherweise bekam meine Wirtschafterin bald Wind davon und drang darauf, daß die Dirne das Haus verlasse. Ich war damit natürlich einverstanden und schickte das Mädchen, das nicht aus unserem Dorfe war, in ihren Heimatsort zurück. Würden Sie an meiner Stelle anders gehandelt haben? Es ist wahr, und ich rühme mich dessen: ich habe der Dirne tüchtig den Kopf gewaschen und ihr meine Meinung gesagt. An ihrem Heulen war mir wenig gelegen. Aber daß mich mein Herr Untergebener darüber förmlich zur Rede stellte und mir mit einer mir völlig fremden Leidenschaftlichkeit meine »Roheiten« gegen ein unglückliches, wehrloses Mädchen (sic!) vorwarf, – das war doch eine unerhörte Frechheit! Ich habe sie ihn auch entgelten lassen und ihn von dieser Stunde an mit rücksichtsloser Härte behandelt. Wenn er Reue gezeigt hätte, würde ich ihm vielleicht verziehen haben. Aber (bloß um mich zu ärgern!) gab er sich den Anschein, als ob er die Dirne nicht vergessen könnte, stand in Briefwechsel mit ihr, aß fast nichts, rannte in der Nacht in den Straßen herum anstatt zu schlafen, – kurzum, gebärdete sich wie ein Narr. Ein halbes Jahr später kam die Nachricht, daß sein Mädchen sich verlobt hätte und darauf wurde er – äußerlich wenigstens – ruhiger. Dessenungeachtet ließ ich alle Minen springen, um ihn los zu werden, und als ich meinen Zweck endlich erreicht hatte, schied er, – natürlich ohne mich um Verzeihung gebeten zu haben, und verbarg ebensowenig, wie lieb es ihm wäre, von hier fortzukommen.

Ich wünsche von Herzen, hochwürdiger Herr Dekan, daß der verunglückte Mensch sich gebessert haben oder daß es Ihrem Einflusse gelingen möge, ihn zu bessern, und verbleibe« usw.

»Das klingt schon anders als das erste Zeugnis,« murmelte der Dekan. »Der junge Mann hat Fortschritte gemacht.«

Er schlug das dritte Schreiben auseinander. Dieses war sehr kurz und lautete wie folgt:

»Hochwürdiger, hochgeehrter Herr Dekan! Ich bedaure lebhaft, Ihre Nachfrage hinsichtlich des Herrn Kooperators H. nur ungenügend beantworten zu können. Stets von Geschäften überbürdet, ist es mir nicht möglich, mich eingehend mit den Charakteren der vier mir unterstehenden Kooperatoren und Koadjutoren zu beschäftigen. Herr H. lebte kaum ein Jahr bei mir und blieb mir beinahe völlig fremd. Im Anfang seines Hierseins war er immer leidend und wahrscheinlich auch infolgedessen still und traurig. Später erholte er sich und kam seinen Berufspflichten stets pünktlich nach. Im großen und ganzen kann ich ihn weder loben noch tadeln. Er ist, wie ich glaube, ein indifferenter Mensch. Umgang pflog er mit wenig Leuten; meinen Geistlichen gegenüber verhielt er sich zurückhaltend; nur als mein jüngster Koadjutor am Typhus erkrankte, pflegte ihn Herr H., wie ich gehört habe, mit aufopferungsvoller Fürsorge und schloß sich dem jungen Manne, als dieser genesen war, auch näher an. Dieser selbe Herr Koadjutor hat sein Scheiden schmerzlich empfunden. Was die Sitten Herrn H.s anbelangt, so enthalte ich mich darüber jedes Urteiles, indem ich mich um das, was meine Herren außerhalb des Pfarrhofes treiben, grundsätzlich nicht bekümmere. Übrigens ist mir nichts Nachteiliges zu Ohren gekommen. Genehmigen Sie« usw.

Der Dekan verschloß die Briefe im Pulte und blieb in nachdenklicher Stellung sitzen. Er wußte nun, wie sein neuer Kooperator beschaffen war; er hatte drei kompetente Urteile über den jungen Mann gehört, ... denn kompetent waren diese Stimmen, wenigstens nach seiner Meinung, und nun kannte er ihn, glaubte ihn zu kennen. »Mit dem werden wir schon fertig werden. Es ist gut, wenn man gleich am Anfang weiß, wie man sich einem Menschen gegenüber zu verhalten hat.«

Die Frage, ob der Verkehr nicht weit unbefangener und ungezwungener gewesen wäre, wenn er diese Spionage unterlassen und den jungen Mann selbst geprüft und kennen zu lernen versucht hätte, ohne sich im voraus ein auf fremde Aussprüche gestütztes Urteil über ihn zu bilden, diese Frage kam dem Dekan nicht einmal in den Sinn. Ebensowenig war er geneigt, aus den Briefen anderes herauszulesen, als daß Georg Harteck ein pflichtvergessener Priester war und einen störrigen, ziemlich sittenlosen Charakter besaß. Er streichelte mit der Hand sein spitzes Kinn, nickte wie einer, der weiß, was er zu tun hat, stand auf und verfügte sich in sein Schlafzimmer.

Zweites Kapitel

Der neu angekommene Priester war am nächsten Morgen schon frühzeitig außer Bett. Von seinem Hunde begleitet, begab er sich in den Garten und besichtigte diesen. Der Garten war ziemlich groß, hatte alte, laubreiche Bäume und gut gehaltene Blumenbeete. Hinter den Bergen, die, eine grandiose Kette, empor zum Himmel strebten, ging eben leuchtend die Sonne auf. In den Blumenkelchen und auf den Halmen glitzerten Tautropfen; die Luft war klar und scharf, – eine echte Gebirgsluft. Der junge Priester entblößte das Haupt und ließ die würzige Luft mit seinen Haaren spielen. Langsam, mit gesenktem Kopfe, wandelte er die Kieswege auf und ab und dachte an allerhand: was der Tag bringen, wie sein neues Leben sich gestalten würde? Da hörte er Schritte hinter sich; er stand still, wendete sich um und sah einen jungen Mann in brauner Kutte auf sich zuschreiten.

»Guten Morgen!« rief dieser ihm entgegen und nahm sein Käppchen ab, so daß sein kurz geschorenes Haar sichtbar wurde. »Schon so früh auf? Sie sind kein Langschläfer.«

Der junge Mönch hatte ein rundes, beinahe kindliches, gut gefärbtes Gesicht, aus dem zwei unschuldige braune Augen ernst und harmlos in die Welt schauten. Um die Lenden trug er einen Strick, an dem ein Rosenkranz hing, und seine Füße staken in Sandalen.

Der Priester erwiderte seinen Gruß und stellte sich ihm vor: »Mein Name ist Harteck. Ich freue mich herzlich, Sie kennen zu lernen.«

»Mich heißt man den Pater Benediktus. Seien Sie mir viele Male willkommen, Herr Kooperator.«

Sie schüttelten einander die Hände.

»Ich würde gestern gern auf Ihr Zimmer gekommen sein, um Sie zu begrüßen,« sprach Benediktus weiter. »Aber, als Sie eintrafen, hatte ich gerade im Spital zu tun und später fürchtete ich, Sie zu stören.«

»Sie würden mich keineswegs gestört haben, – im Gegenteil!«

Eine kurze Pause trat ein. Der Pater sah ein Blumenbeet an und Harteck betrachtete den Mönch.

»Wollen wir nicht ein wenig auf und ab gehen?« fragte der Geistliche sodann. Der Pater war damit einverstanden.

»Wie lange sind Sie schon hier?« lautete die nächste Frage des Priesters.

»Seit einem Jahre.«

»Es gibt hier viel zu tun, wie ich gehört habe?«

»Sehr viel. Das Dorf ist groß und alle umliegenden Ortschaften, ja sogar das Nachbarstädtchen zählen zu unserem Sprengel. Der Herr Dekan bekommt in einem fort Besuche, Gesuche und Briefe und hat zur Seelsorge wenig Zeit.«

»Was für ein Mensch ist der Dekan?«

»Hm, ... er ist ein sehr eifriger und tätiger Mann. Nur beschäftigt er sich zu viel mit Politik. Er hat vor kurzem für den Landtag kandidiert und ist unbegreiflicherweise nicht gewählt worden. Seitdem ist er stets leidlich verstimmt.«

»Ich habe von seiner Niederlage gehört und mich darüber gewundert. Ist man denn hier im Ort und in der Umgebung so liberal gesinnt?«

»Es scheint so. Die Herren in der Nachbarstadt haben den Ausschlag gegeben; die wollten durchaus einen Advokaten durchbringen und haben es auch durchgesetzt. Unsere Bauern sind ebenfalls aufgehetzt worden.«

»Von wem?«

»Nun, von den Liberalen im Orte, ... dem Schullehrer, dem Arzte, den drei Herren von der Eisenbahn und den paar Krämern, die sich der Himmel weiß wie weise dünken, wenn sie einem geistlichen Herrn Opposition machen. Viele bleiben auch jetzt der Kirche fern, wenn der Herr Dekan predigt; daß er nicht immer zum Sanftesten spricht, ist ihm wohl nicht zu verübeln.«

Darauf sagte der Priester nichts.

»Wie steht es mit der Schule?« fragte er sodann.

»Hm, ... könnte besser sein. Es gibt eben fortwährend Reibereien. Der Schullehrer ist ein Liberaler und möchte am liebsten, daß die Kinder gar keinen Religionsunterricht genössen, und die Glaubenslehre soll und muß doch der Hauptgegenstand sein. Der Herr Dekan, seinerseits, ist wieder mit der Unterrichtsmethode des Lehrers nicht zufrieden ... Er überbürde die Kinder, meint er, und mache es den älteren Knaben und Mädchen vor lauter Lernen unmöglich, ihren Eltern bei den Haus- und Feldarbeiten zu helfen. Wir brauchen, meint der Herr Dekan, tüchtige Bauern und Bäuerinnen, aber keine Gelehrten.«

Auch dieser Rede stimmte Harteck weder bei, noch widersprach er ihr.

»Sind die Leute fromm?« fragte er.

»Wie man es nimmt. Die Weiber gehen noch an, ... die Männer jedoch, besonders die Burschen, sitzen lieber im Wirtshaus als in der Kirche. Das macht das böse Beispiel. Seit jener verunglückten Kandidatur herrscht zwischen dem gnädigen Herrn und den Bauern eine gewisse Spannung. Der Herr Dekan zeigt ihnen unverhohlen, daß er unzufrieden mit ihnen ist, und sie gehen ihm, so viel sie können, aus dem Wege. Hoffentlich wird es mit der Zeit anders werden.«

»Auf welche Weise bringt man hier die freien Stunden zu? Mit wem kann man verkehren?«

»Sie meinen, mit wem wir verkehren können? Jetzt mit niemandem. Der Herr Dekan hat jeden Umgang abgebrochen. Manchmal jedoch kommen geistliche Herren aus den Nachbardörfern zum Besuche, ... die kegeln oder spielen Tarock mit dem gnädigen Herrn, und daran können auch Sie sich beteiligen, wenn Sie Lust dazu haben.«

»Mit den Bauern kann man jetzt ebenfalls nicht verkehren? Ich möchte die Leute doch kennen lernen.«

»Sie können das halten, wie Sie wollen. Ob der Herr Dekan es gern sehen würde, kann ich freilich nicht sagen.«

Eine Zeitlang wandelten sie schweigend nebeneinander her. Der Priester schien in Nachdenken versunken.

»Wird hier Musik getrieben?« fragte er dann plötzlich.

»Musik? Ach freilich! Der Schullehrer hat so eine Art von Musikverein ins Leben gerufen, und der spielt an jedem Sonn- und Feiertag im Gasthausgarten vom Bärenwirt. Die Leute sollen recht gut spielen. Ich, für meine Person, habe mit derlei Dingen nichts zu schaffen.«

»Wer singt denn auf dem Chor?«

»Die Töchter vom Bärenwirt, vom Kaufmann und vom Arzte. Die Tochter des Arztes hat eine schöne Altstimme.«

»Wer spielt die Orgel?«

»Der Schullehrer. Dem Herrn Dekan ist das zwar nicht ganz recht, aber außer dem Schullehrer versteht niemand im Orte die Orgel zu spielen. Und dem Mann trägt es Geld ein, und außerdem macht es ihm in doppelter Weise Vergnügen ... Dazu ist die Kirche, die er sonst nie besucht, doch gut.«

»Wieso macht ihm das Spiel in doppelter Weise Vergnügen? Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich habe gehört, daß er sich um die Hand der Tochter des Arztes bewerbe, und da das Fräulein auf dem Chor singt, ist es ihm natürlich angenehm, sie begleiten zu dürfen.«

»Ach so!«

Abermals trat eine Pause ein.

»Wo liegt das Spital?« fragte der Priester nach einer Weile.

»Sie können es vom Garten aus sehen.« Er wies mit der Hand über die Gartenmauer nach einem freistehenden dreistockhohen Hause. »Es ist gut gehalten und wird vortrefflich geleitet. Vier Schwestern wohnen dort und pflegen die Kranken. Auch alte, arme, arbeitsunfähige Leute nimmt das Spital auf und versorgt sie. Es ist vorzugsweise meine Aufgabe, zu den Kranken zu gehen und ihnen die heiligen Sakramente zu spenden. Beinahe jede Nacht werde ich geweckt, weil einer der Kranken nach mir verlangt hat.«

»Das ist eine mühevolle Aufgabe für einen einzelnen. Künftighin werde ich sie mit Ihnen teilen.«

»Das ist nicht nötig. Mir sind meine Berufspflichten niemals noch zu schwer oder zu viel gewesen. Sie werden mit der Seelsorge und dem Unterricht genug zu tun haben. Lassen Sie mir meine Kranken!«

Der junge Kooperator nickte und streichelte den Kopf seines Hundes, der sich dicht an ihn drängte und augenscheinlich beachtet werden wollte.

»Jetzt haben Sie mich nach allem gefragt, nur nach der Kirche nicht,« bemerkte der Mönch nach einer Stille. »Ohne Zweifel haben Sie dieselbe schon besichtigt?«

Eine flüchtige Röte trat auf die Wangen des Priesters.

»Noch nicht,« antwortete er. »Ich werde sie ja sehen, wenn ich die Messe lese,« fügte er rasch hinzu.

Der junge Mönch sah ihn bloß an und erwiderte keine Silbe.

»Um wieviel Uhr wird die erste Messe gelesen?« fragte Harteck, dem dieses Schweigen, in dem ein verhaltener Tadel zu liegen schien, unbehaglich war.

»Um halb sieben Uhr; um sieben Uhr kommt die Reihe an Sie. Die erste Messe liest immer der Herr Dekan. Jetzt aber muß ich Sie verlassen. Es ist Zeit, unsere Gebete vorzunehmen. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« sprach Harteck nach, und der Mönch entfernte sich. Harteck setzte sich auf eine Bank, die unter einem breitästigen Kastanienbaum stand, und zog sein Brevier aus der Tasche. Zerstreut wendete er die Blätter um.

Ein abgeschlossener, ruhiger, mit sich selbst einiger Mensch, dieser junge Mönch. Er fragt nicht, er ist nicht neugierig, er antwortet bloß; alles, was außerhalb seines Berufes liegt, scheint ihm gleichgültig zu sein; aber alles, was zu seinem Berufe gehört, ist ihm heilig.

»Hätte ich doch nach der Kirche gefragt!« dachte Harteck. »Es lag so nahe, ... aber weiß der Himmel, wie es kam, ... ich vergaß sie ganz und gar.«

Mittlerweile war es sechs Uhr geworden; die Stunde des Gebetes. Um die Unterlassungssünde halbwegs gut zu machen, beschloß Harteck, jetzt, bevor die Messe begann, in die Kirche zu gehen und schlug mit seinem Hunde den Weg nach dem Gotteshause ein. Er hieß Cäsar draußen warten und trat, das geöffnete Brevier in den Händen, in die Kirche.

Das Innere derselben war, wie es bei vielen Dorfkirchen der Fall ist, überreich an Vergoldungen, kleinen Engeln und Heiligenbildern. Über dem Altar, mittels eines Drahtes an der Decke befestigt, schwebte eine große, weiße, aus Holz geschnitzte Taube, den heiligen Geist vorstellend. Neben dem Altar stand ein vergoldeter Armstuhl, auf dem eine blaugekleidete hölzerne Figur saß, die ein Kind in den Armen hielt. Mutter und Kind, die Jungfrau mit dem Jesuknaben, trugen goldene Krönlein auf den Häuptern. An den Wänden hingen die in allen katholischen Kirchen üblichen vierzehn Leidensstationen Jesu Christi. Das Altarblatt stellte die heiligste Dreifaltigkeit dar, und über den Seitenaltären rechts und links waren Bilder eines Christus am Kreuze und einer schmerzhaften Maria angebracht. Die Landesheilige, die fromme Notburg, war ebenfalls vertreten, und der Maler hatte sie in dem Augenblicke festgehalten, wo sie die Sichel in die Luft geworfen hat und diese in der Luft hängen bleibt, zum Zeichen, daß Gott Vater es vorziehe, wenn Menschen am Feierabend beten, anstatt zu arbeiten, was die heilige Notburg, der Überlieferung gemäß, auch getan hat.

Der junge Priester machte einen Rundgang durch die Kirche, betrachtete alles mit gleichgültigem Blick und ging dann wieder ins Freie. Bemerkenswertes bot die Kirche nicht; er hatte schon viele gesehen, die dieser auf ein Haar glichen.

Aber er stellte sich in der Nähe des Kirchleins auf, denn er sah von allen Seiten Leute nahen, die der Glocke Geläut zur Frühmesse rief, und er wollte diese Menschen, zu deren Seelenheil er bestellt war, von Angesicht kennen lernen. Zuerst kamen die Klosterfrauen aus dem Spital, gefolgt von alten Pfründnern beiderlei Geschlechtes und den weiblichen Schulkindern. Der Geistliche zog vor den Schwestern den Hut ab, und sie dankten seinem Gruß, indem sie demütig das Haupt neigten, und die Kinder, die Greise und Greisinnen grüßten ihn und alle schauten ihn neugierig an. Dann kamen auch die Schulknaben, hübsche, fröhliche Jungen mit hellen Augen, und Bäuerinnen in der Landestracht, darunter manche bildhübsche Dirne, und er mußte jedem einzelnen danken, denn alle riefen oder nickten ihm einen Gruß zu, und wenn sie an ihm vorbei waren, steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten sich ein paar Worte ins Ohr. Endlich wurde es still, niemand mehr kam, die Glocke schwieg; die Messe hatte begonnen. Langsamen Schrittes schlenderte der Geistliche die Kirche entlang und trat durch ein Hinterpförtchen in die Sakristei, um sich für die Messe anzukleiden. Der Meßner, ein etwas schiefgewachsener, grauköpfiger Mensch, bewillkommnete ihn mit einem tiefen Bückling und zeigte ihm nicht ohne Stolz die geistlichen Ornate, die in den Schränken aufbewahrt lagen. Dann half er ihm beim Ankleiden und stellte ihm einen kleinen Buben, der sich einstweilen eingefunden hatte und dem Priester die Hand küßte, als seinen Ministranten vor. Harteck richtete an den Jungen einige Fragen; da jedoch aus diesem nichts anderes als Ja oder Nein herauszubringen war, verstummte das Gespräch sehr bald. Übrigens war dazu auch keine Zeit mehr. Die Tür, die nach der Kirche führte, wurde aufgestoßen und herein trat ein anderer Ministrant, gefolgt vom Herrn Dekan. So also sah sein neuer Gebieter aus! Der junge Priester erhob sich rasch und machte eine tiefe Verbeugung. Ohne ihm die Hand zu reichen und ohne zu lächeln, schaute der Dekan ihn an, nickte mit dem Kopfe und ließ sich von dem Meßner das Meßgewand vom Leibe ziehen.

»Zum Begrüßen ist jetzt keine Zeit,« sagte er. »He! Kleiner! Gib das Glockenzeichen zur zweiten Messe.«

Hartecks Ministrant zog an einer Glocke, die neben der Tür hing, der junge Geistliche ergriff die Meßgerätschaften und trat, ihm voran der Ministrant, in die Kirche. Während er die Messe zelebrierte, beschäftigte sein Geist sich mit dem Dekan, der – das konnte er sich nicht verhehlen – einen ungünstigen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Die große, beleibte, muskulöse Gestalt, das fast dreieckige Gesicht mit den hängenden Lippen und Wangen, die von zahllosen Fältchen umgebenen kleinen, hartblickenden Augen, die starke Nase und spitzige Stirn, in die ein Büschel der noch dunklen und spröden Haare hing, was dem Gesichte einen eigentümlich finsteren und trotzigen Ausdruck verlieh, ... nichts war an der Erscheinung des Dekans, das Vertrauen oder Sympathie hätte erwecken können. Und die Worte, die er gesprochen, und mehr noch der Ton, ... freundlich hatten die nicht geklungen! Indessen suchte Harteck sich darüber zu trösten. Vielleicht tat der Dekan nur in der Kirche so streng und abgemessen: manche Priester glauben, daß sie anders nicht sein dürfen. Dann aber fielen ihm wieder die Mitteilungen des jungen Mönches ein. Ein Seelsorger, der mit seiner Gemeinde in Groll und Hader lebte, ... stand von solchem Manne viel Erfreuliches zu erwarten? Hatte Harteck nicht schon erfahren, in welchen Zorn der Dekan eines fehlgeschlagenen Wunsches wegen geraten konnte? Ließ dieser Umstand allein nicht auf eine verbissene Reizbarkeit und einen schwer zu behandelnden Charakter schließen? Selten noch hatte Harteck die heilige Messe mit geringerer Aufmerksamkeit gelesen als dieses Mal. Als er am Ende den Anwesenden den Segen erteilte und alle sich so fromm und ehrfurchtsvoll erhoben und bekreuzigten, durchzuckte seine Brust ein Gefühl wehmütiger Scham.

»Was für ein Priester ich bin!« dachte er und schüttelte das Haupt über sich selbst.

Er atmete gleichsam auf, als er wieder außerhalb der Kirche stand und mit seinem Cäsar, der vor der Tür auf ihn gewartet hatte, in den Pfarrhof zurückkehrte.

Drittes Kapitel

Von Uschei hörte Harteck, daß das Frühstück bereits aufgetragen wäre. Hastig vertauschte er den langen Priestertalar mit einem schwarzen Rocke, bürstete sorgfältig sein unglücklicherweise natürlich gelocktes Haar und trat also gerüstet in das Speisezimmer.

Der Dekan saß am Tische und las in einer Zeitung. Den Platz ihm gegenüber nahm der junge Mönch ein und in dessen Nähe stand eine Dame, die sich gerade anschickte, den Kaffee in die Tassen zu gießen. Sie verrichtete das häusliche Geschäft mit zimperlicher Geziertheit, ihr blasses Gesicht sah ziemlich verschlafen aus und ihre Toilette verriet, daß sie erst vor kurzem aus den Federn geschlüpft war. Sie trug einen hellen Schlafrock und ihr ungekämmtes Haar war nachlässig aufgesteckt.

Die drei Personen blickten nach der Tür, als Harteck eintrat, und erwiderten seine Verbeugung auf verschiedene Art. Der Dekan nickte bloß mit dem Kopfe und vertiefte sich allsogleich wieder in seine Zeitung. Der Mönch erhob sich halb von seinem Sitze und verneigte sich, die Dame ließ einen durchdringenden Blick über den Ankömmling gleiten, verwirrte sich, wurde rot und goß eine der Tassen mit so großer Eile voll, daß sie überfloß.

»Ach! Wie ungeschickt ich bin!« rief das Fräulein kichernd.

»Was ist denn geschehen?« fragte der Dekan, legte die Zeitung auf den Tisch und blickte das Fräulein streng an. »Gib doch acht, Aurelie! Du wirst wieder etwas zerbrechen. – Und Sie, Herr Kooperator, nehmen gefälligst Platz; Sie sitzen neben dem Pater. Doch zuerst will ich Sie mit meiner Nichte bekannt machen. Fräulein von Gerstenbeck, Herr Kooperator Harteck.«

Der Genannte verbeugte sich abermals und setzte sich dann neben den jungen Mönch. Die Dame im Schlafrock, die Harteck mit einem lautlosen Gegengruß und einem schmachtenden Blick beglückt hatte, reichte zuerst ihm, dann dem Pater eine Tasse hin, nahm dann an der Seite ihres Onkels Platz und begann gleich den anderen ihr Frühstück zu verzehren. Nach einer Weile sagte der Dekan: »Du bist heute abermals nicht in der Messe gewesen, Aurelie.«

»Ach, Onkelchen, nicht böse sein!« antwortete sie und faltete kindlich die Hände. »Ich habe mich verschlafen. Als ich erwachte, war es bereits zu spät, zur Messe zu gehen, ... ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mich anzukleiden und mein Haar in Ordnung zu bringen, ... ich schäme mich so vor dem Herrn Kooperator,« sagte sie unter heftigem Kopfschütteln, drehte ihre Tasse hin und her und lächelte den Kaffee an. »Was soll er von mir denken!«

»Ich, gnädiges Fräulein?« fragte Harteck aufblickend. »Ich würde trostlos sein, wenn Sie sich meinetwegen irgendeinen Zwang auferlegten.«

»Sie sind zu freundlich,« sagte sie mit denselben Gesten wie vorhin. »Aber ich weiß, daß es sich nicht schickt, vor Herren ...« Sie stockte und errötete. »Wirklich, ich schäme mich zu Tode.«

»Laß jetzt diesen Gegenstand fallen und steh' in Zukunft früher auf,« sagte der Dekan.

»Wie kann ich das, Onkelchen, wenn ich so schlecht schlafe in der Nacht? Ich habe mich gestern sehr geärgert, und wenn ich mich ärgere, kann ich nicht schlafen.«

»Ich möchte doch wissen, worüber oder über wen Du Dich schon wieder geärgert hast,« versetzte der Dekan mit einem Achselzucken.

»Nun, ... über Fräulein Reinberg, Onkel.«

Der Dekan fuhr von seinem Sitze auf: »Habe ich Dir nicht schon zu wiederholten Malen untersagt, mit diesen Leuten umzugehen?«

»Verzeih' mir, Goldonkelchen!« antwortete sie und faltete neuerdings die Hände. »Ich bin nun einmal so, ... ich kann die Menschen nicht entbehren. Den ganzen Tag bin ich allein, ... alle Welt ist beschäftigt und hat keine Zeit, mit mir zu plaudern ... und das macht mich ganz krank. In meiner Verzweiflung bin ich denn gestern zu Fräulein Reinberg gegangen und habe sie zu einem gemeinsamen Spaziergang aufgefordert.«

»Nun, und sie? Sie hat doch nicht die Unverfrorenheit gehabt, Dich abzuweisen?«

»Das nicht, ... aber sie ist eine so kalte, man möchte sagen hochmütige Person. Hochmütig, Onkel, gegen mich! Ich bitte Dich! Denn ohne mir zu schmeicheln, nehme ich doch in der Welt eine ganz andere Stellung ein als Fräulein Reinberg, ihr Vater ist am Ende nur ein simpler Landarzt, und sie sollte sich, meinte man, beglückt fühlen, wenn die Tochter eines Hofrates sich herbeiläßt, mit ihr zu verkehren ...«

»Dir geschieht ganz recht. Wer Pech angreift, besudelt sich, und wer sich in den Kopf setzt, mit Leuten zu verkehren, die nicht zu ihm passen, wird immer unangenehme Erfahrungen machen.«

»Du hast ja so recht, Onkelchen. Nicht wahr, ich bereite Dir viel Verdruß? Ich wette, ich wette,« sagte Fräulein Aurelie und drohte schelmisch mit dem Finger, »daß Du im Grunde Deines Herzens manchmal denkst: Wenn doch meine querköpfige, närrische kleine Nichte wieder fort wäre! Ist es nicht so?«

»Du bist vom Gegenteil so gut überzeugt wie ich,« versetzte der Dekan und stand auf. »Herr Kooperator,« wendete er sich an diesen, der sich gleichzeitig mit dem Dekan erhoben hatte und dem Gespräche ohne eine Miene zu verziehen gefolgt war, »Sie bitte ich, sich nach Ablauf einer halben Stunde in meinem Arbeitszimmer einzufinden. Ich habe wegen der Kirchenordnung, der Geschäftseinteilung, des Unterrichts und so weiter mit Ihnen zu sprechen.«

Harteck verneigte sich, der Dekan grüßte und ging aus dem Zimmer. Die beiden anderen Herren wollten sich ebenfalls entfernen.

»Sie haben einen schönen Hund, Herr Kooperator,« sagte da Fräulein Aurelie und zwang ihn dadurch zu bleiben, während der junge Mönch, dessen stummer Gruß von der Dame nicht erwidert wurde, schleunig seiner Wege ging.

»Es freut mich, wenn er Ihnen gefällt,« sagte Harteck mit einem Lächeln.

»Ja, er gefällt mir. Wie heißt er?«

»Cäsar.«

»Besitzen Sie ihn schon lange?«

»Seit zwei Jahren. Als ich ihn bekam, war er erst sechs Wochen alt und nicht größer als ein Schoßhündchen.«

»Ach, wie lieb muß er damals gewesen sein!« sagte Fräulein Aurelie mit mehr Rührung in der Miene, als die Situation erheischte. »Ist er brav und folgsam?«

»Er hat alle guten Eigenschaften, die man von einem Hunde fordern darf.«

»Wenn er sich nur an mich gewöhnte! Dann könnte er mich manchmal auf meinen einsamen Spaziergängen begleiten. Es ist so traurig, ja, man möchte sagen, ängstlich für eine junge Dame, allein spazieren zu gehen.«

Harteck blickte sie an. Sollte das eine Aufforderung sein? Erwartete das Fräulein, daß er sich zu ihrem Begleiter auf ihren »einsamen Spaziergängen« anbieten würde?

»Hier in Tirol können Sie sich wohl vollkommen sicher fühlen,« sagte er. »In Wien und dessen Umgebungen mag es wohl vorkommen, daß Damen Belästigungen aller Art ausgesetzt sind, ... aber bei uns ist das nicht der Fall. Doch wenn Sie meinem Hunde die Ehre erweisen wollen, sich mit ihm abzugeben, steht er natürlich jederzeit zu Ihrer Verfügung.«

Sie schien von dieser Antwort nicht befriedigt, denn sie schwieg und ihr Gesicht nahm einen geschraubten Ausdruck an; der junge Priester benützte die Pause, um sich zurückzuziehen und ging nach einem im höflichsten Tone gesprochenen: »Auf baldiges Wiedersehen, gnädiges Fräulein!« aus dem Zimmer.

Aurelie setzte sich mit verdrießlicher und enttäuschter Miene an den Speisetisch. Sie gefiel jenem Herrn nicht und er – hatte ihr gefallen. (Jetzt war das natürlich vorbei.) Es war doch recht langweilig in diesem Neste! Nichts als Bauern und – Geistliche, ... denn mit den übrigen Honoratioren des Ortes durfte sie nicht verkehren. Sie langweilte sich bereits und war doch erst seit drei Wochen hier und sollte den ganzen Sommer und Herbst über hier bleiben ... Eine verlockende Aussicht. Daheim war es freilich auch just nicht zum Besten bestellt. Der Herr Hofrat nahm zwar eine geachtete Stellung in der Gesellschaft ein, aber der Herr Hofrat hatte kein Vermögen und eine zahlreiche Familie. Wenn ihre Mama, die Schwester des Dekans, am Leben geblieben wäre, würde sie, Aurelie von Gerstenbeck, anders dastehen. Aber die Mama war seit fünfzehn Jahren tot, der Herr Hofrat hatte sich zum zweiten Male verheiratet und seine Frau Gemahlin hatte ihn – Gott sei es geklagt! – mit fünf Kindern beschert. Ach, die Rangen! was für einen Lärm die machten und wieviel Geld sie kosteten! Alles ging für die Kinder auf, zu Mittag gab es immer nur Suppe, gesottenes Fleisch und Gemüse, ... kein Wunder, daß Aurelie stets so mager blieb! Auf das Land zu ziehen im Sommer, daran konnte ebenfalls nicht gedacht werden: man mußte sparen für die Kinder ... Papa war nicht mehr jung. Die Luft in Wien ist zur Sommerzeit sehr ungesund, und um ihrem schädlichen Einflusse zu entgehen, war Aurelie der Einladung des hochwürdigen Onkels gefolgt und hierher gekommen. Es gefiel ihr nicht übel im Dorfe, sie hatte sich auch schon zusehends erholt und sah viel besser aus, als bei ihrer Ankunft; kein Mensch würde glauben, daß sie bereits – dreißig Jahre zählte; höchstens fünfundzwanzig würde man ihr geben, ... mehr gewiß nicht. Und dieser neue Kooperator! Sie hatte sich auf sein Kommen gefreut, ... ein neuer Mensch ist immer eine Abwechslung. Seine Erscheinung hatte sie im ersten Momente beinahe aus der Fassung gebracht, ... so elegant und gentlemanlike hatte sie sich einen Dorfgeistlichen nun und nimmer vorgestellt. Sie fand nichts Strafwürdiges darin, wenn ein Priester sich sorgfältig kleidete und sich das lockige Haar nicht verschnitt, ... aber sie verlangte für diese Nachsicht auch, daß derjenige, dem sie zu teil wurde, sie gebührend zu schätzen wisse. Harteck jedoch hatte sie, Aurelie von Gerstenbeck, kaum angesehen, nicht einmal das Wort an sie gerichtet und es sehr eilig gehabt, fortzukommen, ... und sie hatte doch sehr freundlich mit ihm gesprochen, aus purer Höflichkeit von seinem Hunde geredet, wo sie in Wirklichkeit die Hunde nicht ausstehen konnte; wie ihresgleichen hatte sie den jungen Mann behandelt, sie, eine Hofratstochter, eine Wienerin, und obendrein die Nichte seines Vorgesetzten! »Es ist mir unbegreiflich!« dachte Aurelie, legte den Zeigefinger an den Mund und sog daran. »Ich sehe doch so interessant aus!«

Interessant? Das war Ansichtssache; hübsch einmal gewiß nicht. Fräulein Aurelie machte einen farblosen Eindruck; alles an ihr war so verblaßt, wie ein ausgewaschener Kleiderstoff. Die graubraunen glanzlosen Haare, die lichten Augen, das fahle spitze Gesichtchen, ... nichts stach ab, nichts hatte eine kräftige Farbe. Dazu kam noch die kleine magere Gestalt, die in dem dünnen Schlafrock schlotterte, die hastigen, nervösen Bewegungen, des Mädchens geziertes Wesen und eine eigentümliche gesuchte Unbeholfenheit in allem, was sie sagte oder tat ... Interessant? Armes Geschöpf! Sie wußte nicht, daß des Dekans Gesinde heimlich über sie lachte, wenn sie, das Gesicht mit poudre de riz überstäubt, in ihren Hakenschuhen und städtischen Kleidern, in Haus, Hof und Garten umherstolzte, die Leute bei der Arbeit störte, unnütze Fragen stellte, über Dinge urteilte, von denen sie nichts verstand, und die Mägde und Knechte glücklich zu machen glaubte, wenn sie ihnen im Vorübergehen ein paar herablassende Worte zurief, sie ihres Fleißes wegen belobte oder mit gnädigem, affektiertem Gruß auf ihren hohen Stiefelchen an ihnen vorbeitrippelte.

Viertes Kapitel

Willkommen hatte der Dekan ihn nicht geheißen und erwies sich auch in der Folge nicht als freundlich gesinnt wider ihn. Aber Georg Harteck hatte von seinen Vorgesetzten schon allerlei Übles erfahren und manches ertragen gelernt. Die Schule des Lebens hatte ihn gestählt und sein Grundsatz war, kein Bedauern mit sich selbst aufkommen zu lassen, denn er hatte das dunkle Gefühl, daß der Mensch, wenn er einmal anfängt, sich selbst zu bemitleiden, nicht wieder damit aufhören kann. Er bemühte sich denn, den Dekan, soweit es in seinen Kräften stand, zufrieden zu stellen, und wenn der Prinzipal ihn wegen irgend etwas tadelte, schwieg er, oder er versprach, die Sache in Zukunft anders zu machen. Die Dekanei war eine ergiebige Pfründe, verursachte aber auch viel Arbeit: nicht hinsichtlich der Seelsorge allein, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung; sie besaß reichliche Äcker, Wiesen und Vieh, über deren Erträgnisse genaue Rechnung geführt und die möglichst vorteilhaft verwendet werden mußten. Der Dekan hatte sich zum tüchtigen Landwirt herangebildet, wachte über alles, verstand alles und trieb allerlei Art von Handel. Er feilschte mit den Bauern um jede Kanne Milch, um jedes Kalb, um jeden Halm, wie ein echter Krämer. Dem jungen Kooperator mißfiel diese Habsucht in hohem Grade und er fing an zu begreifen, weshalb die Bauern ihren Seelenhirten nicht leiden mochten. Auch das Gesinde hatte keine guten Tage bei ihm; er forderte von den Leuten eisernen Fleiß und zahlte karge Löhnung dafür; niemals zufrieden mit dem, was die Knechte und Mägde taten, jammerte er beständig über die Trägheit, Gottlosigkeit und den Eigennutz der Menschen, und von den Bauern sprach er stets mit verbissener Unversöhnlichkeit. Seit Menschengedenken war in dem Dorfe niemand gestorben, der nicht der Kirche etwas vermacht hätte, und jeden Tag mußten sogenannte »gestiftete Seelenmessen« gelesen werden, für die ein kleines Kapital ausgesetzt worden war, von dessen Zinsen die Messe für die Seelenruhe des Verstorbenen, von dem die Stiftung ausging, bezahlt wurde. Aber auch darin erblickte der Dekan kein Zeichen von Frömmigkeit. »Ihr ganzes Leben verbringen diese Kerle in der Sünde,« sagte er, »vernachlässigen den Herrgott und seine Gebote, und auf dem Sterbebette packt sie die Furcht und sie meinen den lieben Gott dadurch zu versöhnen, wenn sie nach ihrem Tode Messen lesen lassen. Selbstsucht, Angst vor dem göttlichen Zorn ist's, ... nichts weiter.« Was aber würde der Herr Dekan erst gesagt haben, wenn ein reicher Bauer gestorben wäre, ohne der Kirche etwas zu hinterlassen? Aber das kommt in Tirol niemals oder doch sehr selten vor.

Weil der Dekan es so haben wollte, vermied Harteck einstweilen, mit den Leuten im Dorfe zu verkehren. Das kostete ihm auch kein schweres Opfer, denn er war es nachgerade müde geworden, immer wieder von vorne anzufangen. Kaum hatte er sich an einen Ort und dessen Bewohner gewöhnt, hieß es wieder wandern, alle lieb gewordenen Menschen und die vertraute Gegend verlassen und an fremdem Orte, unter fremden Menschen, ein neues Leben beginnen. Dreimal schon hatte er die Wehmut des Scheidens auskosten müssen, und er sagte sich, daß es für einen Priester vielleicht am besten wäre, sich niemandem anzuschließen, weil er niemals wissen könne, wie lange seines Bleibens an einem Orte sein würde. In seinen freien Stunden streifte er, von seinem Hunde begleitet, in Wald und Feld umher und freute sich der schönen Natur; oder er saß daheim, las, schrieb Briefe an seinen einzigen Freund, den jungen Geistlichen, dessen Krankenwärter er gewesen war und den er zärtlich liebte, oder er spielte Klavier, – oft bis spät in die Nacht hinein. Dieses Vergnügen war jedoch von keiner Dauer. Der Dekan beklagte sich eines Morgens darüber und sagte, daß ihn das Klavierspiel am Einschlafen hindere, und so mußte Harteck das Musizieren notgedrungen auf den Tag verlegen. Da war es freilich nicht so still wie in der Nacht, wo alles schlief; oft ließ der Geistliche es sein, weil im Hause gesägt, Holz gehackt und anderer Lärm verursacht wurde, was sein Spiel übertäubte.

Seine Wohnstube hatte er sich mehr nach seinem Geschmacke eingerichtet. Er hatte unnötige Schränke daraus entfernen lassen, und an deren Platz standen jetzt sein geliebtes Klavier, das Notenpult, sein Schreibtisch und Bücherschrank. Gleich Freunden schauten diese vertrauten Gegenstände ihn an; wie viele schöne, ruhige Stunden verdankte er dem Klavier und seinen Büchern! Aus seinen eigenen kargen Mitteln hatte er sich größtenteils klassische Dichterwerke angeschafft; die Bücher theologischen und religiösen Inhaltes waren Geschenke seiner Lehrer und Kollegen und seiner Mutter; von dieser stammten auch alle Gebet- und Erbauungsbücher her, die jetzt auf dem Betschemel lagen und in denen der junge Priester niemals las. Doch davon wußte die Geberin nichts und sollte auch niemals davon erfahren.

Die häßlichen Heiligenbilder hatte er ebenfalls von den Wänden genommen und sie durch andere, bessere ersetzt. Ein Christus am Kreuz von van Dyck, Delaroches Karfreitag, das auf dem Kreuze schlafende Jesukind von Reni, die sixtinische Madonna hingen, in guten Kupferstichen ausgeführt, nunmehr an den Wänden. Der Herr Dekan hatte zwar darüber gemurrt und gemeint, daß ein Heiligenbild niemals häßlich sein könne, weil die Idee, die es verkörpere, schön sei; der junge Priester aber hatte dieses Mal nicht nachgegeben und auf der Entfernung der Bilder beharrt, und weil die Kupferstiche ebenfalls nur religiöse Motive darstellten, hatte der Dekan sich beruhigt und den jungen Mann gewähren lassen. In seiner Wohnung fühlte Harteck sich wohl und er würde viel darum gegeben haben, wenn er die Mahlzeiten auch in seiner Stube hätte einnehmen dürfen. Der Dekan tat bei dieser Gelegenheit entweder den Mund nicht auf und las während des Essens, oder er ergoß sich in bitteren Ausfällen wider die Menschen und spielte immer wieder auf seine verunglückte Landtagskandidatur an. Fräulein Aurelie ihrerseits war sehr veränderlich: beim Frühstück so freundlich und geschwätzig, daß einem ordentlich bange wurde, beim Mittagessen reserviert, beim Abendessen schmachtend und sentimental, und am nächsten Tage war die Reihenfolge ihrer Stimmungen wieder umgekehrt; und wenn man sich am Abend im besten Einvernehmen von ihr trennte, konnte man beinahe sicher sein, daß sie am folgenden Morgen tödliche Kälte zur Schau tragen würde. »Sie ist unausstehlich!« dachte Harteck oft; doch wenn er ihr den Rücken kehrte, vergaß er sie wieder.

Großes Vergnügen gewährte ihm der Religionsunterricht in der Schule. Er war ein Kinderfreund und die kleinen Buben und Mädchen merkten das bald. Während sie vor dem Herrn Dekan zitterten und bebten, hatten sie zu dem jungen Kooperator unbedingtes Zutrauen und hingen bald mit jener Zärtlichkeit an ihm, die Kinderherzen für alle jene hegen, die gut und freundlich gegen sie sind. Der Geistliche bemerkte, daß die Kleinen ihren Katechismus mit großer Geläufigkeit hersagen konnten, doch wenn er sie um die Bedeutung des Gesagten befragte, verstummten sie und schauten ihn verlegen an. Nur ein einziges Kind machte davon eine Ausnahme. Das etwa zehnjährige Mädchen war ihm gleich im Anfang aufgefallen. Es trug ein bloß über die Knie reichendes Kleidchen, das rückwärts von einer breiten Masche zusammengehalten wurde, und das dunkle Haar nach altdeutscher Art verschnitten, anstatt wie die anderen kleinen Mädchen in dünnen Zöpflein um den Kopf gewunden. Ein hübsches Ding war sie auch, diese Kleine mit ihrem rundlichen Apfelgesicht und den klugen, großen, wißbegierigen Augen; weder scheu noch dreist dabei, wohl aber lebhaft und ehrgeizig. Sie war die beste Schülerin und tat sich darauf ein weniges zugute. Ihre Religionskenntnisse, die verrieten, daß die Kleine nicht bloß wie ein Starmatz plappern konnte, sondern auch über alles, was sie auswendig lernte, nachdachte, setzten den jungen Priester in großes Erstaunen. Einmal redete er die Kleine nach der Schule auf der Straße an.

»Du heißt Toni Reinberg, nicht wahr?«

»Ja, Herr Katechet.«

»Sag' mir, Toni, wer erklärt Dir denn alles so gut und richtig?«

»Meine Schwester,« antwortete das Kind mit großem Stolze. »Wenn ich etwas nicht verstehe, brauche ich nur meine Schwester zu fragen. Die kann und weiß alles. Sie macht auch meine Kleider und unterrichtet mich im Zitherspiel. Kennen Sie meine Schwester Paula noch nicht, Herr Katechet?«

»Nein,« versetzte er lächelnd.

»O!« Sie schien es nicht zu fassen, daß jemand im Dorfe ihre Schwester nicht kannte.

»Du hast sie wohl sehr lieb?«

»Sehr lieb. Sie und meinen Vater.«

»Und Deine Mutter?«

»Ist tot. Meine Schwester sagt mir immer, daß der liebe Gott einen Engel gebraucht und deshalb die Mutter zu sich genommen hat, und daß sie oben im Himmel auf uns wartet.«

Wie süß es klang, dieses kindliche Vertrauen in der Schwester Wort, und wie zart und weiblich schön es von der Schwester war, für den frühen Tod der Mutter eine so poetische Erklärung zu ersinnen! Der Priester beugte sich auf das Kind herab und küßte es auf die volle rote Wange.

»Ich bin doch schon seit drei Wochen hier und habe Deine Schwester noch niemals singen gehört,« sagte er dann. »Sie singt doch manchmal auf dem Chor?«

»Jetzt nicht. Aber warum sie es nicht tut, darf ich nicht sagen.«

»Dann behalte Dein Geheimnis, mein Kind, und geh' jetzt nach Hause.«

Sie küßte seine Hand und sprang davon, – hochbeglückt, wie es schien, darüber, daß der geistliche Herr sie eines Gespräches gewürdigt hatte. Dieses Kind wurde Hartecks erklärter Liebling. Gern würde er Toni auf seinen Spaziergängen mitgenommen oder sie aufgefordert haben, zu ihm zu kommen, die Zither mitzubringen und ihm vorzuspielen, nur um das hübsche, aufgeweckte Kind recht oft und lang zu sehen und es plaudern zu hören. Aber Toni war die Tochter des Arztes, eines Mannes, mit dem der Dekan nicht verkehrte: wer weiß, ob der Vater des Kindes damit einverstanden gewesen wäre; vom Dekan gar nicht zu sprechen, der daran gewiß zu tadeln gefunden hätte. Auch das sollte und durfte nicht sein, wie so vieles, vieles andere.

Trotzdem er keinen eigentlichen Umgang mit der Gemeinde pflog, hatte er sich doch schon einen ziemlich genauen Einblick in die Verhältnisse der Dorfbewohner zu verschaffen gewußt. Hierbei ging der junge Mönch ihm an die Hand; der Pater nannte ihm die Namen der Leute und sagte ihm, was sie trieben, ob sie reich, ob arm wären und was für ein Familienleben sie führten. Bei diesen Mitteilungen trat Gutes und Schlimmes zutage: im großen und ganzen wären die Leute wohlhabend, lebten gut und ließen die Armen leben, wären nicht übermäßig fleißig und säßen viel im Wirtshause. Jeder Bursche hätte seinen Schatz, mitunter auch zwei, und junge unverheiratete Mütter gebe es nicht wenige im Dorfe. Die betreffenden Väter wären indessen ehrlich genug und auch vom Gesetze dazu angehalten, für ihre unehelichen Kinder zu sorgen, und so litten die armen Würmer wenigstens keinen Mangel; auch treffe diese weder Spott noch Mißachtung und die gefallenen Mädchen heirateten meistens später einen anderen Mann; in Tirol seien ja derlei Verhältnisse gang und gebe, und man nehme es da mit der Sittenreinheit nicht sehr genau. Wohl seufzte der Pater über diese Verhältnisse und sagte, daß er von der Kanzel und im Beichtstuhl den Burschen und Mädchen oft schon ins Gewissen geredet hätte; sie versprächen dann zwar für die Zukunft alles Gute, aber es bleibe beim Versprechen. »Man hat sein Kreuz mit der Jugend,« sagte der Mönch mit altkluger Miene und zählte doch selber nicht mehr als fünfundzwanzig Jahre. Harteck befragte ihn auch um die Familie des Arztes und ob dessen ältere Tochter Paula ein braves Mädchen wäre. Die Antwort lautete über alle Maßen befriedigend. Dem jungen Mädchen lasse sich nichts, auch nicht das geringste nachsagen. Ein junger Kaufmann und ein Bahnbeamter hätten um ihre Hand angehalten, wären jedoch abgewiesen worden. Im Dorfe gelte sie für stolz, doch für brav und gut. Jetzt bewerbe sich der Schullehrer um ihre Gunst: aber man wisse nicht, ob sie seiner Werbung ein geneigtes Ohr leihe. Harteck freute sich, der kleinen Toni wegen, über die gute Nachrede. Es würde ihm leid getan haben, wenn die Schwester seines Lieblings nicht so gewesen wäre, wie ein anständiges junges Mädchen sein soll. Er war oft schon am Hause des Arztes vorbeigegangen, hatte die Sauberkeit des Hauses und den wohlgepflegten kleinen Garten bewundert, – Paula jedoch hatte er noch niemals zu Gesichte bekommen. Das war Zufall. Ihren Vater, den Arzt, hatte er bereits gesehen und im Spital auch einige Male mit ihm gesprochen. Ein hagerer, ernster, wenig zugänglicher Mann: aber die Kranken waren seines Lobes voll und hatten großes Vertrauen zu seiner Geschicklichkeit. Er scheine nur äußerlich so kalt, sagten sie, sein Herz wäre ein vortreffliches. Oft gehe er lange, beschwerliche Wege, um einen armen Kranken zu besuchen, und verlange keine Bezahlung dafür. Er mache wenig Worte, aber das wäre nun einmal seine Art. Er lebe einzig und allein seinem Berufe und seinen Kindern und wäre als Arzt und Vater der beste Mensch, den man sich denken könne. Das alles klang sehr schön und Harteck war froh, daß er die kleine Toni so gut versorgt wußte. Er hätte die ältere Schwester gern gesehen. Sie interessierte ihn. Ob sie dem Vater oder der kleinen Schwester glich? Ohne sie zu kennen, wünschte er ihr jeden Liebreiz und jedes Glück. Sie mußte nach allem, was er über sie gehört hatte, ein ausgezeichnetes Geschöpf sein. Ihretwegen interessierte ihn auch der Lehrer, den der Mönch als ihren Freier bezeichnet hatte und den sie – wer weiß? – vielleicht heiraten würde.

In der Schule machte er die Bekanntschaft des Lehrers. Er hieß Fritz Stettner, war kaum dreißigjährig und sah in seiner verschossenen braunen Sammetjacke, den hellen Beinkleidern, mit seinen langen, blonden, flatternden Haaren und dem breitkrempigen Filzhut fast wie ein Künstler aus. Er gefiel dem Geistlichen nicht übel, denn der junge Mann war ein aufgeweckter Geselle und seinem Fache mit Begeisterung zugetan. Schmächtig von Gestalt, nervös und beweglich, mit einem schmalen, von Blatternarben zerrissenen Gesichte, aus dem ein Paar kleine hellbraune Augen blickten, konnte seine Erscheinung, wenn auch nicht gerade hübsch, so doch recht sympathisch genannt werden.

Im Anfang beobachtete er dem neuen Priester gegenüber strenge Reserve: »Schule und Kirche sind nun getrennt; merke Dir das!« Mit der Zeit jedoch und nachdem er einsehen gelernt hatte, daß es dem Geistlichen sehr fern lag, in Herrn Stettners Unterrichtsmethode hineinreden und etwas daran ändern zu wollen, wurde der Lehrer zutraulicher. »Sie müssen mir meine anfängliche Kälte nicht verargen,« sagte er eines Tages zu Harteck. »Ich kannte Sie nicht und glaubte mit einem Manne zu tun zu haben, dessen Ansichten mit denjenigen des Herrn Dekans übereinstimmen. Mit diesem hochwürdigen Herrn ist's schwer zu leben. Er mengt sich in alles, tadelt alles, forscht die Kinder aus und läßt sich von ihnen berichten, was sie von mir hören und lernen, guckt in die Schulbücher und findet ihren Inhalt nicht genug christkatholisch und setzt alle Mittel in Bewegung, um die Kinder und deren Eltern gegen mich aufzuhetzen. Er hat mir das Leben im Anfang meines Hierseins sehr sauer gemacht. Doch mit der Zeit hat der gesunde Sinn der Bauern gesiegt, sie haben erkannt, daß sie mir ihre Kinder getrost anvertrauen dürfen, und ich bin jetzt überall gern gesehen. Ich weiß, daß mir der Herr Dekan darum übel will, aber ich mache mir nicht so viel daraus,« schloß er seine Rede und schnalzte mit den Fingern.

»Ich hoffe, daß Sie den Kindern gegenüber Ihrer Freimütigkeit mehr Zwang auferlegen,« erwiderte Harteck. »Oder lassen Sie sich am Ende gar einfallen, die Person des Herrn Dekans in den Augen der Kinder herabzusetzen? Dagegen müßte ich energischen Einspruch erheben.«

Der Lehrer beruhigte ihn: so weit gehe sein Groll nicht. Er, für seine Person, würde ja gern Frieden schließen mit dem Herrn Dekan, aber der hochwürdige Herr wolle den Frieden nicht, sondern Krieg, erbitterten, unversöhnlichen Krieg.

Harteck verfolgte dieses Thema nicht weiter und fing von seinem Liebling, der kleinen Toni, zu sprechen an. Die Augen des Lehrers leuchteten. Ja, das wäre ein Kind! So klug und fleißig, so lebhaft und lernbegierig, ein Phänomen, ein Muster für die ganze Klasse. Freilich dürfe man sich darüber nicht allzusehr verwundern: wie könnte es denn anders sein bei der Erziehung, die das Kind daheim genieße?

»Man macht im Ort viel Aufhebens von ihrer Schwester,« bemerkte Harteck.

»Und mit Recht!« rief der Lehrer begeistert und eine hohe Röte überzog seine hageren Wangen. »Fräulein Paula ist ein Geschöpf, wie es auf Erden kein zweites geben kann. Ich mache kein Geheimnis daraus, daß ich sie liebe und verehre, denn es kann einem Manne nur zur Ehre gereichen, wenn er ein Mädchen wie Paula Reinberg liebt.«

Dem jungen Priester gefielen diese Offenherzigkeit und diese enthusiastische Hochachtung für das geliebte Mädchen sehr.

»Sie werden wohl bald Hochzeit halten?« fragte er mit einem Lächeln.

»Ach! Damit hat es noch seine guten Wege,« antwortete der Lehrer seufzend. »Es ist seltsam: ich, der ich das Herz auf der Zunge trage und jedem Fremden von meiner Liebe erzählen möchte, – ihr gegenüber sinkt mir aller Mut und ich habe noch nicht gewagt, ihr zu sagen, daß ich sie liebe. Sie ist ein eigentümliches Wesen. Manchmal kommt mir vor, als ob sie überhaupt kein Herz habe.«

»Kein Herz für Sie, meinen Sie wohl?«

»Für mich und die Männer im allgemeinen. Sie hat schon zwei sehr annehmbare Freier verworfen. Vielleicht wird es mir ebenso ergehen.«

Der Priester hütete sich, das Vertrauen des jungen Mannes mit gleichem Vertrauen zu erwidern. Der Lehrer lebte mit dem Dekan auf dem Kriegsfuß und konnte aus diesem Grunde niemals Hartecks Freund werden. Nun, diese heilige Stelle nahm schon allein und unbestritten ein anderer, Ferner, ein; aber vielleicht würde Harteck sich näher an den Lehrer angeschlossen haben: doch so, wie die Dinge standen, ließ er nicht einmal den Wunsch nach einem vertrauteren Verkehr in sich aufkommen, suchte den Lehrer außerhalb der Schule niemals auf und überging dessen Vorschlag, manchmal den Abend in seiner Gesellschaft in einem Gasthause zuzubringen, mit Stillschweigen. Der Dekan verübelte ihm ohnedies, daß er überhaupt mit dem Lehrer sprach, und der junge Pater teilte die Ansicht des gnädigen Herrn.

»Sie werden in eine schiefe Stellung geraten,« sagte der Mönch einmal zu Harteck. »Bei den jetzigen Verhältnissen gibt es keinen Mittelweg. Sie müssen entweder zu uns oder zu den Feinden des Herrn Dekans halten, und die Wahl kann Ihnen doch unmöglich schwer fallen.«

»Hat der Herr Dekan Sie beauftragt, mir das zu sagen?« fragte Harteck ärgerlichen Tones.

»Darauf muß ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben. Verhehlen will ich Ihnen indessen nicht, daß Ihr Benehmen dem Herrn Dekan nicht sonderlich behagt.«

»Weshalb nicht? Was tue ich Unrechtes?«

»Können Sie leugnen, daß Sie einen Umgang mit seinen Feinden anzubahnen suchen?«

»Das leugne ich allerdings. Soll ich den Leuten keine Antwort geben, sobald sie mich ansprechen? Übrigens existieren diese Feindschaften nur in der Einbildung des Herrn Dekans.«

»Mag sein. Darüber haben weder Sie noch ich zu entscheiden. Unsere Pflicht ist, uns den Wünschen des Herrn Dekans zu unterwerfen. Wenn wir es nicht tun, werden die Folgen davon auf unser eigenes Haupt zurückfallen.«

»Soll man denn keine freie Bewegung machen dürfen?« dachte Harteck, als der Mönch ihn verlassen hatte. »Die harmloseste selbst wird einem verleidet. Mögen sie in Gottes Namen ihren Willen haben! Wenn jede kleine Annehmlichkeit durch schwere Opfer erkauft werden muß, ist es wohl besser, allem im voraus zu entsagen.«

Er handelte diesem Vorsatz gemäß, ging allen Leuten aus dem Wege und sprach mit beinahe niemandem als mit dem mürrischen Dekan, dem ihm ungnädig gesinnten Fräulein Aurelie und dem wortkargen Mönch und hoffte, daß diese Personen nunmehr zufrieden mit ihm sein würden. Seine einzige liebe Gesellschaft war sein Hund, der sich, trotz allem Schmeicheln und Zureden, nicht mit Fräulein Aurelie befreunden wollte; das Fräulein bestrafte den Hund dafür mit stiller Verachtung und gänzlichem Ignorieren seiner Persönlichkeit, – eine Strafe, aus der sich Cäsar freilich nichts machte.

Fünftes Kapitel

In der Nähe des Hauptplatzes stand das Wohnhaus des Arztes. Efeu rankte sich an den Mauern empor und umschlang mit grünen Armen den zierlich geschnitzten Balkon, der die Aussicht nach dem Garten hatte. Auf dem Balkon stand Toni und blickte nachdenklich zum Himmel empor. Seit mehreren Tagen regnete es ununterbrochen. Die Bäume ließen die Zweige hängen, Herbstesahnen zog durch die erkaltete Luft. Lang sah die Kleine dem eintönigen Fallen der Regentropfen zu und erst, als sie drinnen im Hause ihren Namen rufen hörte, fuhr sie aus ihrem Sinnen auf und sprang in das Haus hinein.

»Willst Du etwas, Paula?« fragte sie. »Wo steckst Du denn?«

»Hier, in meinem Zimmer. Vater ist gekommen. Geh' ihm entgegen, Toni.«

Die Kleine lief die Treppe hinab, dem Haustor zu. Im Flur stand ein großer, hagerer Mann von ungefähr sechzig Jahren. Er trug hohe Wasserstiefel und einen Regenmantel und hielt einen Regenschirm, von dem das Wasser herabrann, in der Hand.

»Bist naß geworden, Vater?« fragte Toni auf ihn zufliegend.

»Nur äußerlich. Der Mantel ist wasserdicht. Guten Abend, Kind. Ist etwas vorgefallen?«

»Eine Frau war hier mit ihrem Kinde. Paula hat ihr einiges zu tun verordnet. Wird der Scharlach werden, meint Paula.«

»Das ist böse. Schon der dritte Fall in einer Woche! Da heißt es vorsichtig sein.«

»Wird am Ende gar die Schule geschlossen werden müssen?« fragte Toni.

»Wahrscheinlich; doch vorläufig will ich mich umkleiden.«

Die Zimmer im Erdgeschoß waren für das Laboratorium, die Apotheke, die Arbeitsstube des Arztes, die Küche, die Vorratskammer und das Dienstbotenzimmer eingerichtet. Das erste Stockwerk umfaßte vier Zimmer, wovon eines als Speise- und Wohnzimmer und zwei zu Schlafstuben verwendet wurden; das letzte gehörte Paula zu alleinigem Gebrauch. Doch gerade da hielt Toni sich am liebsten auf; im Zimmer der Schwester machte die Kleine ihre Schulaufgaben, übte auf der Zither, strickte oder spielte – und das alles konnte nur in Paulas Gesellschaft geschehen; hatte sie doch die große Schwester jeden Augenblick um Rat zu fragen. Unter Paulas Anleitung arbeitete es sich so leicht und gut ... und Paula wollte es so haben. Ihr fehlte immer etwas, wenn sie das Schwesterchen nicht an der Seite hatte.

Der Arzt hatte den Regenmantel ausgezogen und an einen Nagel gehängt, Toni schüttelte geschäftig das Wasser vom Regenschirm und stellte ihn in eine Ecke, und hierauf schritt der Arzt, das Töchterchen an der Hand, die Treppe hinan.

Im Stiegengang schon trat ihnen ein schlank gewachsenes junges Mädchen entgegen. Sie hängte sich an den Arm des Arztes und führte den Vater in das Wohnzimmer.

»Bist Du recht ermüdet und ausgekältet?« fragte sie. Ihre Stimme hatte einen wohltönenden und weichen Klang.

»Es geht.« Er ließ sich auf den Divan nieder, der an der Hauptwand stand. Paula setzte sich neben ihn und erstattete ihm ausführlichen Bericht über das kranke Kind.

»Ich werde nach dem Abendessen hinübergehen zu der Frau und mir das Kind ansehen,« sagte der Arzt. »Können wir bald essen?«

»Sogleich. Wir haben nur auf Dich gewartet.«

Sie erhob sich, um nach der Küche zu gehen. Der Tisch war bereits gedeckt und die Hängelampe über demselben angezündet. Nach wenigen Minuten erschienen Paula und die Magd und trugen das Abendbrot auf.

Während des Essens sprachen sie von den kleinen Tagesereignissen. Toni mußte berichten, was sie gearbeitet und in der Schule gelernt hätte, denn der Arzt war den ganzen Tag über vom Hause fort gewesen. Die Kleine zeigte sich sehr mitteilsam. Sie wäre gelobt worden, vom Lehrer und vom Herrn Katecheten; dieser hätte ihr sogar ein Heiligenbildchen geschenkt. Sollte sie es dem Vater zeigen? Er bejahte die Frage, und Toni sprang davon und brachte das kleine Bild. Es stellte ein Kind dar, das über einen schmalen Weg schreitet und über dem sein Schutzengel schwebt.

»Sehr schön!« sagte der Arzt. Dann erzählte er, bei wem er gewesen, wie es mit den Kranken stände, die er gesehen hatte, und Paula warf manchmal eine Frage dazwischen, die verriet, daß sie mit allem, was in den Beruf des Vaters einschlug, wohl vertraut war.

Nach dem Essen ging der Arzt wieder fort, und als er nach Ablauf einer halben Stunde zurückkehrte, hatte Paula die kleine Schwester mittlerweile zu Bett gebracht. Toni schlief noch nicht; sie wartete die Rückkunft des Vaters ab, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Als das geschehen war, sprach sie ihr Nachtgebet und sank dann sehr bald in den glücklichen Kindesschlaf.

Vater und Tochter saßen nun allein beisammen im Wohnzimmer.

Sie hielten es jeden Abend so, seit die Mutter tot; sprachen miteinander, oder er las und sie arbeitete; manchmal sagte er von seinem Buche aufblickend: »Singe etwas,« und dann erhob sie sich, holte ihre Zither und sang ihm mehrere Lieder vor.

Heute fühlte er sich zu ermüdet, um zu sprechen. Er saß am Tische und hatte ein Buch vor sich liegen; Paula saß ihm gegenüber und besserte Wäsche aus. Dann und wann erhob sie den Blick zum Vater, wie um zu erforschen, ob er vielleicht etwas brauche; doch da sie ihn eifrig lesen sah, beugte sie sich wieder über ihre Arbeit.

Sie war ein schönes Mädchen; nicht gerade blendend, nicht ins Auge fallend, wohl aber schön für denjenigen, der geistige Schönheit zu verstehen imstande ist. Ihr dunkles reiches Haar war in Zöpfen um das Haupt gewunden und legte sich in natürlichen Wellen um die blasse Stirn. Sie hielt den Kopf nach vorne gesenkt und diese Stellung zeigte, wie fein geformt ihr schlanker Hals war und wie anmutig die kleinen Locken im Nacken an der weißen Haut spielten. Ihr Gesicht war blaß, die Wangen sanft gerundet und die etwas kurze Oberlippe schloß sich selten ganz über den kleinen weißen Zähnen. Das Schönste in ihrem Gesichte waren die Augen; groß und tiefgrau waren diese langbewimperten Augen und hatten einen ernsten, sinnenden Blick. Den mädchenhaften Körper umschloß ein einfaches schwarzes Wollenkleid, die kleinen Ohren und schlanken Hände entbehrten jedes Schmuckes. Im Haar hatte Paula eine gelbe Rose stecken.

»Paula,« sagte ihr Vater plötzlich.

Sie blickte horchend auf.

»Wann wirst Du wieder einmal in der Kirche singen? Die Leute sprechen schon davon.«

»Die Leute sprechen immer. Sagten sie doch vor einiger Zeit, daß ich bloß deshalb so oft singe, weil ich auf dem Chor den Lehrer treffe. Sie sollen ihren Irrtum einsehen lernen.«

»Also wegen der Leute –?«

»Nein, Vater. Nicht deshalb. Aber ich will Herrn Stettner aus dem Wege gehen.«

»Belästigt er Dich in irgendeiner Weise?«

»Er sieht mich immerfort an und das ist mir unangenehm.«

»Überwinde Dich einmal und singe nächsten Sonntag, – mir zu Gefallen. Ich will nicht, daß man glaube, wir hätten die Absicht den Dekan zu beleidigen.«

»Gut, Vater. Ich will es tun.«

Er las darauf noch eine kurze Weile und zog sich dann in sein Schlafzimmer zurück. Paula hatte noch keinen Schlaf. Sie trat ans Fenster und blickte hinauf zum dunklen, sternenlosen Himmel, – nicht träumerisch oder sehnsuchtsvoll, sondern ruhig, wie Menschen tun, in deren Herzen der Friede wohnt. Sie dachte an allerlei, aber ihre Gedanken gingen nicht über das kleine Haus hinaus; alle ihre Wünsche, ihre Liebe und Hoffnungen lagen hier, in ihrem Heim. Ihr Auge glitt über die Möbel, die in dem Zimmer standen; wie waren alle ihr lieb und vertraut! Als Kind schon hatte sie diese Möbel gekannt, und während sie altmodisch wurden und ihre Farben verblaßten, war Paula groß geworden. Ein jedes dieser Einrichtungsstücke sprach ihr von den Kindertagen, der ersten Jugendzeit und der Mutter, für die diese Möbel gekauft worden waren, als sie als junge Frau in das Haus des Gatten zog. Auf diesem Divan hatte die Mutter oft geruht, da sie schon krank, und dort hatte der Vater Paula eines Tages niedersetzen heißen, hatte sich an ihre Seite gesetzt und sie stumm ans Herz gezogen. Er hatte dabei so schwer geatmet, so schwer, ... und da hatte Paula plötzlich gewußt, daß die Mutter verloren war, daß sie bald sterben mußte. Und: »Vater!« hatte sie mit halb erstarrter Zunge gestammelt und noch einmal: »Vater!« und hatte in seinen Rock gebissen, um nicht aufzuschreien, denn sie wußte, das die Kranke im Nebenzimmer war. Der Arzt hatte die Tochter in seine Arme genommen und zusammen waren sie hinaus ins Freie gegangen. An seinem Arm hängend, vom Vater unterstützt, hatte sie sich weitergeschleppt, und so waren sie bis außerhalb der Stadt Innsbruck gekommen, wo sie damals wohnten, und dort waren sie auf die Kniee gesunken und hatten geweint. Geweint? Geschrieen hatten sie, geschrieen in ihrem hilflosen, verzweiflungsvollen Jammer, bis sie endlich einander ermattet in die Arme gesunken waren.

»Weiß sie ...?« hatte Paula endlich gefragt.

»Ja! Sie hat mit mir davon gesprochen und mir Dich und die Kleine an das Herz gelegt.«

O traurige Zeit einer letzten Krankheit! Leiden sehen müssen dasjenige, was man so innig liebt, und schließlich – grausame Notwendigkeit! – wünschen müssen, daß der Tod der Tragödie ein Ende machen möge, damit die Qual endlich, endlich vorüber sei. Und dann, wenn sie vorüber, ... welche Leere in der Brust, welche Einsamkeit außen und im Hause! Häßlicher, häßlicher Tod. –

Da saß Paula in ihrem schwarzen Kleide oder schlich durch die verödeten Räume, nachgrübelnd darüber, was sie tun sollte, um das zerstückte Familienleben wieder halbwegs aufzubauen. Sie war erst sechzehnjährig, aber sie hatte Mut und fühlte die Kraft in sich, den Versuch zu wagen, ob sie die Mutter, so weit das eben möglich, nicht ersetzen könnte. Da war der Vater, der nach wie vor seinem Berufe nachging und sich äußerlich stark zeigte, der Kinder wegen, aber dem der Schmerz am Herzen fraß, der einmal hatte weinen können und dann nie wieder. Da war die dreijährige Toni, das mutterlose Kind, das noch nicht verstand, was es verloren hatte; da war das Haus ohne Hausfrau ... und Vater, Kind und Haus umfaßte Paula mit ihren jungen Armen und mutigem Herzen; sie dachte niemals an sich; sie lebte nur für den Vater, die Kleine und das Haus und gewann mit den Jahren die wehmutvolle und erhebende Überzeugung, daß sie imstande war, die Mutter zu ersetzen, so gut eben der Platz, den eine Mutter leer gelassen, ausgefüllt werden kann.

Sie waren von Innsbruck fortgezogen und in das Dorf übersiedelt, wo sie heute noch lebten. Der Vater hatte vollauf zu tun, und wenn er nach Hause kam, empfing ihn ein wohlgeordnetes Haus, trat Paula ihm entgegen mit liebevollem Gruß, das Kind an der Hand. Nunmehr ihr Kind. Sie liebte dieses Kind mit mütterlicher Zärtlichkeit, sie mußte ihm ja Mutter sein. Das Kind gehörte ihr, ihr allein. Niemand anders als sie durfte es überwachen, pflegen, erziehen. Wenn jemand die Kleine küßte, bewunderte, ihr schön tat und Toni dazu lächelte, empfand Paula eine eifersüchtige Regung: das Kind könnte ihr entwendet werden, könnte sich an Fremde anschließen, ... oder aber sie fürchtete wieder, daß sie die Kleine nicht richtig erziehe, zu streng oder zu schwach wäre, daß Toni sterben könnte. Wenn das Kind Kopfweh hatte oder stiller war als sonst, fieberte Paula vor Angst. Was sie für sich selbst niemals gewesen war, – für Toni war sie eitel und konnte stundenlang über Schnitt und Aufputz eines Kinderkleidchens nachdenken. Und was für eine Freude war es dann später für sie, das Kind zu unterrichten, es lesen, schreiben und zählen zu lehren und den jungen Geist zu bilden. Wie glücklich machte es sie, mit dem Kinde spazieren zu gehen und zu sehen, wie munter Toni voransprang und wie gesund und kräftig sie war und wie gelenk die schön geformten Glieder. Oft gingen die Mädchen dem Vater entgegen und Paula hing sich dann an seinen Arm und sprach mit ihm von seinen Kranken, denn sie hatte sich so sehr in seinen Beruf hineingelebt, daß sie in allem und jedem Bescheid wußte und er sie oft scherzend seinen Assistenten nannte. Mit den Jahren war Paulas Liebe für die Kleine, wenn auch nicht weniger innig, so doch ruhiger geworden. Sie war ihres Lieblings sicher und wußte, daß sie Toni richtig erzog. Paula zählte heute dreiundzwanzig Jahre. Das Haus, der Vater, die Schwester waren ihre Welt. Sie hatte eine schwere Aufgabe zu erfüllen, dessen war sie sich wohl bewußt; aber in der Erfüllung ihrer Pflicht lag gleichzeitig auch ihr Glück.

Seit dem Tode der Mutter war kein Tag verstrichen, wo das junge Mädchen nicht an die Verstorbene gedacht hätte. In Paulas Zimmer stand ein kleiner Schrank, in dem lauter Erinnerungszeichen an die Mutter aufbewahrt lagen. Vor diesem Schranke kniete Paula nieder und nahm die ihr heiligen Reliquien heraus. Da waren Briefe der Mutter, ihr Gebetbuch, ihre Haushaltungsbücher, ihr Schmuck, ihr Brautkranz und Schleier und der Leuchter, der neben dem Bette gestanden hatte, als sie starb. Die Kerze darinnen war fast gänzlich herabgebrannt ... Die Mutter hatte Licht gemacht und war dann eingeschlafen, um nie wieder zu erwachen. Als Paula, erschreckt durch die Stille, in das Zimmer geeilt war, hatte sie die brennende Kerze und der Mutter Totenantlitz gesehen. Die Gute war still hinübergegangen, hatte den Ihrigen den gräßlichen Anblick des letzten Kampfes erspart ... Ja, gut war sie gewesen, gut und liebevoll bis zum letzten Augenblick.

Über dem Schranke hing das Bild der Mutter. Zu dem erhob Paula nun die Augen. Sie blickten ernst und dankbar, aber nicht kummervoll. Paula wußte, daß sie ein gutes Kind gewesen war und der Mutter mit Absicht niemals einen Schmerz bereitet hatte; daß sie treu in dem verwaisten Hause waltete und der gute Engel derjenigen war, die ihre Mutter über alles geliebt hatte. »Bist Du mit mir zufrieden?« fragte Paula leise. »Nie, hörst Du, Mutter? nie will ich sie verlassen; nie soll es anders werden, als es heute ist.«

Mit ruhiger Hand machte sie auf Stirn, Mund und Brust das Zeichen des Kreuzes, ihr Herz schlug friedvoll und leidenschaftslos, als sie jetzt ihr Lager aufsuchte und, bevor sie es tat, das Händchen der kleinen Toni küßte, die sanft schlummernd in ihrem Bette lag.

Sechstes Kapitel

Sonntag war's; ein frostiger, klarer Septembermorgen. Von nah und fern strömte das festtäglich geputzte Landvolk in die Kirche. Die Leute hatten sich vorgenommen, den Herrn Dekan zu versöhnen; der gespannte Ton, der zwischen ihnen und dem Seelenhirten herrschte, fing an, ihnen unbehaglich zu werden; sie wollten ihm beweisen, daß sie noch fromm waren und sich bemühten, einen Ausgleich anzustreben. Heute predigte der gnädige Herr selber. Nun, er sollte sehen, daß sie ihm nicht auswichen. Auf eine Strafpredigt waren sie gefaßt. Aber das verschlüge ja nichts; der Herr Dekan hätte am Ende einige Ursache, ungehalten zu sein; man hätte ihn in den Landtag wählen sollen, dann hätte man doch Frieden.

Mißvergnügt über die Stimmung, die in dem Volke Platz gegriffen hatte, schlenderte der junge Schullehrer der Kirche zu. Seit einigen Wochen fühlte er, daß seine mühsam errungene Popularität in bedenklicher Weise abnahm. Er war ein »Liberaler«, hatte einiges dazu beigetragen, um die Kluft zwischen den Bauern und dem Dekan zu erweitern, und das nahmen ihm die Leute jetzt übel; besonders die Frauen. »Mit diesem Volk ist nichts anzufangen,« dachte er verdrießlich. »Immer kehren sie auf halbem Wege wieder um. Die Furcht vor der Hölle bannt sie stets aufs neue in den Zauberkreis von Rom. Da ist nichts zu machen.«

Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf, denn er sah die kleine Toni, festlich gekleidet, ihr Gebetbüchlein in der Hand, des Weges einherkommen.

»Guten Morgen, Toni,« sagte er und küßte sie trotz ihrem Widerstreben. »Wie geht es Dir? Bist Du schlechter Laune?«

»Nein,« antwortete das Kind. »Aber ich mag das Küssen nicht leiden.«

Toni wußte, daß der Lehrer um ihre Gunst buhlte, und das machte sie verwegen. Er ließ sich ja doch alles gefallen, ... ihn durfte sie ganz ohne Zeremonie behandeln.

»Wo bleibt Deine Schwester?« fuhr er fort.

»Sie wird später kommen. Jetzt hat sie im Hause zu tun.«

»Und Du? Willst Du die ganze Predigt anhören?«

»Ja. Sie nicht?«

»Nein, mein Kind. Ich gehe lieber ein wenig spazieren. Komm mit mir und laß die Predigt Predigt sein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will den Herrn Katecheten nicht böse machen.«

Fritz Stettner runzelte die Stirn. Dieser Katechet fing an, ihm nachgerade unangenehm zu werden. Toni sprach so oft von ihm, schwärmte für ihn, verehrte ihn, ... des Lehrers Herz empfand Groll und Eifersucht.

»Sag' mir, Toni ...«

Das Kind hörte ihn nicht einmal. Seine Augen späheten nach dem Pfarrhof und das Blut stieg ihm in die Wangen. »Da kommt er!« flüsterte es aufgeregt.

Georg Harteck trat aus dem Pfarrhof und näherte sich ihnen. Er trug den schwarzen Priestertalar, sein Haupt war unbedeckt und zur Erde gesenkt. Er bemerkte die beiden nicht.

»Herr Katechet!« rief Toni ein wenig schüchtern.

Er hemmte den Schritt, erblickte das Kind und seine Züge heiterten sich auf. Toni näherte sich ihm mit verlegener kindlicher Grazie, das Köpfchen auf die rechte Schulter geneigt, in den Augen und auf den Lippen ein Lächeln.

»Gehen Sie in die Kirche, Herr Katechet?« fragte sie, seine Hand küssend.

»Ja. Ich zelebriere heute das Hochamt.«

»Ach! Das ist gescheit! Ich werde so andächtig sein, o! so andächtig ...«

»Das sollst Du immer sein, wenn Du betest.«

»Und heute wird Paula singen,« fuhr das Kind mit großem Stolze fort. »Daß Sie heute gut spielen, Herr Stettner!« rief sie dem Lehrer zu. »Wenn Sie es nicht tun, dann geben Sie acht!«

Der Lehrer begrüßte den Geistlichen mit einem gezwungenen Lächeln. In welch' verschiedenem Tone sprach die Kleine zu diesem Menschen! Ihn behandelte sie immer von oben herab ... Ja, wenn sie nicht Paulas Schwester wäre! Aber so, ... was konnte er machen?

»Jetzt muß ich in die Kirche hineingehen,« sagte Toni. »Die Predigt fängt schon an.«

Sie grüßte und entfernte sich mit abgemessenen Schritten und sittsam niedergeschlagenen Augen.

»Folgen Sie ihr nicht?« fragte Harteck den Lehrer.

»Nein; ich habe keine Lust, mich abkanzeln zu lassen,« versetzte der junge Heißsporn, zog den Hut ab und ging rasch davon.

Harteck mußte über ihn lächeln. Im Grunde genommen konnte er es dem Lehrer nicht verargen, daß dieser der Predigt auswich; tat er doch das nämliche. Er blieb vor der Kirche stehen und blickte nach der Richtung, die in das Dorf führte. Er hatte die Absicht zu warten, bis Paula käme. Er wollte das junge Mädchen endlich einmal sehen. Im unverwandten Hinblicken nach der bezeichneten Gegend bemerkte er nicht, daß Fräulein Aurelie aus dem Pfarrhofe trat und auf die Kirche lossteuerte. Sie trug ein sehr enges Kleid und Schuhe mit Pariser Absätzen, was ihrem Gange einige Unsicherheit verlieh. In der Hand hielt sie ein großes, mit Silber beschlagenes Gebetbuch in braunen Sammet gebunden, das sie zärtlich an das Herz drückte. Ihr kleines, spitzes, über und über mit poudre de riz bestäubtes Gesicht hatte einen gesucht frommen Ausdruck. Sie wurde des Geistlichen sofort gewahr; schnell senkte sie den Blick und trippelte auf ihrem schwanken Schuhwerk auf ihn zu. Schon war sie ihm ganz nahe gekommen und er bemerkte sie noch immer nicht. Da ließ sie ein fistelartiges Räuspern ertönen: »Hm! hm!«

Er fuhr zusammen und drehte das Haupt nach ihr hin.

»So in Gedanken, Herr Kooperator?« redete sie ihn an. »Sie müssen an sehr interessante Dinge gedacht haben. O! werden Sie nicht rot! Denken darf man ja was und woran man will.«

Er war gar nicht rot geworden. Das Fräulein stand vor ihm, nickend, kichernd, mit schalkhaft erhobenem Zeigefinger. Harteck zwang sich zu einem Lächeln.

»Sie sind heute gut gelaunt, gnädiges Fräulein,« sagte er.

»Nur äußerlich,« antwortete sie mit einem Seufzer und blickte ihr Gebetbuch an. »Ich will nun in die Kirche gehen und beten, ... um den inneren Frieden will ich bitten.«

»Tun Sie das,« sagte er zerstreut.

»Erwarten Sie jemanden?« fragte sie, von dem stimmungsvollen Tone plötzlich in einen gereizt klingenden übergehend.

»Weshalb diese Frage?«

»Nun, – so. Sie sehen danach aus. Ich will Sie nicht länger stören, hochwürdiger Herr,« sagte sie pikiert.

»Aber, mein Fräulein ...«

»Schon gut, schon gut, mein Herr. Ich bedauere Sie gestört zu haben,« schloß sie mit Emphase und ging in die Kirche hinein.

»Was hat sie nur?« dachte Harteck. »War ich schon wieder unhöflich?«

Der Klang einer ihm bekannten Stimme lenkte seine Gedanken von Fräulein Aurelie ab. Er sah den Lehrer kommen; diesem zur Seite, das Haupt halb abgewendet von ihm, ging ein junges Mädchen. Was die beiden miteinander sprachen, konnte Harteck nicht verstehen; jedoch aus dem Tone ihrer Stimmen war zu erraten, daß sie über irgend etwas uneinig waren. Eine Ahnung sagte dem Priester, daß dieses Mädchen Paula wäre ... Nun denn! Sie ging mit dem Lehrer, ließ sich von ihm abholen und begleiten, zankte mit ihm, ... also doch zwei Verliebte. Harteck empfand ein Gefühl, das der Enttäuschung nahe kam. Er würde lieber gesehen haben, wenn diese viel besprochene, viel gerühmte Paula nur für die Ihrigen gelebt, wenn sie diesen langhaarigen, überspannten Schullehrer nicht geliebt hätte ... Wie konnte ein feines und kluges Mädchen sich in solchen Kauz verlieben?

Paula näherte sich ihm; er konnte ihr Gesicht sehen; ihre blassen, feinen Züge drückten einige Unzufriedenheit aus und zwischen ihren Brauen lag eine Falte. Mit stolzer Ruhe ging sie einher, den Schritt weder beschleunigend noch ihn verzögernd. Ihr Begleiter gestikulierte heftig, redete in sie hinein, schien sie von irgendeiner Sache überzeugen zu wollen ... Sie schüttelte bloß den Kopf.

»Ich habe Sie oft schon ersucht, mich nicht abzuholen und sich mir nicht anzuschließen, wenn wir einander auf dem Weg nach der Kirche begegnen,« hörte der Priester sie sagen. »Warum beachten Sie meine Worte nicht?«

»Weshalb aber,« fiel er aufgeregt ein, hielt jedoch plötzlich inne. Er hatte den Geistlichen bemerkt. Paula folgte der Richtung, die sein Blick genommen. Ihre grauen ernsten Augen begegneten Hartecks forschendem Blicke, sie sah ihn ruhig an, und er, der Sitte des Dorfes entgegen, verbeugte sich unwillkürlich. Es war eine Seltenheit, daß auf dem Lande ein Priester ein Glied seiner Gemeinde zuerst grüßte ... Paula jedoch schien diese kleine, ihrem Geschlechte dargebrachte Huldigung nur natürlich zu finden; sie dankte ohne zu lächeln und ging an ihm vorüber. Harteck schaute der schlanken Mädchengestalt nach, bis sie verschwunden war.

»Eine marmorkalte Schönheit!« dachte er. »Armer närrischer Friedrich! Von diesem Bild ohne Gnade ist freilich nicht viel zu hoffen.«

Er blickte auf die Uhr. Es war Zeit, sich für das Hochamt anzukleiden. Was ihm sonst beinahe niemals widerfuhr, – heute freute er sich auf die Abhaltung des Gottesdienstes. Er war auf Paulas Gesang gespannt.

Bald darauf stand er vor dem Altar. Das Hochamt begann. Als Paulas Stimme ertönte, – so ganz verschieden von den übrigen Stimmen auf dem Chor, so weit besser geschult und seelenvoller, – da durchrieselte die Glieder des jungen Mannes ein Schauder des Entzückens. Er hatte Sinn und Verständnis für alles Schöne, und das Leben, das er führte, brachte das Schöne in der Kunst so selten auf seinen Weg. Mit lautschlagendem Herzen lauschte er der tiefen, klangvollen Mädchenstimme und empfand eine seltsame Befriedigung, wenn unmittelbar auf seine Stimme der Gesang des Mädchens einfiel. Stundenlang hätte er sie singen hören, hätte diese Töne gleichsam trinken mögen, um sein durstiges Herz zu erquicken, – aber das Hochamt ging zu Ende, die Andächtigen entfernten sich, Gesang und Orgelspiel verstummten, der Genuß für Ohr und Seele war vorbei. Eine Woche, eine ganze lange Woche mußte er auf die Wiederholung dieser belebenden Stunde warten, ... vielleicht länger noch; denn wer weiß, ob Paula am nächsten Sonntag abermals singen würde? Rasch verfügte er sich in die Sakristei und legte hastig das Meßgewand ab. Er wollte dem jungen Mädchen zuvorkommen, wollte früher als sie außerhalb der Kirche sein, Paula noch einmal sehen, ... vielleicht, daß die kleine Toni ihn anreden und sich ihm dadurch die Gelegenheit bieten würde, mit Paula zu sprechen; er würde dem jungen Mädchen gern gesagt haben, wie sehr ihr Gesang ihn entzückt hatte. Das war doch erlaubt, nicht wahr? Er war gewohnt, daß sein Vorgesetzter an allem, was er tat, zu rügen fand, ... vielleicht würde er auch darin Tadelnswertes erblickt haben. In Gottes Namen! auf einen Verweis mehr oder weniger kam es nicht an. »Ich stelle ihn doch nicht zufrieden,« dachte Harteck und eilte ins Freie.

Wirklich sah er Paula mit Toni kommen. Die Kleine hing am Arm der Schwester und plauderte eifrig mit ihr. Rasch entschlossen ging Harteck dem Paare entgegen, – die Schwestern konnten ihm nicht ausweichen, sie mußten ihn sehen. Toni hatte auch keineswegs die Absicht, ihn zu übersehen; sie zupfte die Schwester am Kleide und flüsterte ihr, während sie den Priester mit lachenden Augen anschaute, einige Worte zu. Paula aber blickte nicht einmal auf. »Komm!« sagte sie bloß zur Kleinen, die nicht üble Lust zu haben schien, stehen zu bleiben; widerstrebend gab Toni nach und die beiden gingen an dem Priester, der enttäuschten Gesichtes dastand, vorüber. Das Kind blickte noch einmal zurück und lächelte ihn an, – er nickte ihm flüchtig zu und begab sich langsamen Schrittes nach Hause. Am Frühstückstisch fand er niemanden als den jungen Mönch, der ihm schweigend mehrere Briefe überreichte. Gleichgültig schob Harteck die Briefe in die Tasche. Sie waren aus seiner Heimat, von seiner Mutter und Schwester; die konnte er auch später lesen.

»Wo sind der Herr Dekan und das Fräulein?« fragte er, um etwas zu sagen.

»Im Garten.«

Gut, daß er das hörte. Er hatte die Absicht gehabt, nach dem Frühstück in den Garten zu gehen; jetzt aber ließ er den Plan hurtig fahren.

»Sie sollten Ihren Hund jedesmal, wenn Sie fortgehen, sorgfältig einschließen,« sagte der Pater. »Er hat sich schon wieder mit dem Hofhund gerauft. Der Herr Dekan war darüber sehr aufgebracht.«

»Ist meinem Hunde etwas geschehen?« fragte Harteck beunruhigt.

»Nein; aber der andere ist ganz zerbissen. Weshalb haben Sie sich auch ein so bösartiges Tier angeschafft?«

»Bösartig? Mein Hund? Der ist fromm wie ein Lamm. Aber der andere fängt immer mit ihm zu raufen an. Es wäre kein Schaden gewesen, wenn mein Cäsar die Bestie totgebissen hätte.«

»Meinen Sie? Ich weiß nicht, was der gnädige Herr dazu gesagt haben würde. Jedenfalls hätte Ihr Hund aus dem Hause müssen.«

»So?« sprach Harteck zwischen den Zähnen. Der bloße Gedanke, ihn von seinem Hunde trennen zu wollen, machte sein Blut kochen. Aber er beherrschte sich.

»Ich werde den Hund künftighin in meine Stube einsperren,« sagte er, »und damit werden diese Balgereien ein Ende haben.«

Er verzehrte sein Frühstück und verließ sodann den Mönch. Auf der Treppe nach seiner Wohnung begegnete ihm Uschei, die junge, freundliche Magd. Ihr Gesicht glühte über und über.

»Jetzt han i mi so g'ärgert, Herr Koppratter,« flüsterte sie, ihn beim Arme fassend. »Frei' net zuschau'n han i kinna[6], wie's den armen Hund g'schlagen haben ... und weswegen? Wegen' Burschel, dem Sakra, der alleweil z'raufen anfangt, ... völlig rähren[7] hätt' i kinna!«

»Wer hat meinen Hund geschlagen?« fragte Harteck mit starker Stimme und zornblassem Gesicht.

»Der Herr Dekan, die gnädige Fräul'n, die Knecht', ... alle sein über ihn herg'fallen.«

»Wo ist der Hund?«

»Vor Ihrer Tür liegt er. I han eahm[8] was z'essen 'bracht und han eahm g'schmeichelt, ... er ist ganz verschreckt.«

Harteck drückte ihre Hand. »Ich danke Ihnen, liebe Uschei,« sagte er. »Sie sind ein gutes Mädchen. Ich danke Ihnen herzlich ...«

Und eilig lief er die Treppe hinauf. Vor der Tür lag Cäsar, den Kopf zwischen den Vorderpfoten, und schaute seinen Herrn demütig und traurig an.

»Cäsar!« rief Harteck. Der Hund bewegte die Rute.

»Steh' auf, mein Alter!« sagte der Geistliche im liebreichsten Tone. »Was haben sie Dir denn getan?«

Cäsar sprang in die Höhe und schmiegte sich an die Kniee des Gebieters.

»Geschlagen haben sie Dich, nicht wahr?« fuhr Harteck, den Hund streichelnd und liebkosend, fort. »Na, laß es gut sein.«

Er öffnete die Tür und der Hund sprang vergnügt an ihm empor. Er schien gefürchtet zu haben, daß auch sein Herr böse auf ihn sein würde.

»Komm herein!« sagte Harteck und schloß die Tür ab. Dann setzte er sich auf einen Stuhl, umfaßte mit beiden Händen den Kopf des Hundes, der neben ihm stand, und ließ Cäsars Ohren durch die Finger gleiten. Sein Gesicht nahm dabei einen finsteren, gespannten Ausdruck an. Es war, als ob Schatten seiner Brust entstiegen und sich verdunkelnd auf seine Züge legten. Schatten aus der Vergangenheit, unvergeßliche Stunden, sie kamen wieder, tauchten auf aus ihrem dürftig bedeckten Grab und stellten sich vor ihn hin. Er mochte die Augen wenden, wohin er wollte, ... überall stand die Vergangenheit und nickte ihm höhnisch zu. Er hatte sich strenges, unverbrüchliches Schweigen auferlegt; nicht den Menschen gegenüber: das hatte er gelernt von Jugend auf; wohl aber gegenüber sich selbst. Nicht rühren an der Vergangenheit, nicht grübeln oder trauern, nicht fragen, ob sie nicht besser hätte sein können, nicht jammern über Dinge, die nun einmal nicht zu ändern waren, ... das war es, was er sich zugeschworen hatte und auch treulich hielt. Aber heute wankte er in seinem Entschluß. Es war doch nur eine Kleinigkeit, die ihn dazu brachte; der Hund hatte die ungerechten Schläge schon wieder abgeschüttelt, ... und dennoch: just dieser Kleinigkeit, dieses Tropfens hatte es bedurft, und die Schale floß plötzlich über. Ertragen, immer ertragen müssen, nicht schützen dürfen das, was man liebt ... Gott im Himmel! Er war kein Weichling, er litt ja alles, biß die Zähne zusammen und überwand den Schmerz, ... aber nur die Menschen, die er liebte, sollten sie nicht kränken. Er dachte nicht an den Hund. Das arme Tier! Dem hatten die Schläge nicht so wehe getan; ein paar Liebkosungen oder ein Knochen – und vergessen war das Leid. Aber ein anderes Unrecht schwebte dem Priester vor, ein ungesühntes und nicht zu sühnendes. Unrecht ...? Die Herren urteilten anders. Der Dekan hatte ihm niemals gesagt, daß er bei seinen früheren Vorgesetzten nach seiner Vergangenheit gefragt; aber Harteck fühlte und ahnte das. Sie hatten ihn nicht geliebt, diese seine Vorgesetzten. Der erste war noch zu ertragen, war ein gutherziger, schwacher alter Mann gewesen, der sich sogar recht schwer von ihm getrennt hatte. Aber der zweite. Der hatte ihn gehaßt, haßte ihn noch und würde ihm schaden, wo immer er nur konnte. Der hatte ihm auch geschadet bei dem Dekan, das fühlte Harteck instinktiv; auch hatte manche Andeutung des Dekans ihn vermuten lassen, daß der Prinzipal um seine Vergangenheit wisse. Einmal hatte er zu ihm gesagt: »Sie sprechen sehr häufig mit der Uschei ... Lassen Sie sich nicht einfallen, dem Mädchen unerlaubte Gedanken in den Kopf zu setzen. In meinem Hause würde dergleichen ebensowenig geduldet werden wie anderswo.« Hatte das eine Anspielung sein sollen? Vielleicht! Der Mund des jungen Priesters verzog sich zu einem matten Lächeln, er stand auf, ging zu einem Schranke hin, zog eine der Laden heraus und kramte darin herum. Bald hatte er gefunden, was er suchte. Ein kleines Paket war es, das eine Photographie und einen Brief enthielt. Die Photographie stellte ein Tiroler Bauernmädchen im Sonntagsstaat dar. Es schaute ihn an aus treuherzigen blauen Augen, und während er es betrachtete, dachte er an vergangene Stunden und wie oft er diese Augen, diese Lippen, dieses blonde Haar geküßt, wie oft diesen jungen, blühenden Leib umfangen ... Armes, zärtliches, liebevolles Mädchen! An ihr hatten die Menschen schweres Unrecht verübt. Sie hatte ihn geliebt mit selbstloser, hingebungsvoller Liebe, hatte nichts begehrt, keinen Schwur, keinen Ring, und hatte ihm doch alles gegeben, was ein Weib dem Manne geben kann, ... und was war der Lohn dafür! Ein verbotenes Liebesglück, Spott, Verachtung, und dann hatte der Pfarrer sie aus dem Hause gejagt. In Hartecks Abwesenheit war es geschehen. Der Pfarrer hatte ihn fortgeschickt, und während er ihr fern, hatten der harte Mann und dessen tugendhafte Wirtschafterin dem Mädchen Beleidigung um Beleidigung ins Gesicht geschleudert, und sie hatte vor ihnen auf den Knieen gelegen und sie angefleht, Erbarmen mit ihr zu haben: sie würde ja gehen, auf immer gehen ... Sie aber hatten kein Erbarmen gehabt, hatten sie gehöhnt und beschimpft, und er war nicht dabei gewesen, hatte sie nicht schützen, nicht mit seinem Leibe decken können ... Als er heimkam, war die Unglückliche schon weit, und von den Knechten und Mägden hörte er, was sich begeben in seiner Abwesenheit.

Sie war ihm noch immer teuer und würde ihm teuer bleiben, solang Leben und Atem in ihm. Wohl war der Liebesrausch verflogen, und er gestand sich heute, daß es besser gewesen war für ihn und sie, daß man sie voneinander gerissen hatte. Im Anfang hatten sie sich oft geschrieben; das ist ja der einzige Trost zweier Menschen, die das Schicksal auf immer getrennt hat. Er hatte diese Briefe später verbrannt, – bis auf einen, den letzten, den er von seinem Mädchen erhalten. Der lag getreulich aufbewahrt neben der Photographie und den schlug er auch jetzt auseinander und las ihn durch.

»Ich schreibe Dir heute zum letztenmal,« hieß es darin. »Du mußt mir deshalb nicht böse sein, liebster Georg, aber ich kann nicht anders. Ich hab' Dir genug Plage und Schmerz gekostet und das soll jetzt aufhören und Du mußt mich vergessen. Ich hab' einen braven Mann kennen gelernt und der will mich heiraten. Ich hab' ihm alles gesagt und er hat mir's verziehen, aber schreiben darf ich Dir nicht mehr und so muß ich Abschied von Dir nehmen. Ich hab' mich ja doch schwer versündigt an unserem Herrgott, dem lieben Heiland, der Jungfrau und den Engeln, daß ich einen Priester gern gehabt hab' und ich will umkehren und wieder rechtschaffen werden. Mein zukünftiger Mann hat von seiner ersten seligen Frau drei liebe Kinder und denen will ich mit dem Beistand der hochgebenedeiten Jungfrau Maria eine gute Mutter werden. Ich hab' so viel zu ihr gebetet und ich glaube, daß sie mich erhört hat und daß es so am besten ist. Ach, Georg, ich hab' Dich so lieb gehabt und mir ist oft so bang um Dich und ich meine, daß ich Dir doch recht abgehen muß. Verzeih mir, daß ich so rede, es soll nicht mehr geschehen, das alles ist ja vorbei. Denk an mich wie an eine Tote und bete für mich, und die Photographie schicke ich Dir zum Andenken; die heb auf und vergiß nie, daß Du mein alles gewesen bist, daß Du auf Deine Gesundheit schauen und wieder lustig werden mußt; denn das Herz tät mir brechen, wenn ich hören tät, daß Du Dich heruntergrämst wegen mir und krank bist. Schau, das mußt Du nicht tun, das wär' ein armes Dirndel wie ich gar nicht wert. Ich hab' gehört, daß Du vom Ort fortkommen wirst, und ich bin froh drum. Du wirst einen besseren Pfarrer finden und neue Freunde und dann wird wieder alles gut sein. Und so leb' wohl, lieber Georg. Ich denke Tag und Nacht an Dich –

Deine Kathrin

So oft er diesen Brief durchlas, beschlich ihn ein Gefühl, das halb Beruhigung, halb Wehmut war. Gott sei Dank! er hatte das gute Mädchen nicht ganz zugrunde gerichtet; rechtzeitig noch hatte sie sich emporgerafft und ein neues Leben angefangen. Wohl mochte ihr das im Anfang schwer gefallen sein, aber sie hatte sich tapfer durchgerungen und lebte heute geachtet und geliebt von allen im Hause ihres Gatten. Seit einem halben Jahre hatte sie auch ein eigen Kind. Das alles wußte er durch Fremde, denn sie hatte ihm, ihrem Vorsatz getreu, nie wiedergeschrieben. Ein paarmal hatte sie ihm durch dritte Grüße zukommen und ihm sagen lassen, daß es ihr wohl ergehe und daß ihr Kind ein kleiner Engel sei. Er wußte sie versorgt und geborgen und somit war alles gut.

Er legte die Photographie und den Brief in die Lade zurück und erinnerte sich dabei an die Briefe, die der Mönch ihm eingehändigt und die er noch nicht gelesen hatte. Er griff in die Tasche seiner Soutane, zog die Briefe hervor und erbrach sie. Sie enthielten nichts Neues. Das Leben seiner Mutter und Schwester, die in seiner Vaterstadt, in Kufstein, wohnten, ging seinen hergebrachten Gang. Die Mutter schrieb ihm, wie gewöhnlich, in strengem pietistischen Ton, sprach von Gott und der Kirche und hielt ihm seine Priesterpflichten vor. Der Sohn war ihr immer noch nicht geistlich, nicht ernst und fromm genug. Ein zärtliches Wort, der Wunsch ihn zu sehen, die Hoffnung, daß er sich glücklich fühle, sprachen nicht aus dem langen Schreiben; es enthielt bloß Ermahnungen. Die Schwester schrieb in einem anderen Tone; kurz und verständig, wenn auch nicht liebevoll. Sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt und schon Witwe, hatte einen einzigen kleinen Knaben und lebte in geordneten Verhältnissen. Sie sprach in ihrem Briefe hauptsächlich von sich und dem Kinde und daß sie ihre Schwiegereltern um den kleinen Finger wickele, daß diese alles täten, was sie wünschte und den Knaben sehr verzögen, und so nebenbei erkundigte sie sich auch nach dem Befinden des Bruders und forderte ihn auf, ihr wieder einmal zu schreiben. Harteck durchflog die Briefe, legte sie dann in eine Lade und klappte sein Album auf. Er wollte die Bilder der Mutter und Schwester betrachten. Da standen sie nebeneinander, beide so gut getroffen, so lebenswahr. Das waren die harten Züge der Mutter, ihr festgeschlossener Mund, der niemals lächelte, ihr silbergraues Haar und ihre strengblickenden Augen; und das nebenan war das feine, kluge Gesichtchen der Schwester, mit dem spöttischen Ausdruck und den kalten, klaren Augen, aus denen grenzenlose Selbstsucht und eine gewisse mitleidige Geringschätzung sprachen, ... ja, das war sie, wie sie leibte und lebte. Als Kind schon hatte sie die Menschen zu bezaubern verstanden, und jedermann, obwohl sie äußerlich so sanft und still tat, nach ihrer Pfeife tanzen lassen; den Bruder hatte sie immer beherrscht und ihm alles, was er besaß, Spielsachen, Naschwerk, abgeschmeichelt ... Er hatte sie abgöttisch geliebt und sie – nun! sie war ihm leidlich gut gewesen, weil er immer ihren Willen tat, jedes von ihr verübte Vergehen und die darauf folgende Strafe auf sich nahm, die Schulaufgaben für sie machte und ihr jeden Wunsch erfüllte. Mit dem Plan der Mutter, daß er Priester werden sollte, war sie höchlich einverstanden gewesen; da kostete seine Erziehung nichts, weil ein ihnen befreundeter Priester die Kosten davon tragen wollte, er konnte nicht heiraten und somit gehörte alles, was die Mutter besaß, ihr allein; er brauchte ja nichts, hätte als allein lebender Priester an seiner Einnahme genug ... Er wußte, daß ihre Gedanken solcher Art waren, obschon sie ganz anders sprach, ihm das Schöne und Erhabene des Priesterberufes vorhielt, und daß der Mutter Herz an diesem Plane hinge und: »Du bist so gut, Georg, Du wirst der Mutter dieses Opfer bringen« ... Und er hatte es gebracht und Gott allein weiß, was dieses Opfer ihm gekostet hatte. Doch nichts davon. Daran durfte er niemals rühren; das war nun einmal geschehen und mußte getragen werden. Genug! Er hatte ihnen ihren Willen getan und sie waren es zufrieden. Die kluge Schwester hatte sich mit neunzehn Jahren vermählt; nicht aus Liebe. Aber ihr Mann war jung, gutherzig und vermögend, ein einziger Sohn. Sie wußte ihm Liebe vorzuheucheln und schmeichelte sich in sein und seiner Eltern Herz, und er heiratete sie in dem festen Glauben, daß sie ihn ebenso liebe wie er sie, und sie war klug genug, ihm eine liebenswürdige, pflichtgetreue Gattin zu sein. Er starb nach kurzer Ehe, sie trug Trauer um ihn, verblieb im Hause der Schwiegereltern, deren alleiniger Erbe ihr Söhnchen war, und lebte heute nur für das Kind, das sie, weil ein Stück von ihr, wirklich liebte. Die Mutter lebte allein. Das war Georgs Familie, waren die einzigen Menschen, die ihm verwandt.

Beim Nachdenken über die Seinen kamen ihm plötzlich Paula und Toni in den Sinn. Ja, das war Geschwisterliebe; eine solche Liebe würde, müßte über vieles hinweghelfen. Wenn seine Schwester Paula oder der kleinen Toni gliche, wenn die Mutter ihn so geliebt hätte, wie der Arzt seine Töchter liebte, wenn ihm ein so schönes, harmonisches Familienleben beschieden gewesen wäre: dann würde er wohl nicht geworden sein, was er war. Schon wieder! Er wollte ja daran nicht denken. Rasch entschlossen griff er nach einem Buche, setzte sich ans Fenster und fing zu lesen an. Cäsar, der alle seine Bewegungen mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, legte sich zu seinen Füßen nieder, postierte den Kopf zwischen die Vorderpfoten und verhielt sich ganz ruhig. Fliegen summten in der Stube, durch das offene Fenster strömte die frische Herbstluft herein und auf den Gartenwegen stolzierte Fräulein Aurelie auf und ab und tat oft einen verstohlenen Blick aufwärts nach dem Priester, in der Hoffnung, daß er sie bemerken, grüßen, vielleicht – man kann nicht wissen – herunter in den Garten kommen würde ... Aber Harteck blickte kein einziges Mal von seinem Buche auf. Die Lektüre fesselte ihn. Seine Züge hatten ihren gewohnten resignierten Ausdruck angenommen. In seinem Herzen war es wieder still geworden.

Siebentes Kapitel

Wenige Tage später wurde die Schule geschlossen. Der Scharlach grassierte im Dorfe und den umliegenden Ortschaften. Ein Kind war der Krankheit bereits erlegen.

»Hier wird es mit jedem Tage angenehmer,« dachte Fräulein Aurelie, die am Fenster stand, und drückte ihr gelbes Gesichtchen an die Scheibe. »Ansteckende Krankheiten und immerwährend schlechtes Wetter ... Wie es heute wieder regnet! Und dieser Kooperator läuft beständig im Regen herum ... Da ist er schon wieder, er und sein liebenswürdiger Hund. Jetzt bleibt er stehen. Natürlich! Kommt doch seine Auserwählte, die Uschei, des Weges. Mit der hat er immer etwas zu verhandeln. O diese Geistlichen! Alle haben einen so gemeinen Geschmack und geben sich mit Köchinnen und Mägden ab ... Fi donc!«

Harteck stand, nicht ahnend, daß er beobachtet wurde, in der Tat vor dem Hause und sprach mit der jungen Magd. Ein sehr harmloses Gespräch war es, das er führte: er fragte sie, ob es im Dorfe nichts Neues gebe, ob nicht vielleicht abermals ein Kind erkrankt wäre?

»Ja, heut' nacht is wieder über ein's der Scharlach kimma,« antwortete Uschei. »Die kloan Toni vom Herrn Doktor is sehr krank.«

Harteck zuckte zusammen. Sein Herzblatt, sein süßer, schöner Liebling schwer krank!

»Von wem haben Sie das gehört?« fragte er mit entfärbtem Gesichte.

»Vom Herrn Lehrer. Der hat das Kind g'sehen und g'sagt, daß' eahm schlecht geht.«

»Wirklich,« murmelte Harteck und ging halb abwesend weiter. Wie teuer ihm das Kind war, fühlte er jetzt. Und allsogleich malte er sich die Lage Paulas aus ... In welcher Sorge mochte die sein um die kleine Schwester! Wenn Toni stürbe –? Ihm schwindelte bei diesem Gedanken. Er suchte den Lehrer auf. Dieser wußte ihm nichts Tröstliches zu berichten. Die Krankheit trete sehr heftig auf; man müsse auf alles gefaßt sein.

»Und wie erträgt Tonis Schwester diesen Schlag?« fragte Harteck.

»O! Fräulein Paula ist wie immer, ... stark und ruhig; spricht beinahe nichts und weicht nicht von dem Kinde. Aber schlecht sieht sie aus, ... zum Erbarmen. Ich will nachmittags wieder hinübergehen, ... vielleicht kann ich dort von einigem Nutzen sein. Aufrichtig gesagt, mir bangt um Paula beinahe mehr noch als um das Kind.«

»Mir ebenfalls,« sagte Harteck. Er hatte Paulas kaltes Betragen gegen ihn vergessen. Sie hatte ja nicht wissen können, daß ihr Gesang ihn so mächtig ergriffen und ihn gleichsam hingezogen hatte zu ihr. Und mußte eine törichte Empfindlichkeit angesichts so großen Leides nicht zu Staub zerfallen? Er fühlte mit Paula, als ob er ihr Bruder wäre. Warum stand er ihr so ferne, warum durfte er sie nicht trösten und stützen und ihr das Kind pflegen helfen? Dieser Lehrer, der ihr am Ende auch bloß ein Fremder war, hatte das Recht in ihr Haus zu gehen, das Kind zu sehen, sich dienstbar zu erweisen, ... er nicht. Er mußte sich mit Mitteilungen aus dritter Hand begnügen. Wie verwünschte er die feindselige Stellung, die der Dekan gegenüber seiner Gemeinde einnahm und die folglich auch ihn von allen Dorfbewohnern schied! Er verzehrte sich in Angst und Sorge um das Kind. Oft, oft ging er am Hause des Arztes vorbei, spähte nach den Fenstern, näherte sich der Schwelle und stand wieder still ... Er hatte da drinnen nichts zu suchen; niemand erwartete ihn, niemand begehrte nach ihm. Einmal erblickte er Paula am Fenster. Abend war es; das junge Mädchen öffnete das Fenster, beugte sich heraus und schaute zum grauen Himmel empor. Wie traurig verändert sie war, so blaß, um die Augen dunkle Ringe, im Gesicht einen müden, zerquälten Ausdruck. Ihr Anblick tat ihm unsäglich wehe. Schon stand er im Begriff, seine Scheu zu überwinden und Paula anzusprechen, ... da zog sie sich zurück und schloß das Fenster. Welcher Jammer mochte da drinnen wohnen! Und machtlos zuschauen müssen, nicht einmal sein Mitgefühl zeigen dürfen, ... das war doch bitter.

Tag um Tag verstrich. Durch den Lehrer erhielt Harteck Nachricht über Tonis Befinden; in einer Nacht war sie dem Tode nahe gewesen, endlich aber trat eine Besserung ein. Das Kind war, wenn auch sehr entkräftet, doch außer Gefahr.

Eines Abends war Harteck allein zu Hause. Draußen regnete es, wie gewöhnlich. Beschäftigungslos saß der junge Mann auf seinem Bett und unterhielt sich damit, daß er seinen Cäsar an den Ohren zog und den Hund dadurch zum Bellen brachte. Da klopfte es an seine Tür. Rasch erhob er sich, um aufzumachen. Auf der Schwelle stand Uschei und in der Nähe eine andere, dunkelgekleidete Gestalt. Er erkannte auf den ersten Blick, daß es Paula war. Ihr unvermuteter Anblick erschreckte ihn. Was führte sie zu ihm? War Toni schlechter geworden und kam die Schwester zu dem Priester, um ihn an das Sterbebett des Kindes zu holen? Doch nein; das war unmöglich. In diesem Falle würde Paula die Kleine nicht verlassen, würde jemand anderen geschickt haben ... Mit fragendem Blick näherte er sich dem jungen Mädchen.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie störe,« sagte Paula. Aus ihrer Stimme klang eine unterdrückte Aufregung, eine gewisse Beklemmung, ... sie atmete rasch. »Ich komme auf die Bitte meiner kleinen Schwester zu Ihnen. Sie wünscht, Sie zu sehen. Sie war so krank und fühlt sich jetzt so schwach, ... ich mußte ihrem Verlangen nachgeben. Sie will beichten, ... das arme Kind, das nichts begangen hat ...«

Die Stimme versagte ihr, sie preßte wie trotzig die Lippen zusammen und wandte das Gesicht ab. Harteck betrachtete sie mit Teilnahme. Weshalb war sie so erregt? Fürchtete sie sich oder war ihr der Wunsch des Kindes peinlich? Das mochte es sein.

»Soll ich sogleich kommen?« fragte er sie sanft.

Ohne ihn anzusehen, nickte sie mit dem Kopfe.

Er griff nach seinem Hute.

»Ich bin bereit,« sagte er, ging voran und Paula folgte ihm schweigend; sie verließen den Pfarrhof und schritten, ohne ein Wort zu sprechen, durch die finstere Straße; Paula hielt den Blick zur Erde geheftet und ging sehr langsam. Sie schien etwas sagen zu wollen, jedoch das rechte Wort nicht zu finden ...

Er mißdeutete ihr Zögern und nahm es für eine Anwandlung körperlicher Schwäche.

»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?« fragte er sie. »Sie können sich kaum auf den Füßen halten.«

»Ich danke Ihnen,« antwortete Paula fast unhörbar. »Das ist es nicht ...«

»Was sonst?« fragte er und blickte sie an.

Sie blieb stumm. Wie hätte sie ihm auch erklären können, was sie beunruhigte! Dazu gebrach es ihr an Mut ... Paula war fromm, aber nicht in der Art, wie der Dekan es verlangte. Sie beichtete selten und betete daheim ebenso gern wie in der Kirche; sie blieb den Wallfahrten und Prozessionen fern, ging jeder Schaustellung der Frömmigkeit absichtlich aus dem Wege ... Der Dekan war ihr deshalb nicht wohlwollend gesinnt, das wußte sie. Nun bangte ihr für Toni. Diese Priester, diese familienlosen, einsamen Menschen sind oft so rücksichtslos ... Das Kind hatte dringend nach seinem Religionslehrer verlangt; ihm diese Bitte abzuschlagen, war unmöglich gewesen. Wie aber, wenn dieser Priester ein Finsterling wäre? Wenn er das Kind ängstigte, ihm vom Tode vorredete? Das war es, was Paula fürchtete; darum war sie auch selbst gegangen, ihn zu holen ... Sie hatte ihn bitten wollen, die Kleine nicht zu quälen, ihr die Todesgedanken, die Angst vor der Hölle, die das arme, geschwächte Kind bedrückten, auszureden, ... und nun hatte sie nicht den Mut, ihm das zu sagen. Er war ihr fremd. Wer weiß, ob er ihr die Bitte, die im Grunde genommen nichts anderes war als ein Vorschreiben dessen, was er zu tun habe, nicht übel nehmen würde! Er sah zwar weder hart noch finster aus, – aber einem Priester zu diktieren, wie er sich einem Kranken gegenüber zu betragen habe, wäre doch ein außergewöhnliches Wagnis gewesen. Paula zögerte immer noch und wußte nicht, was sie tun sollte.

Da stand das Haus. Nun war es vorbei. Paula öffnete das Tor und bat den Geistlichen einzutreten. Einige Augenblicke kämpfte sie noch mit sich, wollte sprechen; doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Schweigend führte sie den Gast die Treppe hinan nach dem Zimmer, in dem die kleine Kranke lag. Neben dem Bettchen des Kindes stand ein Nachttisch und auf diesem eine Lampe. Das Kind saß aufrecht im Bette, auf der Decke lag ein Gebetbuch, um die abgemagerten Fingerchen hatte Toni die Perlen eines Rosenkranzes geschlungen. Das blasse, veränderte Gesicht des Kindes drückte feierlichen Ernst aus und seine jetzt beinah unheimlich großen Augen leuchteten in fieberhaftem Glanz.

»Da bringe ich Deinen Lehrer,« sagte Paula mit erzwungenem Lächeln.

Toni nickte stumm. Sie wagte nicht zu sprechen, ja kaum zu atmen. Mit scheuer Ehrfurcht blickte sie zu dem Priester auf.

Harteck trug einen Stuhl zu dem Bette, setzte sich und beugte sich auf das Kind herab.

»Warum so ernst?« fragte er und küßte es auf die Stirn. »Bin ich Dir in der kurzen Zeit so fremd geworden?«

»Ich will beichten,« flüsterte die arme Kleine.

»Das kannst Du ja tun, ... aber ohne Furcht. Komm, gib mir die Hand.« Leise entwand er ihren Fingern den Rosenkranz und behielt die kleine Hand in der seinen. »Nun sag, was Du mir zu sagen hast.« Er neigte sich nach vorne und näherte das Ohr den Lippen des Kindes. Toni begann zu flüstern.

Paula stand abseits am Fenster und beobachtete die beiden. Ihre Besorgnis war zu Ende ... Dieser Mann würde ihren Liebling nicht ängstigen, das wußte sie nun. Er hatte das Kind angeschaut, so zärtlich und mitleidig, hatte es so liebevoll geküßt und in einem so sanften Ton zu ihm gesprochen. Nein, von dem war nichts zu befürchten. Zum ersten Mal betrachtete ihn Paula mit Teilnahme und Aufmerksamkeit. Ihr forschender Blick glitt über seine schlanke, schmalschultrige Gestalt, über die mageren Männerhände, in denen die weichen Finger des Kindes ruhten; glitt über sein Haupt mit dem dunklen Haar, aus dem die Tonsur hervorleuchtete, über sein blasses, feines Profil ... Sein Gesicht hatte einen eigentümlich leidenden Ausdruck, der sich jedoch rasch verlor, wenn der Priester sprach oder lächelte; Paula glaubte ein schöneres, gütigeres Lächeln niemals gesehen zu haben. Auf dem Kinn, den Wangen und über dem Munde des Mannes zeigten sich die dunklen Spuren des wegrasierten Bartes. Die starke Gebirgsluft hatte sein Gesicht nicht gerötet, nur stark gebräunt; bloß die Stirn, in die das Haar hing, war sehr bleich; die Nase leicht gebogen; um die Lippen und in den nicht großen, dunklen Augen lag etwas, das auf allerhand schließen ließ ... Dieser Mann mußte schon mancherlei erfahren, erlitten und überwunden haben ... Paula dachte wenigstens so. Wie hatten sie ihn so falsch beurteilen können? Ein so warmes Auge ist doch immer der Widerschein eines warmen Herzens ... Paula begriff jetzt nicht, wie sie von ihm Schlimmes zu erwarten vermocht hatte.

Die Beichte der kleinen Toni war rasch beendet. Das Kind hatte nicht viel zu sagen und der Beichtiger wenig zu ermahnen. Ein paar gütige Lehren erteilte er der Kleinen, gab ihr die Absolution und sprach dann von anderen Dingen: daß sie trachten müsse, bald wieder ganz gesund zu werden, daß sie brav essen und viel schlafen und guten Mutes sein solle, dann werde sie in kurzer Zeit wieder vollkommen hergestellt sein. Er bat Paula hierauf um ein Erzählungsbuch und las dem Kinde einige Geschichten daraus vor, und als er dann bemerkte, daß die Kleine den Kopf müde auf das Kissen sinken ließ, fragte er sie, ob sie schläfrig wäre.

»Nein, o nein,« antwortete das Kind.

»Das werden wir sogleich erproben,« versetzte er. »Verhalte Dich einige Minuten lang ganz ruhig. Wenn Du dann noch nicht eingeschlafen bist, will ich Dir eine neue Geschichte vorlesen. Ist es Dir so recht?«

Sie sagte ja dazu und schloß die Augen. Nach einer kurzen Weile war sie in Schlaf gesunken. Der Priester betrachtete sie, küßte ihre Händchen und stand auf.

»Sie schläft,« sagte er gedämpften Tones zu Paula, ergriff die Lampe und stellte sie auf den Ofen, so daß die Kleine im Halbdunkel lag. Dann grüßte er das junge Mädchen und wollte sich entfernen. Paula machte eine Bewegung nach ihm hin.

»Herr Kooperator ...«

Er stand still. Sie trat auf ihn zu.

»Ich danke Ihnen, ... ich danke Ihnen herzlich,« sagte sie leise und demütig.

Er schaute in ihr bewegtes Gesicht und ihre großen, wundersamen Augen, die ihn wie reuevoll anblickten, und entgegnete:

»Wofür danken Sie mir?«

»Sie waren so gut gegen das Kind ...«

»Das ist doch kein Verdienst, ... ich habe Ihre kleine Schwester sehr lieb.«

Paula senkte die Augen.

»Ich muß Sie auch um Verzeihung bitten,« sagte sie.

»Mich?«

»Ja. Wenn ich jemandem – und wäre es auch nur im Geiste – unrecht tat, quält mich das so lange, bis ich es eingestanden habe. Ich glaubte ... ich fürchtete, daß Sie anders sein, daß Sie Toni ... ängstigen würden, ... manche Priester halten es für ihre Pflicht, kranke Menschen auf den Tod hinzuweisen und machen selbst bei Kindern keine Ausnahme, ... ich habe mich in Ihnen geirrt. Bitte, vergeben Sie mir.«

Er sah vor sich nieder.

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen,« erwiderte er. »Dieses Vorurteil gegen meinen Stand mag ein begründetes sein, ... ich weiß es nicht.« Er schwieg ein paar Augenblicke und Paula stand während der kurzen Stille ziemlich unbehaglich vor ihm; dann sagte er: »Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht. Die Kleine war recht schlimm, wie mir erzählt wurde.«

»Sehr schlimm. Als ich erkannte, daß sie den Scharlach hätte, glaubte ich umsinken zu müssen. Solang man niemand Teuren hat sterben sehen, glaubt man nicht recht an den Tod; man weiß zwar, daß alle Menschen sterben müssen, aber man denkt niemals ernsthaft darüber nach ... Ich jedoch habe schon erfahren, was verlieren heißt. Was Vater und ich ausgestanden haben in der Nacht, wo wir meinten, daß Toni sterben würde, kann ich mit Worten nicht wiedergeben, ... wir weinten nicht, wir standen da wie Bildsäulen und starrten das Kind an, ... es war fürchterlich ...« Sie fuhr mit der Hand über ihre Stirn und warf einen Blick voll Liebe auf die schlafende Kleine. »Gott sei Dank! ich habe sie noch!« murmelte sie dabei und faltete die Hände. Der Priester sah sie mit Rührung an. Bei ihrem Anblick kam ihm unwillkürlich die Gottesmutter in den Sinn. Auch Paula war rein und liebevoll, war Jungfrau und Mutter zugleich ...

»Darf ich Sie wieder holen lassen, wenn Toni abermals nach Ihnen verlangen sollte?« fragte ihn Paula und sah ihm bittend ins Auge.

»Ist dazu erst eine Erlaubnis nötig?« erwiderte er ein wenig gekränkt. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich die Kleine sehr lieb hätte ...«

Nach diesen Worten nahm er Abschied von Paula und verließ sie.

Toni war außer sich, ihn bei ihrem Erwachen nicht mehr zu finden. Nur das Versprechen, daß er morgen wiederkommen würde, vermochte das erregte Kind halbwegs zu beruhigen. Bald darauf kam der Arzt nach Hause und brachte den jungen Schullehrer mit. Dieser wollte sich nach Tonis Befinden erkundigen. Die Kleine behandelte ihn höchst ungnädig. Er sprach so lebhaft, machte so viele Gesten, war so zärtlich gegen sie, – das alles regte sie auf. Dem Vater erzählte sie, daß ihr Religionslehrer dagewesen wäre, welche Mitteilung Herrn Stettner nicht angenehm zu berühren schien.

»Was hatte der Pfaff hier zu suchen?« fragte er Paula, die, über eine Handarbeit gebeugt, am Bette saß.

»Von wem sprechen Sie?« entgegnete Paula, ohne aufzublicken.

»Nun, ... vom Kooperator.«

»Ach so. – Toni begehrte ihn zu sehen.«

»Wird er wiederkommen?«

»Ja. Das Kind will es so haben.«

Er zerdrückte seinen Künstlerhut in den Händen und durchmaß die Stube mit großen Schritten.

»Das gefällt mir nicht,« sagte er, endlich vor Paula stehend bleibend. »Sie sollten das nicht angehen lassen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil« ... er fuhr mit den Fingern durch sein langes Haar ... »weil ich den Umgang mit Priestern für unnütz und schädlich halte ... Toni wird noch eine Betschwester werden.«

Paula mußte lachen. »Lassen Sie doch Ihren Hut in Ruhe,« sagte sie. »Sie werden ihn verderben. Sind Sie vielleicht eifersüchtig?«

»Ja,« antwortete er, trotzig wie ein Kind. »Toni hat diesen – Herrn viel lieber als mich. Das verdrießt mich.«

»Er weiß sie auch besser zu behandeln als Sie, ... er ist so sanft, seine Nähe wirkt so beruhigend ... Das kann man Ihnen nicht nachrühmen.«

»Er ist, mit einem Wort, ein Engel,« sagte der Lehrer bitter und höhnisch.

Paula sah ihn mit ihren ernsten Augen strafend an.

»Sie ärgern sich über alles, was man sagt,« erwiderte sie. »Ich werde künftighin in Ihrer Gesellschaft ganz stumm bleiben.«

Er bat sie um Entschuldigung; er habe es nicht böse gemeint. Sein Gesicht aber blieb finster und er ging sehr bald wieder fort.

Harteck kam in der Tat am nächsten und auch an den folgenden Tagen. Toni hatte darum gebeten und ihrem Wunsche mußte nachgegeben werden. Der Geistliche hielt sich niemals lange auf, höchstens eine Stunde, plauderte mit dem Kinde, erzählte ihm Geschichten oder las ihm vor und brachte ihm täglich etwas: Spielzeug, Naschwerk, Heiligenbildchen oder sonst eine Kleinigkeit. Paula zog sich gewöhnlich in ihre Fensternische zurück, beschäftigte sich mit einer Näherei und horchte auf das, was der Priester und das Kind zusammen sprachen. Sie selbst sagte fast nichts, aber sie nahm im Geiste teil an dem Gespräche, lächelte manchmal, legte die Arbeit in den Schoß und schaute den jungen Priester gedankenvoll an. Einmal fragte sie ihn, ob er jüngere Geschwister hätte.

»Leider nicht,« gab er zur Antwort. »Wenn ich welche besäße und einmal Pfarrer wäre, müßten alle zu mir kommen. Ich bete die Kinder an.«

»Haben Sie Aussicht, bald Pfarrer zu werden?« fragte Paula.

»Nicht die geringste und ich freue mich darüber. Ich bin sehr gern hier.«

Paula sagte nichts darauf, aber auch sie war froh über diese Mitteilung. Wenigstens würde er noch längere Zeit am Orte bleiben.

Sie dachte viel über ihn nach. Gleich allen jenen, die sich wenig mit sich selbst beschäftigen, sann sie gern über die Menschen nach, mit denen sie verkehrte. Über Harteck konnte sie sich noch kein Urteil bilden, denn, wenn er nicht gefragt wurde, sprach er niemals von sich selbst; er besaß überhaupt ein sehr gleichmäßiges Temperament. Paula hätte gern gewußt, ob er sich mit dem Dekan und den übrigen Bewohnern des Pfarrhofes gut vertrage; sie wünschte es seinetwegen; am Ende waren diese die einzigen Menschen, mit denen er vertraulicheren Umgang pflegen durfte. Sie lenkte einmal das Gespräch auf den Dekan, das Fräulein und den Mönch, erhielt jedoch nur ungenügende Auskunft über das, was sie zu wissen begehrte. Der junge Priester sagte bloß, daß er allen diesen Personen noch ziemlich fremd gegenüberstehe und daß es mit der Zeit wohl anders werden würde; aber er urteilte über niemanden, wie er überhaupt höchst selten bei Menschen oder Dingen verweilte, die auch nur im entferntesten an seinen Beruf erinnerten.

Manchmal, wenn Toni ungeduldig fragte, ob denn ihr geistlicher Freund noch immer nicht käme, stellte Paula sich ans Fenster und wartete sein Eintreffen ab. Da bemerkte sie auch mehr als einmal, daß sein Gesicht einen verdüsterten Ausdruck hatte, jenen eigentümlichen, zergrämten Ausdruck, der sich den Zügen derjenigen einzuprägen pflegt, die ein geheim gehaltenes Leid in der Brust tragen. Jedoch wenn er ins Zimmer trat, sie begrüßte, mit ihr und der Kleinen sprach, verlor sich dieser Ausdruck wieder und Harteck sagte auch nie ein Wort, das hätte vermuten lassen, daß er sich nicht glücklich fühlte. – Ob er jemanden liebte? Er hatte doch ein warmes, liebebedürftiges Herz; würde er sonst die kleine Toni so lieb haben können? Wen aber liebte er? Er sprach nie von jemandem, von keinem Freunde, keinem Verwandten. Stand er denn ganz allein? Eines Tages entschloß sich Paula, ihn um seine Familie zu befragen, ob er noch eine hätte und wo sie lebte.

»In Kufstein wohnen meine Leute,« antwortete er. »Mein Vater ist seit langem tot. Aber meine Mutter und Schwester leben noch.«

»Besuchen Sie Ihre Familie manchmal?«

»Sehr selten. Wir sind einander entfremdet. Sehen Sie, Fräulein,« fuhr er nach einer augenblicklichen Stille fort, »diese Entfremdung von der Familie ist eine notwendige Folge der Erziehung, die wir genießen. Ich hatte meine Mutter und besonders meine Schwester sehr lieb, solang ich bei ihnen lebte, und die Trennung vom Hause fiel mir sehr schwer. Ich war trostlos, wenn die Vakanzen, die ich daheim verbrachte, zu Ende waren und ich zurück mußte ins Seminar. Mit den Jahren aber wurde es anders. Die Herzensbildung spielt beim Kleriker insofern eine untergeordnete Rolle, als man ihn im Seminar nichts anderes lehrt, als daß er für die Kirche und deren Interessen zu wirken habe. Wir durften niemals das tun, wozu wir gerade Lust hatten, mußten auf Befehl lernen, lesen, beten, spazierengehen, mußten unsere Neigungen unbeugsamen Gesetzen unterordnen, und bei einer so soldatischen Dressur wird man – wenn auch nicht hart – so doch gleichgültig. Ich fand das Leben im Seminar oft recht schwer und traurig. Mich verlangte allein zu sein, zu träumen, zu schweigen, mich diesem oder jenem meiner Studiengenossen anzuschließen, ... aber allem und jedem setzte sich ein unerbittliches Nein entgegen. Wir durften immer nur scharenweise oder im besten Falle zu dreien ausgehen, damit keine Freundschaft zwischen zweien der Zöglinge entstehe, und an unsere Familie war uns nur selten zu schreiben gestattet; und selbst dann wußten wir nicht, ob nicht unsere Briefe gelesen würden, bevor sie an ihre Adresse abgingen. Auf diese Weise lösen sich langsam alle Bande, die uns an unsere Familie knüpfen, und wir verlernen zu lieben, – im einzelnen wenigstens. Ich erzähle Ihnen das alles nicht, um mich zu beklagen. Es ist ganz in der Ordnung so, – man muß den Priester auf das einsame Leben, das ihm bevorsteht, frühzeitig vorbereiten. Ich wollte mich nur vor Ihnen rechtfertigen darüber, daß ich so gleichgültig von meiner Familie sprach.«

»Ein Gutes bringt eine so strenge Erziehung unfehlbar mit sich,« bemerkte Paula. »Sie lehrt eine sehr schwierige Tugend: die Selbstbeherrschung.«

Da er ihr keine Antwort gab, fragte Paula ablenkend: »Haben Sie unter Ihren Berufsgenossen niemals einen Freund gefunden?«

»O doch!« versetzte er. »Einen wohl: an dem Pfarrort, wo ich lebte, bevor ich hierher versetzt wurde. Er ist noch sehr jung und hat erst vor kurzem die Weihen empfangen. Ich freute mich jedesmal, wenn ich ihn ansah, er ist so jugendfroh und arbeitsfreudig, so eifrig und gutherzig, ... ein prächtiger Mensch, mit einem Worte. Eine Zeitlang war er sehr krank und ich pflegte ihn und das brachte uns einander so nahe. Der arme Junge! Er wollte recht stark scheinen, als ich scheiden mußte, sprach in einem fort und lachte, obwohl Tränen in seinen Augen standen, ... und plötzlich fiel er mir um den Hals und schluchzte: ›Ich kann Dich nicht verlieren! Das ist ja nicht möglich!‹ ... Und ich mußte ihn noch beruhigen und mir war doch selber schwer zumute ...«

Er brach ab, trat zum Fenster hin und blickte zum Himmel auf.

»Es fängt schon wieder zu regnen an,« sagte er. Seine Stimme klang verschleiert. Paula folgte ihm. Sie standen nahe nebeneinander, ihr Kleid streifte das seine. Gern hätte sie ihm etwas Liebreiches, Tröstendes gesagt, ... ihr Blick hing an seinem aufwärts gekehrten, traurigen Gesicht und schüchtern fragte sie: »Kommt er nicht manchmal zu Ihnen oder Sie zu ihm?«

Stumm schüttelte er den Kopf und sah eine Weile trübe vor sich hin. Dann ermannte er sich, strich sich das Haar aus der Stirn und lächelte das junge Mädchen, das ihn noch immer ansah, freundlich an.

»Beunruhigen Sie sich nicht meinetwegen,« sagte er. »Finden und verlieren ist eben Menschenlos und muß getragen werden. Komm her, Toni!« rief er sich umwendend und nahm das Kind, das nunmehr beinahe vollständig gesund war und sich ihnen genähert hatte, auf den Arm. »Du bist jetzt mein kleiner Freund, nicht wahr?«

»Ja, ich und Paula,« sagte Toni. Er lachte und stellte die Kleine wieder auf den Boden. Dabei warf er einen Blick auf Paula, die noch am Fenster stand und mit einem etwas unzufriedenen Gesicht auf die Straße sah. Diese ärgerliche Miene kleidete sie sehr gut. Ihre Wangen waren röter als gewöhnlich und zwischen ihren Brauen lag eine zornige Falte. Sie glättete mit der Hand ihr Haar und strich es hinter die kleinen heißen Ohren zurück, – augenscheinlich wollte sie irgend etwas tun, um dem Blicke des jungen Mannes nicht begegnen zu müssen. Harteck trat an ihre Seite und fragte mit halblauter Stimme: »Weshalb sind Sie so böse? Verdrießt es Sie im Ernste, daß Ihre Schwester Sie für meine Freundin hält?«

»O nein! Das verdrießt mich nicht,« versetzte Paula ohne ihn anzusehen, »wohl aber, daß Toni so unbesonnen schwatzt, ... nicht anders, als ob sie solche und ähnliche Dinge von mir hörte ...«

»Ich bin überzeugt, daß dies nicht der Fall ist,« entgegnete er besänftigend. »Lassen Sie keine Mißstimmung – und wäre es auch nur eine momentane und geringfügige – zwischen uns eintreten, Fräulein Paula. Ich komme sehr gern hierher, hier fühle ich mich wohl und wie zu Hause, ich habe Toni sehr lieb und – auch Sie,« sagte er mit einigem Zögern. »Sie sind die einzigen Menschen im Dorfe, an deren Umgang mir gelegen ist: lassen Sie mir daher die Freude zu glauben, daß auch Sie mir freundlich gesinnt seien ... Ich werde darum noch immer nicht anmaßend werden.«

»Ich habe auch nicht gesagt,« begann Paula, stockte jedoch und blickte nach der Tür. Der Arzt trat ein. Unwillkürlich, ohne etwas dabei zu denken, entfernte sich Harteck einige Schritte weit von Paula; der Arzt begrüßte ihn mit der ihm eigenen Zurückhaltung, reichte Paula, die ihm entgegenging, die Hand und streichelte Tonis Haar. Er und der Priester kannten einander wenig. Um die Stunde, wo Harteck in das Haus kam, war der Arzt meistens in Geschäften abwesend, und außerhalb des Hauses suchte einer den anderen nicht auf.

»Toni muß zu Bett,« sagte der Arzt auf die Uhr blickend. »Es ist schon spät.«

Harteck nahm diese Worte für einen Wink, daß er gehen sollte; er wechselte noch ein paar Reden mit dem Arzte und verabschiedete sich dann. Herr Reinberg begleitete ihn bis an das Tor und kehrte darauf gedankenvollen Antlitzes zu den beiden Mädchen zurück.

Achtes Kapitel

Toni schlief. Wie allabendlich saßen Vater und Tochter, einander gegenüber, am Speisetische, der Arzt mit einem Buche, Paula mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie hatten zu Nacht gegessen und wenig dabei geredet; jetzt schwiegen beide. Endlich legte der Vater das Buch auf den Tisch und stand auf.

»Heute habe ich mit dem Schullehrer gesprochen,« sagte er. »Die Schule kann Montag wieder eröffnet werden.«

»Und Toni?« fragte Paula.

»Sie ist gesund und mag getrost in die Schule gehen. Es sind nun schon zwei Monate her, daß sie erkrankte. Da sie jetzt glücklicherweise wiederhergestellt ist, wäre es an der Zeit, ihren Religionslehrer der Aufgabe, sie zu besuchen, zu entheben. Sie kann ihn künftighin in der Schule sehen und sprechen.«

Paula blickte von ihrer Arbeit auf. Der Arzt sah das Mädchen an und senkte dann die Augen.

»Ich weiß und glaube, daß er die Kleine lieb hat und bloß ihretwegen in unser Haus kommt,« sagte er in seinem sanftesten Tone. »Aber die Besuche müssen wieder ein Ende nehmen. Das Kind ist gesund. Wir haben nunmehr kein Recht, über die Zeit des Herrn Kooperators zu verfügen.«

»Hat wieder jemand auch darüber geschwatzt?« fragte Paula und ihre Lippen zuckten verächtlich.

»Die Leute im Pfarrhof halten sich darüber auf. Du weißt doch, daß der Dekan und ich einander kaum grüßen, ... deshalb mag er es wohl nicht gern sehen, wenn sein Kollege in unser Haus kommt.«

»Von wem hast Du das gehört?«

»Von verschiedenen Personen.«

»Und Du willst, daß ich dem Kooperator sagen soll: Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr. Sie können Ihrer Wege gehen und vergessen, daß wir hier wohnen? Gut.« Sie beugte sich über ihre Arbeit und begann mit großer Hast zu nähen. Selten noch hatte sie so herbe gesprochen ... Der Arzt blickte das junge Mädchen staunend an.

»Ich habe mich schlecht ausgedrückt oder Du verstehst mich absichtlich falsch,« versetzte er. »Es fällt mir nicht ein, irgendeinen Vorwurf gegen Dich oder den Geistlichen zu erheben. Meines kranken Kindes wegen, auf unsere Bitte hin, kam er in unser Haus und wir sind ihm dankbar dafür; aber die Verpflichtung, uns mit ihm zu befreunden, erwächst uns nicht daraus.«

Paula blieb stumm auf diese Worte. Endlich sprach sie, ohne aufzusehen: »Er kommt sehr gern zu uns. Er selbst hat es mir gesagt.«

»Umso mehr Grund, mit ihm zu brechen, mein Kind. Sieh, Paula, als ich vorhin nach Hause kam, schaute ich von der Straße aus zufällig zu Deinem Fenster empor. Du und der Geistliche, Ihr standet nahe beisammen, Du blicktest zu Boden und er auf Dich, – wie eben ein Mann ein junges Mädchen, das ihm gefällt, anzublicken pflegt ...«

»Er hat nie ein Wort zu mir gesagt, das nicht jedermann hätte hören dürfen,« fiel Paula ein. Ihre Finger zitterten, sie legte die Arbeit in den Schoß.

»Das glaube ich gern, weil ich Dich kenne. Aber sei gerecht, Paula. Würde die Welt an einen Freundschaftsbund zwischen einem jungen Mädchen und einem dreißigjährigen Priester glauben?«

»Was liegt an der Welt! Wenn nur ich selbst daran glaube.«

Der Arzt ging, die gefalteten Hände auf dem Rücken, in der Stube auf und ab.

»Daß wir uns über diesen Punkt nicht einigen können!« bemerkte er endlich.

»Wir sind einig,« entgegnete Paula. »Ich werde Deinem Wunsche nachkommen. Mehr verlangst Du wohl nicht.« Sie stand auf. »Aber um eines möchte ich Dich bitten: sag Du ihm, was Du ihm sagen willst, daß er nicht wiederkommen soll oder was es sonst ist ... Gute Nacht.«

Der Vater ging auf sie zu und hielt sie zurück.

»Sollten wir zum erstenmal voneinander gehen, ohne uns verstanden zu haben?« fragte er und zog sie an sich. Sie küßte flüchtig seine Wange und wich seinem Blicke aus. Er ließ sie fahren.

»Gute Nacht, mein Kind,« sagte er. »Du bist heute aufgeregt. Verschlafe diese Angelegenheit und ich bin überzeugt, daß Du morgen anders darüber denken wirst.«

Schweigend entfernte sie sich. Er hatte sie niemals noch so gesehen, – so eigensinnig, heftig und herbe. Hatte er sie beleidigt? Zum erstenmal war eine Meinungsverschiedenheit eines Fremden halber zwischen ihnen eingetreten. Der Arzt hatte die Tochter nicht kränken, sondern sie bloß aufmerksam machen wollen darauf, daß der Verkehr mit dem jungen Priester nicht ewig fortgesetzt werden könnte; auf Widerstand war er durchaus nicht gefaßt gewesen. Paula fühlte sich offenbar verletzt. Gewissermaßen hatte er ihr doch Vorwürfe gemacht, und das mochte sie, die sich schuldlos wußte, beleidigt haben. Daß aber zwischen zwei Menschen, die einander innig lieben, so leicht ein Mißton entstehen könne, war dem Arzt doch nicht recht begreiflich. »Empfindlich sind wir alle,« dachte er, und damit suchte er sich zu trösten.

Am nächsten Tage war davon nicht weiter die Rede. Der Arzt fragte nur: »Wird der Kooperator heute kommen?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete Paula.

»Um welche Stunde kommt er gewöhnlich?«

»Zwischen fünf und sechs Uhr.«

»Dann will ich um diese Zeit zu Hause sein.«

Er hielt Wort, aber derjenige, den er erwartete, traf nicht ein. Hingegen kam der junge Schullehrer, um, wie er sagte, nachzusehen, was seine kleine Schülerin mache.

»Toni ist längst wieder gesund,« sagte Paula zu ihm. »Am Montag wird sie, wie die anderen, die Schule besuchen. Verwöhnen Sie das Kind nicht allzu sehr und stellen Sie Ihre Krankenvisiten von heute ab ein ... Toni glaubt sonst am Ende wirklich, daß sie eine wichtige Persönlichkeit sei, um deren Befinden sich alle Welt kümmert.«

»Aber ich komme doch nicht bloß Tonis wegen hierher,« stammelte der junge Mann bestürzt.

Paulas Augen fixierten ihn kalt und mitleidlos, als ob sie sagen wollten: »Eben darum will ich, daß Du wegbleibst!« Und ohne zu antworten, ließ sie ihn stehen und ging aus dem Zimmer.

Der arme Lehrer war so außer sich über diese Behandlung, daß er, unfähig ein Wort zu sprechen, den Arzt stumm grüßte und sich hastig entfernte.

»Warum warst Du gegen Herrn Stettner so unfreundlich?« fragte der Arzt, als Paula wieder in das Zimmer trat.

»Ich war nicht unfreundlich gegen ihn,« erwiderte das junge Mädchen und schaute dem Vater mit festem Blick in die Augen. »Ich sage nur: gleiches Recht für alle. Wenn der eine aus Schicklichkeitsrücksichten unser Haus nicht länger betreten darf, muß es dem anderen ebenfalls verboten werden. Ich will kein Gerede wachrufen.«

Der Arzt wußte darauf nichts zu entgegnen. Paula war noch immer gereizt oder gekränkt ... Er verstand das Mädchen nicht.

Erst am dritten Tage fand Harteck sich in dem Hause ein. Er war ein wenig erstaunt, vom Arzte allein empfangen zu werden und fragte, wo Toni wäre. Nach Paula fragte er nicht. Der Arzt antwortete, daß die Mädchen im Garten wären; mit gesenkten Augen und zögernder Stimme fügte er hinzu, wie dankbar er Harteck wäre für seine Güte gegen das Kind, daß er jedoch diese Güte nicht länger mißbrauchen wolle, indem Toni wieder gesund wäre und der Geistliche ohne Zweifel Besseres zu tun hätte, als sich mit einem Kinde zu plagen ... Er wußte selbst nicht, warum es ihm so schwer fiel, diese Rede vorzubringen. Der junge Priester erhob sich und griff nach seinem Hute. Er hatte verstanden; nach den ersten Worten schon: man wünschte hier sein Kommen nicht weiter.

»Ich freue mich, daß die Kleine gesund ist und meiner nicht mehr bedarf,« sagte er. Seine Stimme klang vielleicht ein wenig leiser als sonst, indessen vollkommen ruhig. Der Arzt erhob den Blick zu dem Antlitz des Sprechers. Hartecks Augen schauten ernst in die seinen und seine Lippen umspielte ein eigentümliches Lächeln. Befangen sagte der Arzt: »Wenn ich Ihnen jemals einen Gegendienst erweisen kann ...«

Der Geistliche schüttelte das Haupt.

»Was ich Ihrem Kinde tun konnte, ist von Herzen gern geschehen,« sagte er.

»Aber danken darf ich Ihnen doch?« fragte der Arzt und reichte ihm die Hand. Harteck ergriff sie, schüttelte sie herzlich und ging mit freundlichem Gruße davon. Auf der Treppe angelangt, blickte er zurück. Der Arzt war ihm nicht gefolgt. Er legte die Hand auf das Treppengeländer und ging langsamen Schrittes die Stufen hinab ... Darauf war er nicht vorbereitet gewesen; hatte nicht im Traume daran gedacht. Er tat einen tiefen Atemzug, der wie ein unterdrückter Seufzer klang.

Als er die Straße erreicht hatte und an dem Garten vorbei kam, hemmte er den Schritt und spähte hinein. Toni erblickte er nicht, wohl aber Paula. Sie stand auf dem Kiesweg, mit unterschlagenen Armen, gesenktem Kopfe, zusammengezogenen Brauen; ihre Fußspitze spielte mit den kleinen Steinen, die auf dem Wege lagen, und ihre Zähne zerbissen einen Grashalm. Sie mochte den unverwandten Blick des Priesters fühlen, denn sie erhob plötzlich das Haupt und schaute nach ihm hin. Ein wenig verwirrt lüftete er den Hut und wollte sich entfernen. Sie aber kam rasch auf ihn zu, stützte sich mit beiden Armen auf den Gartenzaun, der sie voneinander trennte, und sah nachdenklich vor sich nieder. Eine Zeitlang sprachen beide nichts. Paula warf den Grashalm weg und riß die welken Blätter von den Zweigen ab, die sich um das Gartengeländer schlangen.

»Ihr Vater hat mir den Abschied gegeben,« sagte Harteck endlich. »Geschah das auf Ihren Wunsch?«

Sie machte eine verneinende Kopfbewegung. Er legte leise die Hand auf die des jungen Mädchens.

»Es tut mir sehr leid, daß es so gekommen ist,« sagte er. »Die Zeit, die ich bei Ihnen zubrachte, war für mich die schönste im ganzen Tag. Ich habe mich sehr wohl in Ihrem Hause gefühlt ... Aber Ihr Vater hat recht. Mein Prinzipal sah diesen Umgang mit mißliebigen Augen, und die Welt, die alles falsch und hämisch beurteilt, mag auch daran zu mäkeln gefunden haben. Fügen wir uns denn dem Gesetze der Notwendigkeit.«

Er griff nach ihrer Hand. »Leben Sie wohl, liebes Fräulein.«

»Kann ich nicht irgend etwas tun, um Ihnen zu beweisen, wie dankbar ich Ihnen bin, ... Tonis wegen?« fragte Paula mit stockender Stimme.

»O ja,« antwortete er. »Sie können sehr viel für mich tun; aber nicht, um mir zu danken, sondern um mir zu zeigen, daß Sie mir eine Freude bereiten wollen, wenn ich Sie darum bitte.«

»Was kann ich denn tun?«

»Singen Sie in der Kirche, so oft ich Hochamt halte ... Wollen Sie mir das versprechen?«

»Ja,« sagte Paula.

»Ich danke Ihnen.« Er beugte sich auf ihre Hand herab, als ob er sie küssen wollte. Vielleicht fiel ihm aber dabei ein, daß sich dies mit seinem Priesterberuf nicht recht vertragen würde; er gab die Hand des Mädchens frei, grüßte und entfernte sich. Paula schaute ihm nicht nach; schweigend stand sie am Geländer, pflückte ein Blatt nach dem anderen ab und ließ sie auf die Erde fallen. Erst als sie sich beim Namen rufen hörte, machte sie eine Bewegung wie jemand, der aus einem Traum emporfährt, strich sich mit der Hand über die Stirn und ging langsam in das Haus hinein.

Ebenso langsamen Schrittes war Harteck zum Pfarrhof zurückgekehrt. Er verfügte sich in den Garten, setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, unter den Lindenbaum, faltete die Hände im Schoße und zeichnete mit dem Fuße Figuren in den Sand. Entsagen, wieder entsagen; das alte, wohlbekannte Lied, das er so oft schon hatte singen hören. Daß er sich noch nicht daran gewöhnt hatte, daß er noch immer die Kraft und den Mut besaß, sich neuen Menschen anzuschließen, Pläne zu machen; daß er nicht lang schon jede Hoffnung auf Erfüllung großer und kleiner Wünsche aufgegeben hatte! Er wunderte sich über die Zähigkeit seines Herzens.

Herbst war es geworden. Der traurige November hielt seinen Einzug. Entlaubt standen die Bäume da und auf der Erde lagen die dürren Blätter. Von Zeit zu Zeit erhob sich ein Windstoß, wirbelte die Blätter auf und spielte mit den Haaren des jungen Priesters, der, ungeachtet der frostigen Luft, mit unbedecktem Kopfe dasaß. Er dachte an Paula. Er hatte sich gewöhnt an sie und sie sich an ihn, und nun war wieder alles vorbei und der schöne, harmonische Verkehr hatte ein Ende. Wie sie ihn angesehen hatte, – so ernst und kummervoll, – es tat ihr wie ihm wehe, daß es so gekommen war, – vielleicht bloß seinetwegen. Sie wußte ja, wie einsam er lebte, wie er sich sehnte nach Mitgefühl und Freundschaft; sie wußte, was sie ihm galt, und nun wird Tag um Tag verstreichen und er wird sie nicht sprechen, vielleicht nicht einmal sehen. Ja, dieses schwarze Kleid und die priesterliche Tonsur, – die erforderten schwere Opfer; die hatten ihm schon viel gekostet, – unsäglich viel.

Seit er das Haus des Arztes besuchte, hatte er den Rest von Sympathie, den er im Pfarrhof noch genossen, eingebüßt. Der Dekan sah ihn kaum an, und wenn er in Hartecks Gegenwart den Mund öffnete, geschah es bloß, um ihn zu tadeln oder sich in beißenden Anspielungen zu ergehen. Fräulein Aurelie, die er nur bei den Mahlzeiten sah, saß ihm stets so steif gegenüber, als ob sie ein Lineal verschluckt hätte, rümpfte beständig die Nase, und wenn er es wagte, das Wort an sie zu richten, antwortete sie entweder gar nicht oder in schnippischem, hochmütigem Tone. Der Mönch ging ihm aus dem Wege, und die Geistlichen, die dann und wann zum Besuch kamen, behandelten ihn mit kühler Zurückhaltung. Die Briefe seiner Mutter enthielten ebenfalls nichts als Tadel und Ermahnungen. Er wußte, daß die alte Frau mit jedem seiner Vorgesetzten in Briefwechsel stand und sich genauen Bericht über seine Aufführung erstatten ließ; sie war von allem, was er tat, unterrichtet, kannte sein unglückliches Verhältnis mit jenem Bauernmädchen und kam selbst jetzt noch, wo es doch so lang schon vorüber, manchmal darauf zurück. Er hatte Mutter und Schwester seit zwei Jahren nicht gesehen. Zuzeiten erfaßte ihn eine Art von Verlangen nach einem Wiedersehen, – es war dies eine alte Gewohnheit aus den Kinder- und Jugendtagen. Aber er brauchte sich die Mutter bloß vorzustellen und die Sehnsucht nach ihr schlug in erkältende Furcht um. Sie würde von jenem Mädchen sprechen, an alte, mühsam vergessene Geschichten rühren, mit erbarmungsloser Hand vernarbte Wunden aufreißen ... Sie wußte nichts von Schonung, hatte nie davon gewußt. Besser war es für ihn und sie, wenn Berge zwischen ihnen lagen und sie voneinander trennten. Vielleicht, wenn Mutter oder Schwester ihm geschrieben hätten, daß sie sich nach ihm sehnten, daß er zu ihnen kommen möchte, würde er trotz alledem zu ihnen geeilt sein. Das aber schrieben sie ihm nicht. Die Mutter war unzufrieden mit ihm und der Schwester war er gleichgültig, und so schob er denn den Plan, die Seinen zu besuchen, immer wieder auf. Nach dem jungen Priester, mit dem er sich so innig befreundet hatte, zog es ihn oft mit unwiderstehlicher Gewalt hin. Jedoch eine abergläubische Furcht hielt ihn ab, den Freund zu besuchen. Harteck war bei allen seinen Vorgesetzten schlecht angeschrieben, galt für einen unverwendbaren, nachlässigen Priester, – Gott weiß warum! Er gab sich doch redlich Mühe, seinen Pflichten so gut wie möglich nachzukommen; aber es war, als ob seine Stirn ein Brandmal trüge, als ob er gezeichnet wäre. – Alle betrachteten ihn mit mißtrauischen Augen und wichen vor ihm zurück. Deshalb fürchtete er, daß dem jüngeren Freunde ein Verkehr mit einem solchen Manne in seiner Laufbahn schaden könnte, und das wollte er verhüten. Er hatte über das Mädchen, das mit Liebe an ihm gehangen, schweres Leid gebracht; er wollte an dem einzigen Freunde nicht ähnliches erleben.

So verstrichen denn seine Tage neuerdings in reizloser Monotonie. Dem Herbste folgte der Winter; er brach jählings herein und hielt einen häßlichen Einzug. Ein eisiger Nordwind blies beinahe ununterbrochen; schwere, undurchdringliche Nebelmassen hüllten die Berge ein und über der Erde wölbte sich ein grauer, trüber Himmel. Die Straßen, auf denen halb zerflossener Schnee lag, waren kaum gangbar. Harteck war kein kräftiger Mensch, aber er tat alles, um sich abzuhärten und wagte sich bei jedem Wetter in das Freie. Stundenlang streiften er und sein Hund auf den Straßen umher, Cäsar jagte in großen Sätzen voraus und der Geistliche folgte ihm mit raschen Schritten. Manchmal stand der Herr still, hustete und drückte das Taschentuch an die feuchte Stirn und der Hund sah ihn dann fragend an ... »Komm nur! Mir ist nichts,« sagte dann Harteck gewöhnlich, und sie gingen wieder weiter.

Auf das Hochamt am Sonntag freute sich der Priester von einer Woche zur anderen. Paula hielt Wort. Sie sang an allen Sonn- und Feiertagen, auch wenn nicht an Harteck die Reihe war, die hohe Messe zu zelebrieren; sie wußte, daß er sich trotzdem in der Kirche befand, und vom Chor aus sah sie ihn links vom Altar auf einem Betschemel knieen, vor sich ein Brevier, in dem er selten las. Meistens stellte er die Arme auf die Brüstung und barg das Gesicht in die verschlungenen Finger ... Sie wußte dann, daß er ihrem Gesange lauschte und sich daran erquickte und sie sang mit Begeisterung ... Von Zeit zu Zeit begegneten sie einander auf der Straße, vor der Kirche oder im Dorfe; dann tauschten sie einen Gruß aus, wechselten im Vorübergehen ein paar Worte miteinander und gingen, ohne jemals den Schritt zu hemmen, ihre Wege. Zu Hause sprach Toni oft von ihrem Religionslehrer, was er gesagt, wen er gelobt, wen getadelt hätte ... Paula hörte ihr schweigend zu und sah die kleine Schwester manchmal von der Seite an: etwas wie Neid lag dann in ihrem Blick. Das törichte Kind sah ihn so oft, sah ihn täglich, hörte ihn sprechen und sprach mit ihm, plauderte harmlos davon und verstand nicht, was der dunkle Blick im Auge der großen Schwester sagen wollte. Äußerlich war Paula beinahe unverändert; nach wie vor erfüllte sie ihre hausmütterlichen Pflichten mit großer Pünktlichkeit; das Haus war so gut bestellt wie ehedem: der Vater und Toni konnten sich über keinerlei Vernachlässigung beklagen. Aber dem schärfer blickenden Manne war stets zumute, als ob ein Schatten zwischen ihm und der Tochter stünde. Ernst war sie immer gewesen; das war eine natürliche Folge ihres Lebens und Charakters; aber sie war nicht mehr so hingebungsvoll, wie sie es einstens gewesen. Eine gewisse Herbheit klang aus allem, was sie sagte; sie war zerstreut, ließ manchmal ihre Handarbeit oder ihr Buch in den Schoß fallen und versank in Nachdenken; dann zogen ihre Brauen sich zusammen und um ihre Lippen trat ein trotziger, schier feindseliger Zug, und wenn der Vater, unbemerkt von ihr, sie längere Zeit beobachtet hatte und sie dann unvermutet ansprach, erschrak sie und schaute ihn an, ... nicht verwirrt oder furchtsam, sondern mit zürnendem Blick, der wohl bedeuten mochte: Laß mich doch träumen! Mißgönnst Du mir sogar dieses karge Glück!? – Er war sich keiner Schuld bewußt; er hatte nur getan, was er für Recht gehalten hatte; im Dorfe war über das häufige Kommen des Priesters geschwatzt worden, er hatte dem Gerede ein Ende setzen wollen, – weiter nichts. Hatte er ahnen können, daß Paula, seine kalte, stolze Tochter, die allen Männern gegenüber schrankenlose Gleichgültigkeit bewiesen hatte, im geheimen schon so sehr an diesem Geistlichen hing? Und wenn er es gewußt hätte: würde es dann nicht um so mehr seine Pflicht gewesen sein, sie aus dieser Gefahr zu erretten? Ungerechtes, verblendetes Mädchen! Er meinte es gut und treu mit ihr und sie – behandelte ihn nicht anders, als ob er ihr schweres Unrecht zugefügt hätte. Wenn sie lieber noch gemurrt, wenn sie Vertrauen gezeigt hätte! Aber sie blieb verschlossen und unzugänglich, wich seinen schüchternen Anfragen eigensinnig aus und machte dadurch eine Verständigung zur Unmöglichkeit. Er ließ sie ungern allein; nicht, weil er für sie gefürchtet hätte: er wußte, daß sie brav war. Aber er fürchtete sich vor ihrer Einsamkeit; sie sollte und durfte nicht grübeln. Oft forderte er sie und Toni auf, ihn auf seinen Fahrten in die umliegenden Dörfer zu begleiten, und sie saßen dann beisammen in dem kleinen Wagen, auf dem breiten Ledersitz, Toni durfte manchmal das Pferd lenken und lachte fröhlich ... Das Kind war die einzig Glückliche von den dreien. Paula achtete nicht wie sonst auf die Kleine, sondern spähte angestrengt umher, als ob sie jemanden zu erblicken wünschte ... Wenn sich von weitem eine schwarzgekleidete Gestalt zeigte, erblaßte sie, zog den Hut ins Gesicht und drückte sich fest an die kleine Schwester. Aber demjenigen, den sie zu sehen hoffte oder fürchtete, begegnete sie auf ihren Fahrten niemals.

Manchmal besuchten sie auch das naheliegende Städtchen; dort wurden im Winter allerhand Lustbarkeiten veranstaltet, Konzerte, Theatervorstellungen, Tanzunterhaltungen. Der Arzt war mit der Gesellschaft dort gut bekannt und er drang darauf, daß jeder Einladung, die ihm aus dem Städtchen zukam, Folge geleistet werde. Paula hatte weder etwas dafür noch dagegen. Sie begleitete den Vater, beteiligte sich an allem, und wenn der Arzt sie beim Nachhausefahren fragte, wie sie sich unterhalten hätte, antwortete sie gewöhnlich: »Es war sehr hübsch, ich habe mich gut unterhalten.« Bei Gott! er würde vorgezogen haben, wenn sie gesagt hätte: »Vater, ich möchte viel lieber mit Dir zu Hause bleiben und mich an Deinem Herzen ausweinen,« anstatt jene kalte, immer gleichlautende Antwort von ihren Lippen zu vernehmen.

Daß ein Dorf so klein ist! Daß keines dem andern entfliehen kann! Daß ewig eines vom anderen hören muß! Wie ist es da möglich, zu vergessen!? In seinen mutlosesten Augenblicken war der Arzt oft nahe daran, zum Dekan zu gehen und ihn zu bitten, die Versetzung dieses – Menschen zu erwirken ... Aber das hieße ja die Tochter bloßstellen, ihren Ruf unwiederbringlich untergraben. Nein, das konnte er nicht tun. Er mußte diesem stummen, im verborgenen wühlenden Unheil schweigend zusehen, mußte tatlos zusehen, wie es immer weitere Kreise zog und das Glück seines Hauses langsam untergrub.

Neuntes Kapitel

Weihnachten stand vor der Tür. Endlich war echte Winterkälte eingetreten und überall glitzerte fester Schnee, auf den Bergen, den Bäumen, den Dächern. Nachmittags, wenn die blasse Dezembersonne ihre kühlen Strahlen zur Erde sandte, ging Paula mit Toni ins Freie. Sie verließen das Dorf und schlenderten die Heerstraße entlang, und Toni, die Wangen von der Kälte gerötet, formte Schneeballen und bewarf damit die Bäume. Einmal bat sie die Schwester, einen Schneemann bilden zu dürfen, und Paula ließ dem Kinde die Freude, setzte sich auf einen Steinhaufen und schaute zu, wie Toni emsig Schnee zusammentrug und mit den kleinen, von der Kälte roten Händen einen Schneemann zu kneten begann. Plötzlich unterbrach sich das Kind, einen leisen Schrei ausstoßend, in seiner Arbeit; ein großer, schwarzer Hund hatte sich von hinten der Kleinen genähert und war an sie angerannt. Seine Schnauze wühlte im Schnee.

»Cäsar!« rief Toni, ihn erkennend, »Cäsar!« und wollte den Hund liebkosen. Paula aber riß sie mit heftiger Gebärde an sich. »Sei still!« raunte sie ihr zu und spähte dabei unruhigen Blickes umher. Wohin sich verbergen? An eine Flucht war nicht zu denken; nirgends ein Baum, ein Haus, eine Hecke, bloß die kahle, weit übersehbare Landstraße. Der Mann, der in geraumer Entfernung dem Hunde folgte, mußte, wenn er das Haupt erhob, sie beide erblicken. Aber einstweilen hielt er den Kopf gesenkt und schien in Gedanken verloren: vielleicht, daß er, ohne sie zu bemerken, an ihnen vorbeigehen würde ... Nur mußte das Kind sich ganz ruhig verhalten. Paula zog die kleine Schwester eng an sich. »Sei recht still!« gebot sie noch einmal. Sie atmete rasch, ihr Herz schlug bis zum Halse hinauf ... Die schwarze Gestalt kam näher und näher. Jetzt hob der Geistliche den Kopf in die Höhe und pfiff dem Hunde ... Hatte er sie gesehen? ... Er mußte wohl; Paula sah starren Blickes vor sich hin; der gefürchtete und ersehnte Augenblick war gekommen. »Guten Tag,« sprach eine wohlbekannte Stimme, das junge Mädchen schlug die Augen auf und sah Georg Harteck vor sich stehen.

»Sie werden sich erkälten, wenn Sie so ruhig dasitzen,« sagte er. »Sie sind ganz blaß.«

Paula blieb stumm. Ihre Blässe rührte nicht von der Kälte her, – das wußte sie. Er schien auf Antwort zu warten, und da keine erfolgte, machte er Miene, seinen Weg fortzusetzen.

»Wohin gehen Sie?« fragte Paula mit Anstrengung.

»Ich habe kein eigentliches Ziel ... Komm her zu mir, Cäsar!« sagte er zu dem Hunde, der die Kleider der Mädchen beroch.

»Ach, lassen Sie ihn!« bat Toni und faßte das Tier am Halsband. »Er beißt doch nicht?«

»O nein. Wenn Du ihn glücklich machen willst, dann laß ihn Steine apportieren. Das ist seine Passion.«

Toni las einen Stein auf und schleuderte ihn so weit sie konnte. Der Hund stieß ein freudiges Gebell aus, rannte dem Steine nach, brachte ihn zurück und legte ihn vor Tonis Füße. Dann stellte er sich erwartungsvoll vor das Kind hin, scharrte mit den Hinterpfoten und bellte abermals. Toni verstand ihn und lief, den Stein hoch in die Luft haltend, davon; der Hund folgte ihr mit großen Sprüngen.

Paula und Harteck blickten den beiden eine Weile nach.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der Priester endlich. »Wir sehen einander so selten.«

»Sehr selten. Mir geht es gut. Und Ihnen? Sie husten, wie ich höre.«

»Das hat nichts zu bedeuten. In der rauhen Jahreszeit huste ich immer.«

Sie schaute rasch zu ihm auf. »Und ängstigt Sie das nicht?«

»Weshalb? Ich bin daran gewöhnt.«

Paula blickte wieder zur Erde. »Sind Sie schwach auf der Brust?« fragte sie.

»Aus Ihnen spricht die Tochter des Arztes,« entgegnete er lachend. »Ich habe allerdings empfindliche Lungen. Das ist ein Erbteil meines Vaters.«

»Ist Ihr Vater schon lange tot?«

»Seit zwanzig Jahren.«

»War er ein guter Mann? Hatten Sie ihn lieb?«

»Ich glaube, daß er ein gutmütiger Mensch war, ... wenigstens ließ er jedermann seinen eigenen Weg wandeln.«

»Das ist viel ... Wenige Eltern können sich entschließen, ihren Kindern volle Freiheit zu gewähren, und wenn ich etwas verabscheue, dann ist es jede Art von Tyrannei. Hier, in unserem Dorfe, begegnet man ihr häufig ... Eltern zwingen ihre Töchter zu einer ihnen passend scheinenden Ehe und ziehen dabei das Glück der Kinder nicht im entferntesten in Betracht, ... das ist Nebensache. Wenn nur der Bräutigam die nötigen Äcker und Wiesen besitzt! ... Das ist doch ein Verbrechen, ... oder nicht?«

»Mindestens ist es eine Vermessenheit, das Schicksal anderer spielen zu wollen. Wie aber denken Sie von den Menschen, die solchem Zwange gehorchen? Die gelten in Ihren Augen wohl für Feiglinge?« – Er hatte ganz ruhig gesprochen, ... dennoch fühlte Paula, daß diese Frage nicht allgemein, daß sie persönlich gemeint war.

»Das kommt auf die Umstände an,« erwiderte sie langsam und stand auf. »Mir ist kalt. Ich will mit Toni nach Hause gehen.«

»Ach! Bleiben Sie noch!« bat er sie zurückhaltend. »Sehen Sie, wie Ihr Schwesterchen sich vergnügt!«

Sie sagte weder Ja noch Nein auf seine Aufforderung, aber sie blieb. Sie blieb ja so gern bei ihm, hätte ihn so gern vieles gefragt und ihm mancherlei gesagt, ... aber ihr Vater, die Leute ... Wie ein Liebespaar, das ein Stelldichein verabredet hat, standen sie nebeneinander ... Wenn jemand sie so sähe! Sie drückte den Muff an Kinn und Mund und blickte starr auf den Schnee.

»Wollen wir nicht ein wenig auf und ab gehen?« fragte der Priester. »Ihre Blässe beunruhigt mich. Ich fürchte, daß Sie sich erkältet haben.«

Sie schüttelte den Kopf, fügte sich jedoch seinem Vorschlag. Langsam wandelten sie die Straße auf und nieder.

»Ich bin immer gesund,« bemerkte Paula. »Vater hat uns frühe an Abhärtungen aller Art gewöhnt.«

»Ihr Vater scheint ein vortrefflicher Mann zu sein,« sagte Harteck.

»Ja, das ist er; wie geschaffen zu dem Berufe, den er sich erwählt hat. Wenn ich ein Mann wäre, möchte ich Arzt sein oder Priester ... Diese beiden haben den edelsten und aufopferungsvollsten Beruf auf Erden.«

Harteck ließ den Kopf auf die Brust sinken und sagte nichts. Paula hingegen fuhr mit bewegter Stimme fort: »Wenn ich in der Kirche bin, ergreift es mich oft wunderbar. Unser Kult ist so schön, so reich, schmeichelt allen Sinnen und spricht zum Herzen ... Ich meine, daß der ungläubigste Mensch erschüttert werden müßte, wenn er einem feierlichen katholischen Gottesdienste beiwohnte. Am Altar zu stehen, hinter sich die andachtsvolle Menge, dazu das Orgelspiel, der Gesang auf dem Chor und der Weihrauchduft: katholischer Priester zu sein ist eine hohe und herrliche Aufgabe. Die ganze Gemeinde ist seine Familie, er kann bessern, veredeln, aufrichten, wenn er seinen Beruf mit dem Herzen ausübt, ... er kann unsäglich viel Gutes tun in seinem Dorfe, ... und dieser Gedanke muß beruhigend und beglückend wirken, muß über vieles hinweghelfen ...«

Noch immer blieb Harteck stumm. Weshalb sagte sie ihm das, ihm, einem Priester? Wollte sie ihn trösten, ihn versöhnen mit dem Lose, das ihm zugefallen war? Gutes Mädchen! Das alles hatte er sich schon tausende Male vorgesagt, ohne daß es je ein Echo gefunden hätte in seinem Herzen.

»Warum sind Sie nicht meine Schwester!« sagte er plötzlich, – fast unwillkürlich.

»Ich würde mich wenigstens bemühen, Ihnen etwas zu sein,« antwortete Paula mit dumpfer Stimme. »Wir würden uns gut vertragen, ... Sie, Vater, Toni und ich« ... Sie brach ab und wendete das Haupt zur Seite. Der Priester biß sich in die Lippe, um den Seufzer, der sich seinem Herzen abrang, zurückzudrängen. Beide konnten eine Weile kein Wort hervorbringen. Endlich fragte Harteck mit erzwungener Fassung: »Haben Sie schon Vorbereitungen für Weihnachten getroffen?«

»Ja. Die Geschenke für Vater und Toni liegen bereit. Werden Sie die Feiertage hier oder bei den Ihren verleben?«

»Ich bleibe hier. Zu Weihnachten gibt es in der Kirche viel zu tun, da kann ich mich nicht entfernen. Aber ich werde an meine Leute kleine Geschenke senden, um sie an mich zu erinnern.«

»Beschenkt man Sie ebenfalls?«

»Ja. An solchen äußerlichen Aufmerksamkeiten läßt es meine Familie niemals fehlen.«

»Daß Ihre Mutter und Schwester Sie nicht abgöttisch lieben, begreife ich nicht,« sagte Paula und eine dunkle Röte flammte in ihren Wangen auf. »Sie sind ja so gut.«

»Ich weiß nicht, ob ich gut bin,« entgegnete er, das Mädchen betrachtend, das die Erregung seltsam verschönte. »Nicht jedermann beurteilt mich so nachsichtig, wie Sie es tun.«

Sie errötete noch tiefer und senkte vor seinem Blick die Augen. Er schaute sie noch immer an.

»Es ist spät,« sagte Paula hastig. »Wir müssen fort, ... wahrhaftig ... Toni, komm!«

»Gleich!« antwortete das Kind aus der Ferne.

»Bevor ich gehe, habe ich Ihnen noch etwas zu sagen, Sie um etwas zu bitten,« sprach Paula rasch und leise.

»Und das wäre?«

»Aber Sie dürfen mich nicht mißverstehen, dürfen nicht böse werden ...«

»Wie könnte ich? Es macht mich ja glücklich, wenn Sie irgendeinen Dienst von mir verlangen.«

Paula holte schwer Atem und sagte mühsam: »Geloben Sie mir, daß Sie mich kein zweites Mal ansprechen werden, wenn wir einander auf der Straße begegnen sollten, ... es geht doch nicht an, ... mein Vater will es nicht haben.«

In seinen Zügen prägte sich peinliche Enttäuschung aus; aber ohne ein Wort zu erwidern, neigte er das Haupt. Paula faßte Toni, die herzugelaufen war, an der Hand, nickte dem Priester einen stummen Gruß zu, und sie und das Kind entfernten sich mit eiligen Schritten. Paula ging so rasch, daß Toni Mühe hatte, ihr zu folgen. Sie zupfte die Schwester am Kleide.

»Warum sind wir nicht länger geblieben, Paula?«

»Weil mir kalt war. Schau nicht zurück und komm! Der fremde Hund geht Dich nichts an.«

Eingeschüchtert trippelte das Kind neben der großen Schwester einher. In so strengem Tone hatte Paula noch niemals zu ihm gesprochen. »Bist Du böse?« fragte es kleinlaut.

»Nein. Aber laß mich jetzt in Ruhe.«

Sie langten im Dorfe an und kamen an dem Pfarrhof vorbei. Fräulein Aurelie stand hinter einem der Fenster und sah hämischen Blickes auf das Schwesternpaar herab. »Sie kommen aus derselben Richtung, die der ehrenwerte Herr Kooperator genommen hat,« dachte Aurelie. »Hm! ... Wir wollen einmal abwarten, ob dieser Herr ihnen nicht in Bälde folgen wird ...«

Ihre Vermutung bestätigte sich. Nach kaum einer Viertelstunde traf Harteck im Pfarrhof ein. Aurelie nickte befriedigt und begab sich schnurstracks zu ihrem Oheim.

»Ich habe mit Dir zu sprechen, Onkelchen,« sagte sie mit geheimnisvoller Miene.

»Was gibt es denn?« fragte der Dekan. Seit einiger Zeit hatte seine Stimmung umgeschlagen. Die Bauern krochen zu Kreuze. Die Kirche war an jedem Sonn- und Feiertag überfüllt, die Wallfahrten zahlreich besucht und dem Opferstock flossen reichliche Gaben zu. Diese »Kerle« wollten eine Versöhnung herbeiführen. Der Herr Dekan spielte zwar äußerlich noch den Beleidigten, im Innern aber dachte er schon friedlicher: er hatte die Absicht, demnächst eine ernste, ermahnende und gleichzeitig milde Predigt zu halten.

»Ich habe eine wichtige Entdeckung gemacht,« sprach Aurelie weiter. »Ich glaube nicht irre zu gehen, wenn ich die Behauptung aufstelle, daß Dein Kooperator und Fräulein Paula Reinberg in zärtlichen Beziehungen zueinander stehen. Soeben haben sie auf der Heerstraße ein Rendezvous gehabt.«

Der Dekan zog die Augenbrauen in die Höhe; seine feisten Wangen wackelten.

»Bist Du dessen gewiß?« fragte er.

»So gewiß wie meiner selbst. Das ist doch eine Schande und eine Schmach!«

»Wenn es so ist, wie Du sagst, müßte ich allerdings ein ernstes Wort mit diesem Herrn sprechen. Aber in solchen Dingen heißt es vorsichtig sein.«

Das Fräulein nickte. Sie hatte die Absicht gehabt, im Herbst nach Wien zurückzukehren, ihren Entschluß jedoch geändert. Auf dem Lande war es so still und angenehm, kein Kindergeschrei, keine Stiefmutter, die ein schiefes Gesicht zieht, wenn man, anstatt zu arbeiten, einen Roman liest ... Außerdem verlangte die Familie nicht nach ihr. In jedem Briefe hieß es: Bleib noch auf dem Lande, die Luft wird Dir gut tun ... Nun! Sie sollten ihren Willen haben. Der Oheim ließ ihr völlige Freiheit, sie verbrachte den Tag in süßem Nichtstun, aß vortrefflich und niemand störte sie; sie durfte auch spionieren und kleine Kabalen anzetteln ... Das lag zwar nicht in ihrer Natur und sie würde es sicherlich unterlassen haben, wenn Georg Harteck weniger geschmacklos gewesen wäre. Sie würde ihn – sollte man's glauben? – mit ihrer Freundschaft beglückt, ihn auf seinen Spaziergängen begleitet und ihn durch ihr großstädtisches Geplauder amüsiert haben, – alles in Anstand und Ehren, natürlich! Aber er hatte nicht gewollt. Dieser Narr! Dieser Geck! Sie würde ihm zu Weihnachten eine eigenhändig verfertigte Stickerei überreicht haben, ... aber so, wie die Dinge standen, war die Stickerei unvollendet geblieben. »Wahrhaftig! Dieser Mensch ist sein eigener Feind!« dachte das Fräulein, das alles überlegend.

»Was wirst Du in dieser Angelegenheit tun, Onkel?« fragte sie scheinbar gleichgültig.

»Das weiß ich noch nicht.« Er ging zur Tür hin und öffnete sie. »Heda! Uschei!« rief er laut.

»Was gibt's?« scholl es von unten herauf.

»Ist der Pater zu Hause?«

»Ja.«

»Ich lasse ihn bitten, zu mir zu kommen.«

Er schloß die Tür und kehrte zu seiner Nichte zurück.

Eine Minute später trat nach schüchternem Anklopfen der junge Mönch ein. Er schien von der Anwesenheit des Fräuleins nicht sonderlich entzückt, indessen faßte er sich schnell und fragte, was dem gnädigen Herrn zu Diensten stehe.

»Das sollen Sie sogleich erfahren.« Der Dekan stellte sich, die Hände auf dem Rücken gefaltet, vor den Mönch hin und fixierte ihn mit scharfen Blicken. »Ich glaube, daß Sie mir aufrichtig ergeben sind.« (Der Pater verneigte sich stumm.) »Oft schon habe ich mit Ihnen über den Kooperator Harteck gesprochen und Sie wissen, daß ich sehr unzufrieden mit ihm bin. Alles an ihm ist Grimasse. Er trägt das geistliche Kleid, aber seine Gedanken weilen draußen bei der Welt und ihren Verlockungen, bei den Weibern.« (Aurelie räusperte sich, der Mönch schlug die Augen nieder.) »Ein schöner Mithelfer ist mir da gegeben worden!« fuhr der Dekan fort. »Ebenso gut hätte man mir einen Holzklotz schicken können, ... der würde mir dieselben Dienste leisten. Seine scheinbare Unterwürfigkeit täuscht mich nicht. Ich weiß ja doch, daß er mir im geheimen widerspricht und alles, was ich tue, anders machen möchte ... O! ich kenne diesen Herrn. Keiner seiner Pfarrherren mochte ihn leiden, alle waren froh, ihn los zu werden. Leute, die uns kritisieren und nicht unbedingt für uns sind, die bloß aus Zwang gehorchen, taugen nicht für uns. Wir brauchen tätige Menschen, die, aus welchem Grunde immer, für unsere Sache ins Feuer gehen würden, ... nicht aber so teilnahmlose Lappen. Meine Geduld ist erschöpft. Ich habe diesen Herrn satt bekommen. Priester seines Schlages müssen unschädlich gemacht werden, müssen im Dunkel verschwinden. Wie man mir schreibt, liegt der Herr Vikar von Keßten hoffnungslos krank danieder. Das Vikariat in Keßten ist armselig und, so zu sagen, außerhalb der Welt gelegen ... Dort wäre Herr Harteck an seinem Platze. Der Sprengel ist klein und wird von lauter armen, stumpfsinnigen Bauern bewohnt ... Die Geistlichen, die dorthin versetzt werden, versumpfen mit der Zeit. Ich werde dieser Tage nach Salzburg reisen und dort den Vorschlag machen, Herrn Harteck nach Keßten zu schicken, falls der Vikar sterben sollte. Man versetzt solche Priester an einen der Welt entrückten Ort und dann mag sie der Kuckuck holen. Ihre Laufbahn ist damit zu Ende und sie mögen zusehen, wie sie mit dem Leben fertig werden. – Was sagen Sie zu meinem Plane?«

»Ich kann ihn nur gutheißen,« antwortete der Mönch.

»Das freut mich, denn ich möchte nicht ungerecht sein ... Ist es wahr, daß zwischen Herrn Harteck und der Tochter unseres Arztes ein Liebesverhältnis besteht?«

Der Mönch blickte überrascht auf. »Wer sagt das?«

»Nun, ... man spricht so. Haben Sie davon gehört?«

»Nein, gnädiger Herr; niemals noch.«

»Hm! ... Kümmern Sie sich ein wenig um die Sache, ... wie?«

»Gnädiger Herr, spionieren ...«

Aurelie warf dem Sprecher einen gehässigen Blick zu. Der Dekan runzelte die Stirn.

»Wer spricht von spionieren?« sagte er. »Sie wissen nicht, was Sie reden. Sie sollen die Augen offen halten, ... anderes verlangt man doch nicht von Ihnen.«

Schweigend verbeugte sich der Mönch. In seinem unschuldigen jungen Gesicht drückte sich augenscheinliche Verwirrung aus.

»Ich beauftrage Sie also,« fuhr der Dekan fort, brach jedoch ab. Es war an die Tür geklopft worden.

»Herein!« sagte er ärgerlich. Ein gewisses Unbehagen bemächtigte sich aller, als auf die Aufforderung derjenige eintrat, über dessen Schicksal sie soeben zu Gericht gesessen hatten.

»Was wollen Sie?« herrschte der Dekan den Ahnungslosen an. Nichts Besonderes wollte er; er war nur gekommen, um mit dem Dekan über irgendeine kirchliche Angelegenheit zu sprechen. Alle wichen seinen Blicken aus.

»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich gestört habe,« sagte Harteck, über den sonderbaren Empfang befremdet.

»Sie stören durchaus nicht,« versetzte der Dekan, der sich bereits gefaßt hatte. »Geh in Dein Zimmer, Aurelie, und Sie, Pater Benediktus, vergessen den Auftrag nicht, den ich Ihnen soeben erteilt habe.«

»Ich werde ihn nicht vergessen,« antwortete der Mönch, bis über die Schläfen errötend, verbeugte sich ungeschickt und folgte dem Fräulein, das mit steifem Kopfnicken und zusammengekniffenen Lippen aus der Stube ging.

Harteck sagte nun, was er zu sagen hatte; er war bald zu Ende. Während er sprach, sah ihn der Dekan von der Seite an und schnupfte mehrere Male. Das bleiche, edle, etwas leidende Gesicht des jungen Priesters flößte ihm nicht das geringste Mitleid ein. Er hielt Hartecks verschüchterten Blick aus, ohne mit den Wimpern zu zucken, und als er ihn entließ und der junge Geistliche sich mit einer Verbeugung zurückzog, setzte sich der Dekan an das Pult und wiederholte im Geiste die Worte: »Ich werde demnächst nach Salzburg reisen und diese Sache in Ordnung bringen.«

Zehntes Kapitel

Das schönste Fest der Christen, Weihnachten, kam. Harteck brachte den heiligen Abend auf dem Bette liegend zu. Er fühlte sich recht unwohl und sein körperliches Mißbefinden wurde durch den an hohen Feiertagen üblichen strengen Kirchendienst noch gesteigert. Die Seinen hatten ihm Geschenke und Briefe geschickt und das Schreiben seiner Mutter fing mit den Worten an: »Ich bete zu Gott, dem Allmächtigen, daß Du das neue Jahr mit besseren Vorsätzen beginnen möchtest als das alte ...« Er hatte den Brief kaum zu Ende gelesen. Uschei schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte sehr, als sie hörte, daß er den heiligen Abend in seinem Zimmer zubringen wollte: am Weihnachtabend werde so gut gegessen und getrunken und wäre alle Welt so fröhlich ... Er tröstete das Mädchen. Ihm liege am Essen und Trinken nicht viel und er wäre ganz gern allein.

»Wirklich?« fragte sie ungläubig. »I' tät' dem Herrn gern oa bissal G'sellschaft leisten, ... aber beim Bärenwirt unten warten's auf mich.«

»Wer? Vielleicht Ihr Schatz?«

Sie wurde sehr rot und spielte mit den Zipfeln ihrer Schürze. »Ja, ... der jüngere Sohn vom Bärenwirt sieht mich halt gern, ... i bin jung und er is a jung ... Es is ja koa Sünd' net, wenn zwoa junge Leut' sich gern haben.«

»Nein, das ist keine Sünde,« sagte er, das Gesicht abwendend. »Gehen Sie nur und seien Sie recht vergnügt.«

Sie schaute ihn an, gutherzig und mitleidig zugleich. Beim Lampenschein sah er in seinem schwarzen Kleid so bleich und traurig aus ... »Bischt ja dächt' a jung und därfst koa Diandl gern haben!« dachte sie. »Herrgott! muß dös z'wider[9] sein!«

»Lassen Sie's gut sein, Hochwürden,« sagte sie dann. »Sie wer'n scho' wieder g'sund wer'n und dann kimmt der Fasching und da geht's lusti her ...«

»Ich tanze ja nicht,« warf er lächelnd ein.

»Aber zuschau'n kinnen's ... und unsere Leut' machen Musik, ... da wern's oa bissal Kurzweil haben.«

»Freilich,« sagte er still.

»Net oamal tanzen!« dachte Uschei, als sie ihn verließ. »Noa! und wenn i zehn Buam hätt', ... Geistlich dürft mir koaner wer'n.«

Allein gelassen, drückte Harteck das Gesicht in das Kopfkissen und seufzte schwer. Es sah und hörte ihn ja niemand, er brauchte nicht Komödie zu spielen ... Cäsar war verschwiegen und würde nicht ausplaudern, daß er seinen Herrn schwach gesehen. Der Hund stellte sich zwar an dem Bette auf, beschnupperte das Haar des jungen Priesters und stieß ein heiseres Bellen aus ... Harteck richtete sich in die Höhe und liebkoste das Tier.

»Du hast recht!« sagte er. »Wir wollen stark sein. – Was gibt es denn?«

Cäsar hatte die Ohren gespitzt. An die Tür des Nebenzimmers war gepocht worden. Harteck erhob sich und ging öffnen. Der junge Mönch stand auf der Schwelle.

»Treten Sie ein,« sagte Harteck. »Was führt Sie zu mir?«

Benediktus gehorchte der Aufforderung und setzte sich auf den Stuhl, den Harteck ihm anbot. Der Priester blieb stehen. Aufmerksam betrachtete der Mönch seine zerdrückten Kleider, sein verwirrtes Haar und seine leicht geröteten Augenlider.

»Wollen Sie nicht hinunterkommen zum Herrn Dekan?« fragte er. »Das Essen ist aufgetragen.«

»Ich danke Ihnen herzlich, ... aber ich kann wirklich nicht, ... mir ist sehr unwohl.«

»Was fehlt Ihnen?«

»Ich habe mich erkältet, ... in der Kirche, glaube ich.«

Der Pater zog die Stirn kraus.

»Warum gerade in der Kirche?« versetzte er. »Dort gewiß nicht, ... weit eher auf Ihren – entschuldigen Sie – unsinnigen Spaziergängen. Sie sind nicht kräftig. Wer zwingt Sie, bei jedem Wetter auszugehen?«

»Niemand. Sie haben recht. Ich werde künftighin zu Hause bleiben.«

»Trachten Sie, bis zum Silvesterabend gesund zu werden,« sagte der Mönch nach einer Pause. »An diesem Abend wird im Gasthause zur Post ein großes Fest veranstaltet, ... sie nennen es ein Konzert; die Einnahme – denn es wird Entréegeld gefordert – soll zum Besten der Kirche verwendet werden, ... sie bedarf, wie Sie wissen, einer teilweisen Restaurierung. Der Schullehrer, der der Vorstand des hiesigen Musikvereines ist, soll sich dagegen gesträubt haben, ... aber die Bauern wollen dieses Fest durchaus veranstalten, um den gnädigen Herrn halbwegs zu versöhnen, und so hat der freigeistige Herr Schullehrer nachgeben müssen. Der Herr Dekan hat sein Erscheinen bereits huldvollst in Aussicht gestellt und es wird ihm jedenfalls lieb sein, wenn Sie ihn begleiten.«

»Werden Sie ebenfalls hinkommen?«

»Ich? O nein! Für mich existieren solche Dinge nicht.«

Diesen Worten folgte eine kurze Stille.

»Sie wollen also wirklich hierbleiben?« fragte der Mönch dann und stand auf.

»Ich werde mich zu Bett legen. Entschuldigen Sie mich freundlichst bei dem Herrn Dekan und dem gnädigen Fräulein ... Ich fühle mich so elend, daß ich ein trauriger Gesellschafter wäre und nur stören würde.«

»Dann wünsche ich Ihnen Besserung und Schlaf.«

»Gute Nacht, und seien Sie vielmals bedankt dafür, daß Sie sich zu mir bemüht haben,« sagte Harteck und reichte ihm die Hand hin.

»Ist gern geschehen,« sagte der Mönch, berührte flüchtig seine Hand und ging. –

Der Silvesterabend kam. In den leidlich geräumigen Zimmern des Gasthauses zur »Post« herrschte reges Leben und Treiben. Die Mehrzahl der Gäste hatte sich bereits eingefunden und der kleine Musikverein, bestehend aus neun Mann, mit dem Schullehrer an der Spitze, begann schon zu stimmen. Die Zimmer waren mit Tannenzweigen geschmückt, kunterbunt saß das Bauernvolk, alle im Sonntagsstaat, durcheinander. An einer langen Tafel, die in der Mitte des Saales stand, hatten die Honoratioren des Ortes und die vornehmeren Gäste aus der Umgebung Platz genommen; viele Herren aus dem Nachbarstädtchen waren gekommen, teils allein, teils mit ihren Familien. An diesem Tische saß auch Paula, zwischen zwei jungen Bahnbeamten, die sich bemühten, ihr angenehm zu sein. Toni, in einem weißen Kleidchen und mit leicht gewelltem Haar, saß neben ihrem Vater und sah kindlich erregt aus. Ein einziger Tisch war noch unbesetzt; der war für die »Herren« bestimmt. Der Herr Dekan ließ auf sich warten, und bevor er eingetroffen, durften die Produktionen nicht beginnen. Das Publikum war laut und lustig. Jetzt schon wurde viel getrunken und geraucht. Die Kellnerinnen rannten mit brennenden Wangen hin und her, ein ewiges Schreien nach Bier und Wein erscholl von allen Tischen und mancher Bauer klopfte mit seinem Taschenmesser ungeduldig an das geleerte Glas ... Da entstand plötzlich tiefe Stille. Der Herr Dekan war eingetreten. Alle Anwesenden erhoben sich von ihren Sitzen. Der gnädige Herr führte Fräulein Aurelie am Arm, die, eine Lorgnette vor den Augen, herablassend grüßend an den Tischen vorbeischritt. Den beiden folgten Harteck und mehrere Geistliche aus den Nachbarorten und endlich Wirt und Wirtin. Der Dekan nahm auf dem Ehrenfauteuil Platz, rechts von ihm setzte sich das Fräulein und ihr zur Seite ließ sich Harteck nieder. Die übrigen Herren setzten sich ebenfalls und sagten den Wirtsleuten ein paar verbindliche Reden über die geschmackvolle Dekorierung des Saales; einer der Geistlichen bot dem Wirt sogar eine Prise an, die dieser annahm und sogleich heftig nieste. Die Unterhaltung begann hierauf aufs neue, wenn auch in stillerer Art. Fräulein Aurelie, die in ihrem blaß lilafarbenen Seidenkleid magerer denn je aussah, lehnte sich zurück, fächelte sich Kühlung zu und tat sehr geziert.

»Hier ist es zum Ersticken heiß,« lispelte sie. »Ich bin begierig, was für komisches Zeug zur Aufführung gelangen wird.«

»Sie dürfen eben keine hohen Ansprüche stellen, gnädiges Fräulein,« sagte Harteck zerstreut und blickte nach der Tafel in der Mitte. Paula kehrte ihm den Rücken zu; wenn sie den Kopf einem ihrer Nachbarn zuwendete, war ihm vergönnt, ihr reines Profil zu sehen. Sie trug ein schwarzes, mit Spitzen besetztes Kaschmirkleid, das ihre blasse Gesichtsfarbe prächtig hob; ihr Haar war zu einem einfachen Knoten verschlungen und die Scheitel an der Stirn bedeckten halb die kleinen Ohren. Der junge Priester sah lang nach ihr hin; sehnsüchtig glitt sein Auge über ihre sanft abfallenden Schultern, den fein gebogenen Nacken, die kleinen Locken am Halse, das dunkle Haar, und er konnte nicht umhin, die beiden jungen Herren zu beneiden, die ihr zur Seite sitzen, mit ihr sprechen, ihre Stimme hören durften ... Diese Glücklichen! Er wendete den Blick von dem Mädchen ab und starrte trübselig vor sich nieder.

Die musikalischen Produktionen begannen. Der Schullehrer, in einem altmodischen Frack, schlug aufgeregt den Takt. Allerdings hieß es bei diesem »Kunstgenuß« mehr mit dem guten Willen der Künstler vorlieb nehmen; und die wenig verwöhnten Bauern waren von den Leistungen ihres Musikvereins entzückt und klatschten lauten Beifall. Fräulein Aurelie fuhr nicht selten nervös zusammen, machte sogar Miene, sich die Ohren zuzuhalten ... Sie amüsierte sich nicht. An ihrem Tische ging es viel stiller zu als an den übrigen. Ihr Oheim war schweigsam, die fremden Geistlichen sprachen untereinander und ihr Nachbar tat den Mund nicht auf; an den Nebentischen hingegen wurde gelacht, gescherzt, in derber Weise der Hof gemacht. Darüber ärgerte sich Aurelie. Verdrießlichen Gesichtes saß sie da, klappte den Fächer auf und zu und gähnte absichtlich ... Dann fing sie an, sich in Klagen zu ergehen: es sollte nicht erlaubt sein zu rauchen, ... kaum Atem holen könne man in dieser Atmosphäre; die Leute lärmten zu viel und die Produktionen wären abscheulich, ohrenzerreißend; wenn man an Wiener Konzerte gewöhnt wäre, erscheine einem solche Musik barbarisch, ... und in dieser Weise ging es fort.

»Wien ist eben Wien und ein Dorf ein Dorf,« sagte Harteck, dem endlich die Geduld riß.

»Wirklich?« entgegnete das Fräulein höhnisch. »Ich danke für die gütige Aufklärung. Das hatte ich bis jetzt nicht gewußt.«

Harteck ließ diese Rede ohne Antwort. Er hatte keine Lust zu streiten, und überdies bemerkte er, daß Paula sich, wie suchend, umwendete. Er vergaß, daß es auf dieser Welt eine Aurelie gab und blickte unverwandt nach dem jungen Mädchen hin ... Wen suchte sie? Vielleicht – ihn? Am lauten Pochen seines Herzens fühlte er, wie lebhaft er das wünschte, wie sehr er geizte nach einem einzigen Blick ihrer schönen Augen ... O diese großen Augen mit dem noch größeren Blick! Sie suchten und fanden ihn und schauten ihn an, so sanft und bittend, als wenn sie sagen wollten: »Warum sind Sie so traurig? Im Geiste bin ich ja doch bei Ihnen, bei Ihnen allein ...« Dieser einzige Blick tröstete ihn wundersam. Er wurde heiterer und gab sich fortan Mühe, seine verdrießliche Nachbarin zu unterhalten. Paula sollte ihn nicht traurig wähnen.

Die Produktionen zogen sich in die Länge. Gesang, Zither- und Flötenspiel wechselten mit den Vorträgen der kleinen Kapelle ab. Dem jungen Dirigenten standen helle Schweißtropfen auf der Stirn, sein langes Haar war feucht und aus seinen Augen leuchtete stolze Befriedigung ... Laut und lauter wurde die Unterhaltung; eine gewisse weinselig-übermütige Stimmung fing an, sich kundzugeben. »Oan Tanz aufspielen!« rief eine heisere Stimme aus einer Ecke; sie wurde niedergezischt, aber der hübsche Bauernbursche, der das Wort gesprochen, versteckte den Kopf unter dem Tische und schrie noch lauter: »Oan Tanz aufspielen, ös[10] Sappermenter! Im Winter wollen mir[11] tanzen!«

»Bischt net stad, Du Sakra? Die Herren sein ja noch da!«

»Jessas! Die Herren! Die wer'n eppes[12] was dagegen haben, wenn mir luschti[13] sein!«

»Halt's Maul!«

»I mag aber net, – i möcht' tanzen!«

Und: »Tanzen! Tanzen!« ertönte es von verschiedenen Seiten. Die Burschen und Dirnen erhoben sich halb von ihren Sitzen und schwenkten ihre Gläser. Vergebens mahnten die Alten zur Ruhe und wiesen mit den Augen auf den gnädigen Herrn, der mit sehr reservierter Miene in sein Weinglas blickte ... Nichts half. Die liebe Jugend lärmte weiter.

Der Herr Dekan hielt es für geraten, sich zurückzuziehen. Fräulein Aurelie wollte noch bleiben, wollte ein wenig dem Tanze zusehen ... »Daraus wird nichts!« sagte ihr Oheim streng. »Das schickt sich nicht für Dich. Zahlen, Herr Wirt.«

Er zahlte und erhob sich dann; die übrigen der Gesellschaft folgten seinem Beispiel. Der Dekan reichte seiner Nichte den Arm und schritt voran, die Geistlichen schlossen sich ihm an; alle, die im Saale waren, standen auf und grüßten. Das Fortgehen der »Herren« erregte sichtlich allgemeine Befriedigung.

»Jetzt ruckt's die Tisch weg und die Sesseln! Jetzt wird's erst luschti wer'n!«

Und kecke »G'stanzeln« ertönten ... Die Katze war fort, die Mäuse wagten zu tanzen.

»Da Tanzen und Liaben
Verbieten die Herr'n ...
Sie sein uns halt neidi' ...
Taten's selber recht gern!«

sang einer.

»Und jedem Buam sei' Diandl,
Gott hat's so bestellt –
Und dem Pfarrer sei' Köchin ...
So geht's in der Welt!«

antwortete ein anderer.

»Kinnt's net Euer Maul halten, ös verflixten Buam!« rief die Wirtin ernstlich böse. »Wann die Herren das hören!«

»Na, ... so hörn's halt oanmal ... Net harb sein, Poschtwirtin[14]. Mir sein schon stad[15]. Aber, Musikleut', jetzt spielt's was auf! I kann mi schon nimmer darhalten[16], ... i muaß tanzen!«

Die »Herren« waren einstweilen schon weit und, minder fröhlich als diejenigen, die sie verlassen, schritten sie schweigend durch das Dorf. Am Pfarrhof angelangt, stiegen die fremden Geistlichen in ihre schon bereitstehenden Wagen und fuhren nach Hause. Harteck wünschte dem Dekan und Aurelien eine gute Nacht und tat, als ob er die Absicht hätte, in seine Wohnung zu gehen. In Wahrheit aber wartete er auf der Treppe, bis er die Hausgenossen in ihren Schlafstuben wußte, bis alles im Pfarrhof ruhig war; dann stieg er geräuschlos die Stufen hinab, verließ das Haus und schlug den Weg nach dem Wirtshause zur Post ein.

Was wollte er dort? An der Freude jener Menschen durfte er ja doch nicht teilnehmen; das wußte er, wußte es nur zu gut ... Aber mit unwiderstehlicher Gewalt zog es ihn dorthin, wo fröhliche Menschen waren, dorthin, wo Paula weilte. Sie wenigstens sehen, aus der Ferne bewundern dürfen, war ja auch ein Glück. Er zog den Hut an die Augen herab und schritt unverdrossen durch den kalten Schnee. Ging jemand hinter ihm? Ihm war, als ob er leise, leise Schritte hörte ... Er stand still und blickte zurück. Undurchdringliche Finsternis lag über der Erde; am Himmel war kein Stern zu sehen. Er horchte und spähte eine Zeitlang; nichts rührte sich. »Ich muß mich geirrt haben,« dachte er und setzte seinen Weg fort.

Da lag das Gasthaus. Durch die Fenster strahlte Lichterglanz; Musik, Johlen, Fußgetrampel ertönten. Der Priester drückte sich an die Wand und lugte durch eines der Fenster in den Saal hinein. Das Zimmer war ausgeräumt, tanzende Paare glitten auf und nieder. Nebenan tanzten die Bauern; dort ging es lärmend zu, ... hier war es stille, hier hielt die bessere Gesellschaft sich auf. Er gewahrte auch Paula. Sie tanzte noch nicht; in der Tür lehnend, sah sie dem Treiben der Bauern zu und beachtete wenig den Schullehrer und einige andere Herren, die sich augenscheinlich bemühten, sie zum Tanze zu überreden; der Arzt schien die Bitte der jungen Leute zu unterstützen; Paula schüttelte bloß das Haupt. Unzufrieden und verlegen standen der Arzt und die Herren um das Mädchen herum und sprachen in sie hinein ... Paula gab endlich – mit Widerstreben, wie es den Anschein hatte, – den vereinten Bitten nach. Sie lehnte sich an die Brust des Schullehrers und fing mit ihm zu walzen an. Dem außen und ausgeschlossen dastehenden Manne stieg das Blut zu Kopf bei diesem Anblick. Daran hatte er nicht gedacht; er hatte gehofft, daß Paula standhaft bleiben, daß sie nicht tanzen würde, ... und nun lag sie in den Armen des fremden Mannes und ihm – ihm hatte sie untersagt, das Wort an sie zu richten, wenn er sie zufällig auf der Straße träfe. Aber freilich, – was war er im Vergleich zu den anderen? Diese Männer durften sich ihr offen nähern, durften um sie werben, konnten ihr Herz und Hand anbieten; ihm aber war nichts gestattet von alledem, – er hatte einem Mädchen nichts zu bieten, als eine sich vor den Augen der Welt scheu verkriechende Liebe ... Worüber also murrte er? Er hatte kein Recht dazu.

Vielleicht, wenn sie gewußt hätte, daß er draußen stand, in der Winterkälte, die Füße im harten Schnee, so ganz ausgestoßen von jeder Freude und jedem Glück, das Herz gefoltert von Eifersucht, – vielleicht, daß sie dann Erbarmen gehabt und vom Tanze abgelassen haben würde. War ihm doch, als ob er hineinstürzen, sie bei der Hand packen und ihr zurufen müßte: »Du darfst nicht lachen noch Dich freuen, während ich so elend bin!« ... Jedes Wort, jedes Lächeln, jeder Blick, die sie einem ihrer Tänzer schenkte, fuhren wie ein Messerstich durch seine Brust. Wie durfte, wie konnte sie –! Unverwandt starrte er das Mädchen an. Ist's noch nicht genug? ... Gott sei Dank! Jetzt lehnte sie eine neue Aufforderung ab, setzte sich – gerade ihm gegenüber – und ließ die Hände in den Schoß sinken. Sie war erschöpft vom Tanze; ihre Lippen waren halb geöffnet, sie atmete rasch. Glücklich sah sie nicht aus; sie lächelte kaum und sprach sehr wenig. Langsam glitten ihre Blicke durch den Saal und blieben mit einem Male an einer Stelle haften ... Sie fuhr zusammen, erblaßte und sah angestrengt nach jener Stelle hin ... Harteck wich jählings vom Fenster zurück. Sie hatte ihn gesehen, mußte ihn gesehen haben, ihre Augen hatten sich getroffen ... Dicht an die Wand gedrängt, spähte er in den Saal hinein. Paula erhob sich, legte ein schwarzes Tuch um Kopf und Schultern, sagte ihrem Vater ein paar Worte ins Ohr ... Das Herz des unglücklichen Mannes schlug plötzlich sehr laut ... Er sah das Mädchen festen Schrittes dem Ausgang zuschreiten und den Tanzsaal verlassen.

Was hatte sie vor? Doch nicht –? Kaum wagte er diesen Gedanken auszudenken. Als er jetzt das Geräusch näher kommender Schritte vernahm, erfaßte ihn etwas wie Schreck. Die Schritte hörten plötzlich auf. Von dem Dunkel hoben sich die unbestimmten Umrisse einer menschlichen Gestalt ab. Also doch, doch!

An allen Gliedern bebend, lehnte er sich an die Mauer und umklammerte mit der Hand das mit Schnee bedeckte Fenstergesimse.

»Was wollen Sie von mir?« stieß er mit Anstrengung heraus.

»Daß Sie nach Hause gehen,« antwortete eine vertraute Mädchenstimme. »Wo sind Sie? Es ist so finster, ... ich sehe Sie nicht.«

Er streckte ihr die Hand entgegen. Paula ergriff sie und er zog das Mädchen an seine Seite.

»Ich sah Sie von drinnen hier stehen,« fuhr Paula fort, »in dieser Kälte ... und erschrak zu Tode, ... ich mußte hinaus zu Ihnen ... Was, um Jesu willen, tun Sie hier?«

An ihrer Stimme, an ihren Fingern fühlte er, daß sie zitterte.

»Sie dürfen nicht hier bleiben,« sagte er hastig. »Sie sind vom Tanz erhitzt und nun setzen Sie sich der eisigen Winterluft aus. Den Tod können Sie sich holen.«

»Was liegt daran!« sprach sie in sich hinein.

»Mir liegt daran,« entgegnete er heftig, zog seinen Überrock aus und warf ihn um ihre Schultern.

»Welche Torheit!« rief Paula unwillig. »Nun werden Sie sich erkälten. Ich beschwöre Sie, gehen Sie nach Hause.«

»Mich schicken Sie immer fort. Andere dürfen mit Ihnen tanzen und ich soll Sie nicht einmal ansehen. Nein, ich bleibe.«

»Wozu? Bloß um mich zu quälen?«

»Ich will Sie nicht quälen, Paula,« sagte er und haschte nach ihren Händen. »Ich will Ihnen gehorchen ... Versprechen Sie mir aber, daß auch Sie nach Hause gehen werden ... Sie wissen nicht, was Neid heißt und Eifersucht,« murmelte er mit hilfloser, fast weinender Stimme, »was ich gelitten habe, als ich Sie in den Armen fremder Männer sah ...«

»Mein Gott! Ich will tun, was Sie begehren,« sagte Paula erschreckt. »Regen Sie sich doch nicht so auf! Wie könnte ich Sie kränken wollen, ... ich!« Sie brach in ein bitteres Gelächter aus.

»Verzeihen Sie mir,« sagte er. Er wußte nicht, was er sprach noch was er tat. Er hatte das Haupt entblößt und den Hut in den Schnee fallen lassen, ... die kalte Dezemberluft zog schneidend durch sein Haar.

»Sie zittern ja,« bemerkte Paula, befreite ihre Hände aus den seinen, nahm seinen Rock von den Schultern und hängte ihn dem Priester, trotz seinem Sträuben, um; ihre Arme, ihre Brust berührten ihn dabei, ... der Rock glitt zur Erde, die Arme des Mannes faßten nach dem schlanken, bebenden Leib des Mädchens.

»Lassen Sie mich!« rief Paula mit rauher Stimme. »Haben Sie nicht gehört ...?«

»Was?«

»Es hat jemand in unserer Nähe gehustet ...«

»Ich habe nichts gehört.«

»Sehen Sie ... dort, ...« sie drängte sich atemlos, Schutz begehrend, an seine Brust ... »dort an der Wand, ... sehen Sie nichts?«

»Nein,« sprach er verstört. »Ist jemand da?«

Niemand antwortete. Aber verhallende Schritte schlugen an sein Ohr.

»Ich muß erfahren, wer es ist,« sagte er und legte die Hand an die Stirn. »Kehren Sie zu Ihrem Vater zurück. Ich muß diesem Menschen folgen.«

Paula zog das Tuch fester um ihre Schultern.

»Wohin haben Sie mich gebracht!« sprach sie, sich zum Gehen wendend.

»Paula!« rief er außer sich. »Ich töte mich, wenn auch Sie mich anklagen!«

»Ich klage Sie nicht an. Ich, ich allein bin die Schuldige; ich hätte stärker sein sollen. Leben Sie wohl.«

»Auf immer? Ich lasse Sie nicht.«

»Denken Sie jetzt nicht daran, ... jetzt können wir nichts beschließen. Gehen Sie dem dort nach und schreiben mir morgen, wer es gewesen und wie alles abgelaufen ist.«

Er hielt sie nicht länger zurück. Mit gesenktem Kopfe und schwankendem Schritt ging das Mädchen in das Haus hinein. Der Priester stürzte durch Nacht und Nebel dem Unbekannten nach.

Erst in der Nähe des Pfarrhofes erreichte er ihn. Dort brannte eine Laterne. Harteck packte den Fremden bei den Schultern und kehrte dessen Gesicht dem Laternenlicht zu. Er erkannte den Mönch.

»Woher kommen Sie?« fragte er ihn mit heiserer Stimme.

»Woher kommen Sie?« wiederholte der Mönch und sah ihm fest in die Augen.

Harteck gab keine Antwort.

»Wußten Sie, daß ich vom Hause fort war?« fragte er dann.

Der Pater nickte.

»Sahen Sie mich das Haus verlassen?«

»Ja.«

»Und sind mir gefolgt?«

»So ist es.«

»Weshalb? Zu welchem Zwecke?«

»Weil ich Verdacht hatte ... Sie sehen, daß mein Verdacht nicht grundlos war.«

»So haben Sie alles gesehen und gehört?«

»Alles.«

Eine Pause trat ein.

»Aber warum ... warum,« begann Harteck wieder; sein Atem stockte. »Warum haben Sie das getan?« brach er wütend los.

»Mäßigen Sie sich. Ich hatte den Auftrag dazu; ich bin weder neugierig noch liebe ich es, zu spionieren. Aber Sie wissen ja, was unsere Pflicht ist: den Vorgesetzten zu gehorsamen in allem und jedem.«

»Und Sie werden – natürlich! – dem Dekan alles erzählen?«

»Ich muß.«

»Und wenn Sie dadurch – nicht mich – an mir ist wenig gelegen – wenn Sie dadurch ein unbescholtenes Mädchen zugrunde richten?«

»Jetzt ist sie nicht mehr unbescholten,« entgegnete der Mönch mit hart klingender Stimme.

»Aber ich schwöre Ihnen, daß heute zum erstenmal ... Sie sind doch auch jung und sind nicht schlecht« ... Der Verzweiflung nahe, ergriff er beide Hände des Mönches: »Wälzen Sie alle Schuld auf mich, ... machen Sie mich so schlimm, wie Sie wollen, ... aber schonen Sie das unglückliche Mädchen. Gott im Himmel! Stehen Sie nicht so stumm und starr da, als ob ich zu einem Steine redete ... Soll ich mich noch mehr demütigen? Mich vor Ihnen auf die Kniee werfen? Würde vielleicht das Sie rühren?«

Der Mönch schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht hart,« sagte er. »Glauben Sie mir, ... Sie tun mir leid, trotz Ihrem Vergehen ... Ich will Ihnen auch versprechen, das Mädchen zu schonen, soviel ich kann.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Harteck und atmete erleichtert auf.

»Und nun lassen Sie uns nach Hause gehen,« sprach Benediktus weiter. »Sie sind erschöpft und Ihre Hände fühlen sich wie Eis an. Auch fällt es mir erst jetzt auf ... Wo haben Sie Ihren Überrock und Hut gelassen?«

»Ich weiß es nicht, ... ich glaube, sie liegen vor dem Gasthaus, irgendwo im Schnee ...«

»Gehen Sie schleunigst nach Hause und legen sich zu Bett ... Ihre Sachen werde ich holen und sie Ihnen morgen übergeben. Gute Nacht.«

Am nächsten Tage hatte der Mönch eine kurze, geheime Unterredung mit dem Dekan und dieser reiste bald darauf nach Salzburg ab.

Elftes Kapitel

In einem engen Gäßchen der Grenzstadt Kufstein stand (oder steht heute noch) ein kleines, winkliges, baufälliges Haus. Von außen machte es mit seinem verwitterten Aussehen und den winzigen Fenstern einen traurigen Eindruck, und was hinter dem schwarz angestrichenen Tore zu finden war: die niedrigen Zimmer, die schmale Wendeltreppe, die allenthalben herrschende Licht- und Luftarmut, war nicht danach angetan, den ersten schlimmen Eindruck zu verwischen.

Vor vielen, vielen Jahren konnte man hinter einem dieser Fensterchen Tag um Tag ein blasses, kleines Mädchen stehen sehen: immer allein; sie spielte und lachte niemals und hielt stets einen Strickstrumpf oder ein Gebetbuch in der Hand. Vergangen waren die Jahre, das Kind war groß, war alt geworden und saß heute, als Matrone, hinter dem Fenster in einem alten Großvaterstuhl und die jetzt welken Hände hielten, wie ehedem, eine Strickerei oder ein Erbauungsbuch. Außer mit ihrer Tochter, deren Söhnlein und Schwiegereltern und einigen greisen Priestern verkehrte die alte Frau mit niemandem. Eine Magd, so alt wie sie selber, bediente sie schon seit vierzig Jahren. Mit dieser Magd ging sie tagtäglich zweimal in die Kirche, wöchentlich einmal zur Beichte und Kommunion, und daheim arbeiteten oder beteten die zwei alten Frauen. Die Herrin sprach wenig und lachte niemals. Ein harter, starrer Zug lag auf ihrem hageren Gesicht, – ein Zug, der von einem harten und starren Leben erzählte.

An einem wetterwendischen Apriltage saß die alte Frau wie gewöhnlich an ihrem Fenster; doch nicht wie sonst mit Beten oder einer Handarbeit beschäftigt. Ihre Hände ruhten gefaltet im Schoße und in ihrem starren Gesichte kämpfte etwas, das einer unterdrückten Bewegung glich.

Auf dem Sofa kniete ihr Enkel, ein schlanker, etwa siebenjähriger Knabe, der Kartenhäuser aufbaute. Ein feiner Junge war's, blond und rosig, mit einem klugen Gesichtchen und hellen Augen. Die Brauen ernsthaft gefaltet, die Lippen wie zum Pfeifen gespitzt, baute und baute er und blickte zornig auf, wenn seine jugendliche Mutter, die in seiner Nähe stand, eine Bewegung oder einen Schritt zu machen wagte. Mit einem halb spöttischen, halb gutmütigen Lächeln sah die Mutter seiner kindlichen Beschäftigung zu. Sie war von zarter Gestalt und auf ihren intelligenten Zügen lag selbstzufriedene Heiterkeit. Das blonde Haar und die blauen Augen hatte der Knabe von ihr geerbt. Die junge Frau trug ein schwarzes Kleid, um den Hals hatte sie eine Kette hängen, an der ein goldenes Kreuz befestigt war, und an ihren weißen Händen glänzte kein anderer Schmuck als der glatte Ehering. Trotz der matronenhaften Kleidung machte sie mit ihrem lichten Haar und Teint, mit ihren lachenden Augen und Lippen, einen, man möchte sagen, hellen Eindruck. Das Leben war ihr hold gewesen; was es ihrem Hause Übles gebracht, war auf Vater, Mutter und Bruder gefallen, – sie aber war stets verschont geblieben und hatte sich darum über das Ungemach der Angehörigen immer schnell zu trösten gewußt. Das Schicksal war ihr guter Freund und so zeigte sie ihm auch stets ein heiteres Gesicht.

Mit verhaltenem Lachen beobachtete sie das Söhnlein und stieß mit dem Fuß an den Tisch ... Das künstlich aufgebaute Kartenhaus stürzte ein; blutrot wurde der Knabe und fuhr erbost in die Höhe, ... die Mutter aber brach in ein Gelächter aus, packte den Kleinen beim Kopf und küßte sein blondes Haar.

»Nun ist's genug,« sagte sie. Ihre Stimme klang hell und angenehm. »Wir müssen Ordnung machen. Der Onkel kann jeden Augenblick kommen.«

Sie raffte die Karten zusammen und legte sie in die Tischlade; dann zupfte sie den Matrosenanzug und die Krawatte des Knaben zurecht und strich sein Haar glatt.

»Jetzt bist Du fein, Albert,« sagte sie. »Freust Du Dich schon auf den Onkel?«

»O ja,« sagte Albert ziemlich gleichgültig.

»Erinnerst Du Dich noch seiner?«

»O ja,« antwortete das Kind in gleichem Tone.

»Stell' Dich ans Fenster, und wenn Du den Onkel kommen siehst, sag es uns; hörst Du?«

Das Kind tat, was von ihm begehrt wurde. Nach ungefähr zehn Minuten wendete es den Kopf: »Jetzt kommt der Onkel.«

»Wir wollen ihm entgegen gehen,« sagte seine Mutter. »Schnell, Albert!«

Die Matrone blieb allein zurück. Sie eilte dem Sohne nicht entgegen, ... er sollte nicht wissen, nicht sehen, wie erschüttert sie war. »Gott im Himmel! Du wirst es mir nicht zur Sünde anrechnen, daß ich ihn noch immer liebe,« dachte sie. »Sein Schuldregister, Herr! ist groß, ich weiß es. Aber es ist doch mein Sohn. Und er wird sich bessern, er wird sich bessern ...« Ihre Hände zitterten, ihre Lippen bewegten sich leise; unverwandt hafteten ihre Blicke an der Tür. Die ging bald auf: hereintrat die junge Frau mit Albert und ihnen folgte ein schlanker Mann im Kleide eines katholischen Priesters. Mit einiger Anstrengung erhob sich die alte Frau, der Ankömmling eilte auf sie zu und Georg Harteck und seine Mutter lagen einander in den Armen.

»Gott zum Gruße, liebe Mutter,« sagte er und küßte sie auf beide Wangen. »Wie geht es Dir?«

»Gut, dem Herrn sei Dank.« Sie hielt ihn noch immer in den Armen und betrachtete ihn aufmerksam. Fast drei Jahre waren vergangen, seit sie ihn zum letztenmal gesehen; sie fand ihn verändert, – viel blasser und schmaler im Gesicht.

»Bist Du immer gesund gewesen?« fragte sie.

»Immer, ... einige Erkältungen abgerechnet. Findest Du, daß ich krank aussehe?«

»N – nein.«

»Du siehst ganz wohl aus, Georg,« fiel die junge Frau ein. »Aber Mutter ist immer so: wenn sie nur jemanden ängstlich machen kann! Setze Dich jetzt –« sie nahm ihn beim Arme und führte ihn zum Sofa hin – »und sieh Dir meinen Buben an ... Ist er nicht brav gewachsen?«

Der Priester setzte sich, die junge Frau nahm an seiner Seite Platz und schob den Knaben zu dem Geistlichen hin.

»Küsse dem Herrn Vikar die Hand,« sagte sie mit komischem Pathos und lehnte sich schmeichelnd an die Schulter des Bruders. »Ich bin nicht wenig stolz auf Dich, Georg! Erst dreißigjährig und schon Vikar! Hast Du Dich recht gefreut über Deine Beförderung?«

Er bejahte die Frage; und die Schwester fing mit dem ihr eigenen praktischen Sinn an, ihn auszuforschen: »Wo liegt das ... Keßten? Ist das Vikariat einträglich? Die Gemeinde groß? Wirst Du Dich besser stehen denn als Kooperator? Und wie ist's mit den Ausgaben? Du mußt Dich doch als Vikar von A bis Z einrichten ...«

Es ergab sich, daß er von alledem wenig wußte. Keßten wäre, so glaubte er, ein kleines und armes Dorf und das Vikariat wahrscheinlich wenig einträglich. Was den Hausrat anbelange, so hätte er bereits Anstalten zu dessen Herbeischaffung getroffen. »Ich bin jedoch überzeugt,« setzte er hinzu, »daß ich vieles und vielleicht das Nötigste vergessen habe. Bis heute hatte ich mich um diese Dinge nicht scheren müssen, ... mit der Zeit aber werde ich das Wirtschaftführen wohl erlernen.«

»Ich will auf ein paar Wochen zu Dir kommen und alles in Ordnung bringen,« sagte die Schwester. »Ohne den Beistand einer Frau seid Ihr Männer wie verloren.«

»Das ist wahr,« sagte er zerstreut und hob eilig von anderen Dingen zu sprechen an. Sie mußten erzählen, wie sie lebten, was sie trieben. Die Mutter sprach wenig; sie hatte sich wieder ans Fenster gesetzt und beobachtete schweigend die Kinder und den Enkel. Die junge Frau hingegen war sehr redselig; sie sprach viel von sich, von ihren Schwiegereltern und wie sie diese durch scheinbare Sanftmut zu beherrschen wüßte, von ihrem Söhnchen, das erstaunlich gut lernte; auch von gemeinsamen Bekannten erzählte sie und schonte die Abwesenden nicht immer; aber ihr Spott war gutmütiger Art; sie war viel zu glücklich, um wirklich böse sein zu können.

Mittlerweile hatte die alte Magd den Koffer und die Reisetasche des Geistlichen in das Zimmer getragen. Harteck öffnete den Koffer und packte verschiedene Gegenstände aus; er hatte den Seinen Geschenke mitgebracht: dem Kinde Bücher und Spielsachen, der Schwester Schmuck und anderen Toilettentand, der Mutter einen Christus aus Ebenholz und ein Marienbild; sogar die alte Magd hatte er nicht vergessen und händigte der Überraschten einen Kleiderstoff und eine Schürze ein.

»Wie gut Du bist, Georg!« sagte seine Schwester und küßte ihn und der kleine Neffe sah den geistlichen Onkel zum erstenmal freundlich an. »Jetzt aber wollen wir etwas essen ... Du bist gewiß hungrig.«

Die Magd deckte den Tisch und trug Kaffee, kaltes Fleisch, Backwerk und süßen Wein auf. Georg führte seine Mutter zum Sofa und setzte sich neben sie. Die alte Frau blickte ihn an. »Georg!« sagte sie in fast strengem Tone.

»Was gibt es?« fragte er leicht erschreckt. Er kannte diesen Ton von Kindheit auf. »Habe ich etwas nicht recht gemacht?«

»Du setzest Dich nieder zu Speise und Trank und betest nicht vorher? Ist das nicht Sitte im Hause Deines Dekans?«

»O doch! Ich vergaß nur ... Übrigens wie Du willst.«

Er stand auf und sprach das Vaterunser. Die anderen taten ihm nach, – die Mutter mit strengem Ernst, die Schwester mit verborgener Ungeduld, der Kleine mit verwundertem Blick.

»Die Mutter ist so eigen,« murmelte die junge Frau dann. »Nimm es ihr nicht krumm, Georg.«

»Wie sollte ich? – Sie hat ja recht.«

Trotzdem blieb die Stimmung eine gestörte. Die alte Frau genoß beinahe nichts und verhielt sich auch während des Essens schweigend. »Er hat sich nicht verändert,« mußte sie sich immer wieder sagen. »Ich darf nicht schwach werden, nicht erlahmen, ... ich bin Gott Rechenschaft schuldig über alles, was ich tue und sage. Wenn er sich, wie ich noch immer von Gott hoffe, gebessert haben wird, werde ich ihm zeigen dürfen, daß ich ihn liebe; eher nicht.«

Georg und die Schwester führten ein sich mühsam fortschleppendes Gespräch. Von der strengblickenden alten Frau ging gleichsam ein eisiger Hauch aus, der sich den anderen mitteilte. Sogar der arme kleine Junge saß eingeschüchtert da und gähnte verstohlen.

Als wieder abgetragen worden war, richtete die alte Frau sich in die Höhe und sagte zu ihrem Enkel: »Geh jetzt ins Nebenzimmer und spiele mit den schönen Sachen, die der Onkel Dir gebracht hat.«

Das Kind gehorchte mit sichtlichem Vergnügen.

»Warum darf er nicht bei uns bleiben?« fragte Georg.

»Weil Kinder nicht alles hören sollen, was Erwachsene untereinander sprechen,« entgegnete die Mutter. »Leg diesen eitlen Tand beiseite, Anna.«

Die junge Frau, die mit der genauen Besichtigung der vom Bruder erhaltenen Geschenke beschäftigt war, blickte die Mutter mit einem Lächeln an, zuckte die Achseln und legte die verschiedenen Sächelchen auf den Tisch.

»Nun, ... was weiter?« fragte sie.

»Ich habe mit Deinem Bruder zu sprechen.«

»Mutter, ich will nicht hoffen ...«

»Was?« unterbrach die alte Frau ihre Tochter mit scharfer Stimme. »Ist es so weit gekommen, daß ich mir von meinen Kindern vorschreiben lassen muß, was ich sagen darf oder für mich behalten muß? Du hast Dich arg verändert, Anna. So lang Du noch Mädchen warst und mich brauchtest, warst Du die Demut selber; aber nun, da Du selbständig und vermögend bist ...«

»Ich sage ja nichts,« fiel Anna ihr beschwichtigend in die Rede. »Ich wollte nur bemerken, daß Du unseren Georg, den wir so lange nicht gesehen haben, nicht plagen solltest, ... sonst vergeht ihm auf immer die Lust, uns zu besuchen.«

»Die Mutter wird mich nicht kränken wollen,« sagte Georg sanft und bittend, »nicht wahr, Mutter, nein?«

»Gewiß nicht,« sagte diese, unsicher gemacht. Dieser sanfte, ergebene Ton mahnte sie an die Zeit, da Georg noch ein Kind war. »Wir sind einander lang fern gewesen, mein Sohn,« fuhr sie fort. »Ich freue mich, Dich endlich einmal wiederzusehen. Es ist schön von Dir, daß Du zu uns gekommen bist, und ich nehme dies zum Zeichen, daß Du mit reinem Herzen wiederkehrst und Dich endlich wieder für würdig hältst, ein Diener des Herrn zu heißen.«

»Da haben wir es!« murmelte Anna. »Dachte ich's doch!«

»Schweige – Du!« rief die alte Frau streng. Die Tochter hob abermals die Schultern in die Höhe, langte nach einer Stickerei und fing zu sticken an. »Um die Zeit nicht gänzlich zu verlieren,« dachte sie. Georg betrachtete die schlanken weißen Fingerchen, die gewandt Stich an Stich reihten und kein einziges Mal fehlten. O! sie war sicher in allem, was sie tat, die kluge Schwester, ... war niemals irre gegangen, weder in großem noch in kleinem. Er beobachtete auch ihr Gesicht. Augenblicklich prägten sich in ihren Zügen Langeweile und Ärger aus ... Ahnte die Schwester, daß unangenehme Dinge zur Sprache kommen würden? An seiner Seite hob die klanglose Stimme der Mutter abermals zu sprechen an: »Du brauchst mich nicht anzusehen, Georg; antworte mir bloß; sag mir, daß Du wieder rechtschaffen geworden bist, daß Du jenes ... jenes Mädchen vergessen hast ...«

»Wozu davon sprechen, Mutter?« fiel er müden Tones ein.

»Ich muß. Ich habe so viel um Dich gelitten, mich so bitter geschämt deinetwegen ...«

Sie hielt inne. Er rührte sich nicht.

»Laß ihn doch in Frieden,« sagte Anna. »Er war einmal in seinem Leben verliebt: gut. Es tut ihm leid und er wird es künftighin bleiben lassen, und damit sei die Sache abgetan.«

Sie blickte den Bruder blinzelnd an; der aber sah starr vor sich nieder.

»Das Kleid, das er trägt, erlegt ihm das Opfer auf, den sogenannten Freuden der Welt zu entsagen,« fuhr die Mutter zur Tochter gewendet fort. »Ist das zu viel verlangt? Ich bin niemals glücklicher und ruhiger gewesen als in der Zeit, wo ich vom Treiben der Welt so viel wie nichts wußte. Meine Eltern waren schon alt, da ich noch ein Kind war. Sie liebten die Ruhe, und um sie nicht zu stören, verkehrte ich niemals mit Altersgenossen, blieb immer zu Hause und verließ es bloß, um in die Kirche oder in die Schule zu gehen. Wehe mir, wenn ich gelärmt, gemurrt oder einen Wunsch zu äußern gewagt hätte! Ich habe nie getanzt, mich nie geschmückt, niemals etwas von der Welt gesehen. Und doch bin ich glücklich gewesen, – damals. Mein Unglück begann erst dann, als ich in frevelhafter Vermessenheit meinen Eltern den Gehorsam zu kündigen wagte. Gott hat mich schwer, doch gerecht dafür bestraft.«

Anna seufzte und stickte emsig darauf los. Sie hatte das alles schon unzählige Male gehört. Der junge Priester stierte gedankenlos vor sich hin.

»Ich habe Euren Vater geliebt,« sprach die alte Frau weiter. »Wehe mir, daß ich es tat! Er war meiner Liebe nicht wert. Ich heiratete ihn gegen den Willen meiner Eltern und sah zu spät ein, daß sie recht gehabt, daß ich mich einem Unwürdigen vermählt hatte. Euer Vater hat mich nie geliebt. Er war ein leichtsinniger Mensch, ein Tunichtgut. Meine Eltern besaßen dieses Haus und ein kleines Vermögen, ... und darum, der Herr verzeihe es ihm! hat er mich geheiratet. Indessen klage ich nicht ihn, sondern einzig und allein mich selber an. Ich hätte meinen ehrwürdigen Eltern gehorchen und entsagen sollen. Ich tat es nicht; feige gab ich dieser sündigen Liebe nach und sie wurde mir – gerechterweise – zum Fluche. Ich habe viel, viel gelitten. Meine Eltern starben plötzlich, mein Mann gewöhnte sich das Trinken an und die Kinder, die ich unter unsäglichen Schmerzen gebar, lebten stets nur einige Wochen; außerdem drohte Verarmung, vielleicht Schande, ... es war eine böse Zeit. Gott hatte seine Hand abgezogen von mir, weil ich meinen Eltern ungehorsam gewesen war und dadurch das vierte Gebot verletzt hatte. Mir sollte und durfte es auf Erden nicht wohl ergehen. Wodurch den Herrgott versöhnen? Darüber sann ich immerwährend nach, ... ganze Nächte lang wachte ich und betete und flehte ihn an, mich zu erleuchten. Da gab er mir ein Zeichen. Abermals regte sich unter meinem Herzen ein junges Leben. Ich ging eines Tages auf der Straße und grübelte, wie immer, über das eine nach: was tun, um Gott milde zu stimmen; ich dachte auch an das Kind, das in meinem Schoße schlief und fragte mich, wie ich es wohl erziehen und zu welchem Berufe ich es bestimmen sollte, um einen rechtschaffenen, Gott wohlgefälligen Menschen aus ihm zu machen. Ich kam just an einer Kirche vorbei, als ich so dachte, und in diesem Augenblick trat mir ein Priester entgegen. Das war ein Zeichen von Gott! Das sollte ich aus meinem Kinde machen. Beglückt und gehoben ging ich nach Hause und leistete in meinem Herzen den Schwur, daß mein Kind, falls es ein Knabe sein und am Leben bleiben würde, dem Dienste des Herrn geweiht und Priester werden sollte. Wenige Monate später gab ich einem Sohne das Leben und von dieser Stunde an ging alles besser.«

Abermals trat eine Pause ein. Anna warf den Kopf zurück und reckte die Glieder, um die immer mehr überhand nehmende Schlafsucht abzuschütteln. Georg saß unbeweglich.

»Wohl waren wir arm,« setzte die Mutter ihre Rede fort. »Aber ein würdiger Priester nahm sich unser an und versprach, für meines kleinen Georgs Erziehung Sorge zu tragen. Euer Vater veränderte sich; er gewann Euch lieb, Dich, Georg, und die kleine Anna, die ich drei Jahre später gebar. Vielleicht würde er, Euch zuliebe, noch ein ordentlicher Mensch geworden sein, wenn Gott ihn nicht abberufen hätte. Doch Gottes Wille geschehe! Er weiß am besten, was uns frommt! Nach Eures Vaters Tode erzog ich Euch nach meinem besten Wissen und Gewissen: Dich, Georg, zu einem braven Priester und Anna zu einer sittenreinen Jungfrau. Gott segnete meine Bemühungen und ließ Euch gehorsame Kinder bleiben, bis die furchtbare Stunde kam, die meinem Leben ein Ende zu setzen drohte und in der mein Sohn mir in frevelhaftem Hochmut erklärte, daß er nicht Priester werden könnte ...«

Jetzt fuhr Georg auf. Zum erstenmal schaute er der Sprecherin in die Augen.

»Mutter,« sagte er – seine Stimme klang seltsam hart – »ich habe Dir Deinen Willen getan. Ich trage den Priesterrock. Laß Vergangenes vergangen sein. Es ist nicht gut, mich daran zu erinnern.«

»Noch immer der alte Trotz!« sprach sie murmelnd.

»Ich bin nicht trotzig,« entgegnete er und erfaßte ihre Hand, »bin es niemals gewesen. Erinnere Dich nur. Als kleiner Knabe schon konnte ich nicht ertragen, daß Du mir zürntest, und immer kam ich freiwillig, Dich um Verzeihung zu bitten, und wenn Du sie mir vorenthieltest, weinte ich mich halb zu Tode ... Ich mag viele Fehler haben, aber trotzig bin ich nicht ... Ich trage niemandem etwas nach und will mit denen, die mir teuer sind, in Frieden leben ... Ist es nicht so? War es nicht immer so? Ich rufe Anna zur Zeugin auf, ob ich recht habe oder nicht.«

»Natürlich hast Du recht,« sagte die Schwester, ohne das Haupt zu erheben. »Ich weiß wirklich nicht, was der Mutter einfällt.«

»Ich aber weiß es,« entgegnete die alte Frau mit starker Stimme. »Wenn Du nicht Priester wärest, würde ich schwächer sein ... So aber gehörst Du nicht mir, nicht Dir, nicht irgendeinem Menschen, sondern Gott allein. Du hast die Schuld Deiner Eltern zu sühnen durch ein tadelloses, echt priesterliches Leben. Nicht um unser armseliges Erdenglück handelt es sich, sondern um unser aller Seelenheil. Ich habe Dich Gott zum Opfer gebracht; ihm darfst Du nicht halb, – ganz mußt Du ihm gehören, mußt ihm dienen mit allen Deinen Kräften. Ist das so schwer? Als ich vernahm, daß Du mit der Dienstmagd Deines Pfarrers ein sündhaftes Verhältnis unterhieltest, sagte ich: ›Der alte Fluch ist wieder da; wir sind und bleiben hier und dort verdammt.‹ Unglücklicher Mensch! Meinst Du, Gott auf solche Weise zufrieden zu stellen? Alle Deine Vorgesetzten tadeln Dich, ... weshalb? Weil Du immer weltlichen Gelüsten nachhängst und Dich nicht entschließen kannst, einzig und allein Deiner erhabenen Aufgabe zu leben ...«

Georg stand auf.

»Ich gehe und komme nie wieder, wenn Du auf solche Art zu mir sprichst,« sagte er. »Ich bin Dir zuliebe Priester geworden ... Mutter!« unterbrach er sich und faßte sie erschreckt bei den Schultern.

Sie war blaß wie der Tod.

»Mir zuliebe!« sagte sie tonlos wie eine Sprechmaschine. »Nicht Gott zuliebe!«

So furchtbar blaß hatte er sie schon einmal gesehen, – damals, in jener Stunde, wo er ihr gestanden hatte, daß er nicht Priester werden könnte. Alles kam wieder, – o! so lebhaft, so deutlich, als ob es erst gestern geschehen wäre; zuerst die Kindheit, das ewige Beten und Kirchengehen ... Damals war er gläubig gewesen, damals hatte ihn der Gedanke, dereinstens am Altar zu stehen, mit stolzer Freude erfüllt; und dann später – er hatte seine Studien nahezu vollendet – wie war es gekommen? Plötzlich zerriß etwas in seiner Brust. Im Anfang wollte er's nicht glauben, wollte die Stimme in seinem Herzen ersticken, wollte sich einreden, daß er denke und fühle wie ehedem, ... umsonst! Der Zweifel wuchs, wurde zur Gewißheit, er konnte sich nicht länger belügen, und nach schweren Kämpfen, nach vielen langen, durchweinten und durchwachten Nächten wagte er, der Mutter zu gestehen, was in seinem Inneren vorgegangen, ... daß nichts ihn antreibe, Priester zu werden, daß er sich über sich selbst getäuscht hätte und daß er Priester nicht werden könne. Sie hatte ihn starr angesehen und war so blaß geworden, daß es ihn kalt überlief, und dann war sie, ohne die Lippen zu öffnen, umgesunken und hatte stundenlang wie tot gelegen. Und die Schwester, die Magd, der Priester, der ihn hatte erziehen lassen, hatten geschrieen, geheult und ihn einen Muttermörder genannt, ... und in seiner Verzweiflung, seiner Kindesliebe hatte er schluchzend gelobt, ihr gehorsam zu sein in allem, nur möchte sie wieder die Augen aufschlagen, ihn noch einmal ansehen ... Und so war es denn geschehen; sie war wieder erwacht und er war Priester geworden. Sie konnte ruhig sein: das Seelenheil aller war gerettet.

Er trug ihr nichts nach. Wußte er doch, daß sie von einem starren Irrwahn, von einer fixen Idee geleitet, dieses Opfer von ihm gefordert hatte. Der Sohn war ihr die Leiter, die sie und alle in den Himmel führen sollte ... Aus tiefster Überzeugung hatte sie ihn dieses Opfer bringen lassen. In ihren Augen war es ja kein Opfer; sie dankte es ihm nicht einmal. Niemals keimte in ihrem Herzen ein Zweifel auf, ob sie auch recht an ihm gehandelt, niemals machte sie sich den leisesten Vorwurf. Das wußte er. Deshalb empfand er auch heute keinen Groll wider sie; er würde sie nie bekehren, nie anderen Sinnes machen, sie nie zu Mitleid oder Reue bewegen. Er konnte sie durch Widerspruch erbittern, ... das war alles, und das wollte er nicht. Wozu wohl auch? Sein Leben war nun einmal verspielt, ... mochte er allein darum wissen! Das Opfer war nun einmal gebracht, ... mochte wenigstens ein Mensch sich darüber freuen. Er nahm die alte Frau bei der Hand und sprach in sanftem Tone: »Du hast mich mißverstanden, liebe Mutter, oder, besser gesagt, meine Empfindlichkeit hat mich zu einer Äußerung hingerissen, von der mein Herz nichts weiß. Deine Anklagen sind berechtigt; nicht immer bin ich so gewesen, wie ein Priester sein soll, ... aber ich verspreche Dir, daß ich mich bessern will. Habe Geduld mit mir. Daß mir ein leidenschaftliches Herz zu teil wurde, ist nicht meine Schuld ... Ich will alles tun, um Herr dieses Herzens zu werden. Die Jugendzeit liegt bald hinter mir und mit der Jugend sterben auch die Leidenschaften ... Ich werde die eine und die anderen bald begraben.«

Er küßte die Hand der Mutter und trat zum Fenster hin. Anna folgte ihm mit den Augen, schüttelte den Kopf und blickte die Mutter, die mit gefalteten Händen und sich leise bewegenden Lippen dasaß, ärgerlich und vorwurfsvoll an. Weshalb ewig an Dinge rühren, die nun einmal nicht zu ändern waren? Die Mutter war auch gar zu schwerfällig ... Warum faßt sie alles so ernst und gewichtig auf? Und Georg könnte sich endlich auch in sein Los finden, ... was ging ihm, genau besehen, ab? Sie waren arm gewesen, seine Erziehung hatte auf diese Weise nichts gekostet, er war versorgt ... Wenn sie gewußt hätte, daß sie sich so vorteilhaft verheiraten würde, hätte sie vielleicht für ihn Partei genommen, hätte die Mutter umzustimmen versucht; das aber hatte sie nicht voraussehen können. Mochte er sich denn in Gottes Namen zufrieden geben! Weshalb sich und anderen das Leben so schwer machen? Weder Mutter noch Bruder verstanden die Kunst, zu leben ... Sie, Anna, war immer zufrieden und heiter; warum nahmen sie sich nicht ein Beispiel an ihr?

Sie rollte ihre Stickerei zusammen und erhob sich.

»Es dunkelt schon,« sagte sie. »Der Kleine und ich müssen uns auf den Heimweg machen. Wann wirst Du uns besuchen, Georg?«

»Morgen, wenn es Dir recht ist,« sagte er, zum Tisch zurückkehrend.

»Vortrefflich. Vielleicht wollt Ihr bei uns speisen, Du und die Mutter?«

Sie nahmen die Einladung an. Anna rief ihren Knaben, und Georg gab den beiden bis an die Treppe das Geleite. Dort hieß Anna den Kleinen vorausgehen und legte schmeichelnd die Hand auf den Arm des Bruders.

»Wie schön und interessant Du aussiehst!« sagte sie. »Ich begreife, daß Du einem Mädchen den Kopf verdreht hast ... Wann erfolgt Deine Installation als Vikar?«

»In acht Tagen.«

»Du wirst dort ganz allein sein, ... ohne einen Hilfsgeistlichen?«

»Ganz allein.«

»Nun, dann steht Dir nichts mehr im Wege ... Du kannst tun, was Du willst.«

»Wie meinst Du das? Was soll ich tun wollen?«

»Ich meine, daß Du jetzt Dein Mädchen ins Haus nehmen kannst ... Du bist Dein eigener Herr und brauchst das Naserümpfen Deiner Vorgesetzten nicht mehr zu befürchten.«

Georg staunte ein wenig über diese naive Unverfrorenheit. Indessen faßte er sich schnell und sagte lachend: »Ich danke Dir für den guten Rat. Leider kommt er zu spät. Das Mädchen, von dem Du sprichst, ist längst verheiratet.«

»So?« sagte sie gedehnt. »Wie schade! ... Hast Du sie sehr lieb gehabt?« setzte sie hinzu und ihre lichten Augen blitzten ihn spöttisch und neugierig an.

Verlegen kehrte er das Gesicht weg. Das rücksichtslose Schwesterlein war ihm viel peinlicher als die strenge Mutter.

»Jetzt schämt er sich, der hochwürdige Herr!« rief Anna mit hellem Lachen. »Adieu! Ich schenke Dir die Antwort. Albert, bist Du unten? Ich muß ihm nach, sonst begeht er irgendeinen Unsinn. Also, – auf morgen. Ich küsse die Hand, Hochwürden.«

Sie tat es im Ernste und enteilte mit graziösen Schritten, noch immer lachend. So hatte sie sich stets von ihm loszumachen gewußt, – mit einem Scherzwort und Lachen, wenn er zögernd versucht hatte, ihr sein Herz zu öffnen. Sein Sinneswechsel war ihr unbequem gewesen; aus Habsucht, aus Furcht vor häuslichen Szenen und Erörterungen und Störungen, aus kleinlicher Eitelkeit hatte sie sich immer taub gestellt, hatte seine schüchternen Anspielungen nicht verstehen wollen und der Mutter in allem recht gegeben, ... nicht aus Überzeugung, bloß aus Bequemlichkeit. Es macht sich gut, einen Priester in der Familie zu haben, das verleiht so armen Leuten ein gewisses Ansehen und eröffnet ihnen mancherlei Hilfsquellen, ... das war es gewesen. Und falsch war sie obendrein gewesen, diese blonde, rosige Schwester ... Nicht einmal, hunderte Male hatte sie schmeichelnd und liebkosend zu ihm gesagt: »Laß es gut sein, Georg, ... ich werde zu Dir, in Deinen Pfarrhof, ziehen und Deine Wirtschaft führen, ... nie, nie werde ich heiraten, denn nie werde ich einen Mann so lieb haben wie Dich ...« Alles, alles falsch, jedes Wort erlogen; sie hatte es nur gesagt, weil sie wußte, wie sehr er an ihr hing, wie schwärmerisch er sie liebte ... Er hatte ihr geglaubt – damals –, hatte sich dieses geschwisterliche Zusammenleben so schön und friedlich ausgemalt und sich, in der Hoffnung darauf, halb und halb mit seinem Lose ausgesöhnt. Wie mochte sie ihn ausgelacht haben, ihn, der alles glaubte, weil er selbst niemals log! Sie hatte ihn besänftigen, zum Nachgeben bestimmen wollen, alles hatten sie angewendet, um sein weiches, allzu zärtliches Sohnes- und Bruderherz zu besiegen, ... und nun? Tadel, Unzufriedenheit von der einen, Gleichgültigkeit und Spott von der anderen Seite, – das hatte er erreicht. Er stützte sich auf das Treppengeländer, blickte abwärts und dachte, dachte, dachte ... Erst als er die Stimme seiner Mutter rufen hörte: »Wo bleibst Du, Georg?« schreckte er aus seinem trüben Sinnen empor, antwortete: »Ich komme schon,« und kehrte langsamen Schrittes zu der alten Frau zurück.

Zwölftes Kapitel

Der Arzt und Paula saßen am Frühstücktische; den Kaffee hatten sie bereits getrunken, der Vater las in einem Zeitungsblatt, Paula saß ihm gegenüber und rührte mit dem Löffel in der geleerten Tasse herum.

»Vater, ...« sagte sie endlich.

Er blickte auf.

»Ich möchte Dich bitten, Vater, mir den heutigen Tag frei zu geben ...«

»Gern. Was aber hast Du vor?«

Sie schwieg. »Muß ich's sagen?« fragte sie nach einer Weile.

»Nein. Du mußt nicht, wenn Du mir nicht freiwillig sagen willst, was Du im Sinne hast.«

»Dann will ich ... erst später ...« Sie verstummte abermals und stand auf.

»Gehst Du ohne Toni?« fragte er unter dem Druck einer schweren Beklemmung.

»Ja, ... es ist besser so.«

Er beobachtete sie eine Weile. Gleich einem Bilde aus Stein stand sie da, so blaß, so unbeweglich, den Blick ins Leere geheftet. Er hielt nicht länger an sich. Dieser Zustand war unerträglich, am Ende! Rasch erhob er sich, ging zu ihr hin und packte sie bei den Händen.

»Sag mir, Kind, was aus dem allen werden soll!« sprach er mit unterdrückter Stimme. »Ich habe lang geschwiegen, ... monatelang, ... länger halte ich dieses Leben nicht aus. Liebst Du mich und Deine Schwester denn gar nicht mehr?« Seine Brust hob und senkte sich wie im Krampfe; er zitterte an allen Gliedern. Erschüttert blickte Paula ihn an, ihre Lippen zuckten wie von zurückgedrängtem Weinen.

»Habe Geduld mit mir,« sagte sie. »Es dauert nicht mehr lang. In ein paar Tagen ist alles vorüber.« Fröstelnd zog sie die Schultern in die Höhe ... »Ich weiß nicht, ... mir wird immer so kalt, wenn ich daran denke,« murmelte sie, aufs neue schaudernd.

Er gab ihre Hände frei, schritt eine Zeitlang im Zimmer auf und ab und blieb dann wieder vor ihr stehen.

»Wo ist der Kooperator jetzt?« fragte er.

»In Kufstein, bei seiner Familie.«

»Wann kommt er zurück?«

»Morgen, glaube ich ...«

»Dann bleibt er also noch vier Tage hier. Vier Jahre werden mir diese Tage erscheinen. Was hat dieser unglückliche Mensch aus meinem Kinde gemacht!« sagte er mit dumpfer Wut und nahm sein Hin- und Herwandeln wieder auf.

»Er geht ja ohnedies,« sprach Paula in bitterem Tone. »Es hat ihnen keine Ruhe gelassen, als bis sie ihn abermals aus der kaum gefundenen Heimat treiben konnten ... In Gottes Namen!« Sie wendete sich zum Gehen. »Leb wohl Vater; ich muß fort.«

»Wann kehrst Du zurück?«

»Mit dem Abendzug komme ich wieder.«

Er ließ sie gehen. Sie begab sich in ihr Zimmer, zog ihren Mantel an und setzte ihren Hut auf, trug der kleinen Schwester auf, artig zu sein, erteilte der Magd einige Weisungen und verließ sodann das Haus.

Das Wetter war trübe und kalt; einzelne Regentropfen fielen vom Himmel und die blasse Aprilsonne verkroch sich hinter die Wolken. Langsam schritt Paula dem Bahnhof zu, löste an der Kasse eine Fahrkarte und wartete in der Halle auf das Kommen des Zuges. Nach zehn Minuten traf er ein. Paula stieg in ein leeres Coupé, und als der Zug sich neuerdings in Bewegung setzte, ließ sie ein Fenster herab und blickte hinaus auf die Gegenden, an denen der Zug vorüberbrauste. Berg reihte sich an Berg, ein jeder anders gebildet, ein jeder schön; Hügel kamen und Wiesen, Dörfer, Kirchen, Kapellen tauchten auf und verschwanden. Paula schaute alles an, was sich da zeigte und rasch wieder unsichtbar wurde, und versank in Nachdenken.

Sie dachte an das, woran sie immer dachte, Tag und Nacht, ununterbrochen. Daß das Gehirn nicht stumpf und müde wird, wenn es immer und ewig denselben Gedanken durcharbeiten muß! Paula legte die Hand an die schmerzende Stirn. Wer hätte das jemals geglaubt! Was, was war aus ihr geworden! ... Diese schönen Berge! Ja, wer so stark, so groß sein könnte wie sie. Dieser weite, endlose Himmel! Diese friedlichen, kleinen Kirchen, der Trost so vieler Menschen, die Zuflucht der Verarmten! Ihr waren diese Kirchen ein Bild des Schreckens; sie wuchsen empor, riesengroß, und ihre steinernen Mauern, ihre Türme und Glocken, ihre Altäre und Heiligenbilder drängten sich zwischen ihr Herz und ein anderes, ihr so namenlos teueres Herz ... Noch vier Tage, nur noch vier Tage und dann ... Gott im Himmel! Ist's nicht genug, daß Du den Tod eingesetzt hast, muß auch noch das Leben kommen, um die Menschen voneinander zu reißen!

Sie hatten nichts verbrochen. Daß er sie, sie ihn liebte, ... wen kümmerte das? Seit der Neujahrsnacht hatten sie sich kaum gesprochen, oft tagelang nicht gesehen. Aber sie wußten doch, daß sie einander nahe. Nun werden bald Berge zwischen ihnen liegen; sie wird ausgehen und ihn nirgends finden, – und er, – wie wird er leben können ohne sie? Ein Blick, ein Wort, ein Gruß, – das alles ist so viel, wenn man liebt, – und alles entbehren müssen, alles, bis auf das kleinste ... Du gehst fort und ich bleibe hier ... Unerträglich! Unmöglich. Und dennoch wird es getragen sein müssen, wird getragen werden und das Leben wird den alten Gang gehen. Das war es eben. Ja, wenn man sterben könnte. Aber nein. Das Leben bleibt, ... keine Sorge! Das geht nur dann, wenn man es lieb hat ...

Der Zug hielt bei einer kleinen Station. Ein alter Kapuzinermönch bestieg das Coupé, wo Paula saß, und ließ sich in der Nähe des jungen Mädchens nieder. Sie dankte seinem stummen Gruß und betrachtete ihn. Er sah armselig und bekümmert aus, sein Haar und Bart waren ungepflegt, sein Auge blickte traurig. »Hat man auch Dich gezwungen, Mönch zu werden?« dachte Paula. Aufs neue starrte sie zum Fenster hinaus.

Was für ein herrlicher Mensch er geworden wäre, wenn sie ihn seinen eigenen Weg hätten gehen lassen! Er besaß nicht einen hervorragenden Fehler. Vielleicht daß er zu weich, zu schwach gewesen war, ... aber wer weiß, mit welchen Mitteln sie auf ihn eingewirkt und ihn zum Nachgeben gezwungen hatten. Er war ja sonst kein Schwächling; daß er sich unglücklich fühlte, hatte sie erraten; er selber klagte niemals und klagte niemanden an; immer war er freundlich, gut, teilnahmvoll. Als er eines Tages zu ihr kam und sagte: »Der Vikar in Keßten ist gestorben und ich bin zu seinem Nachfolger bestimmt,« als er bemerkte, was für einen Eindruck diese Mitteilung auf sie ausübte, daß sie sich mit beiden Händen am Tisch festhalten mußte, um nicht umzufallen: da war er stark geblieben, hatte noch zu lächeln und sie zu trösten versucht. »Liebe Freundin,« hatte er gesagt, »versprechen wir uns gegenseitig, daß wir während der kurzen Zeit, die ich noch hier verbringe, den bevorstehenden Abschied mit keiner Silbe berühren wollen, ... er wird frühe genug kommen. Das Heute gehört uns; was morgen erfolgt, kümmere uns heute nicht. Wer weiß, ob wir es erleben.« – »Ja, ja, wir wollen nicht davon sprechen,« hatte sie mit tonloser Stimme erwidert und beide hatten Wort gehalten.

Sie meinte ihn vor sich zu sehen, – so klar stand sein Bild vor ihrem seelischen Blick; seine Art zu grüßen, seinen Gang, seine Bewegungen, – alles glaubte sie zu sehen. Viele seiner Worte fielen ihr ein ... Dichter zog sie den Schleier vor das Gesicht und bedeckte die Augen mit den Händen. Jetzt schaute sie die Kirche ihres Dorfes ... Dort sah sie ihn häufig, denn sie besuchte das Gotteshaus immer, wenn sie ihn drinnen wußte. Er hatte sie einmal darum gebeten und sie hatte ihm noch keinen Wunsch abgeschlagen und würde es auch niemals tun; und doch war es eine Qual für sie, ihn in der Kirche zu sehen. Wie war er dort verändert! Diese eigentümlich unsichere Haltung am Altar und auf der Kanzel, ... und wenn er predigte, wie zaghaft hob er zu sprechen an! Und doch predigte er gut; liebevoll und duldsam. Seine nicht kräftige, sich leicht umschleiernde Stimme drang zum Herzen; er tadelte niemals; höchstens daß er ermahnte, daß er seine Gemeinde bat und beschwor, so zu leben, daß sie dereinstens ohne Furcht Rechenschaft ablegen könnte über ihre Taten ... Augustinus und Thomas von Kempten waren seine Lieblinge; von diesen zitierte er oft wundervolle Aussprüche, erklärte sie, führte sie aus, begeisterte sich daran ... Alle wollten ihm beichten, weil er so gut, so nachsichtig war; so ganz anders als der Dekan und der junge Mönch, ... und das war es eben, was diese ihm nicht verzeihen konnten. Sein Herz, sein innerstes Wesen riefen ihn immer wieder zurück in die Welt, zu den Menschen, zu den Freuden des Familienlebens, ... er verstand und entschuldigte alle Fehler und Schwächen, und deshalb mußte er fort. Dem Kleide nach gehörte er dem Priesterstand an, aber nur dem Kleide nach; sie konnten ihn nicht brauchen; ein unnützes Glied, mußte er abgehauen werden und verschwinden. In jenem abgelegenen Ort, wohin sie ihn verbannten, konnten seine allzu große Duldsamkeit und Menschenliebe nicht viel schaden; dort mochte er verkümmern. Das wollten sie, und so wird es auch geschehen.

Sie erwachte aus ihrem Sinnen. Beobachtete sie jemand? Sie glaubte einen Blick zu spüren, schaute auf und begegnete den Augen des alten Mönches.

»Ich sehe Sie schon lange an,« sagte dieser zu ihr. »Warum sind Sie so traurig?«

Paula ließ den Kopf hängen, gab jedoch keine Antwort.

»Wohin fahren Sie?« fragte der Mönch weiter.

»Zuerst nach – Dorf. Von dort will ich mit einem Wagen nach Keßten fahren.«

»Bis nach Keßten führt Sie kein Wagen. Die Wege sind zu schlecht, zu schmal und zu steil. Das würde kein Pferd aushalten.«

»Dann werde ich zu Fuß gehen.«

»Das ist ein langer und beschwerlicher Weg. Und den wollen Sie ganz allein machen? Erwartet Sie in – Dorf jemand?«

»Niemand.«

»Dann geben Sie acht, daß Sie sich nicht verirren.«

»Ich kann ja manchmal nach dem Weg fragen,« sagte Paula.

»Haben Sie in Keßten Freunde oder Verwandte?« fragte der Mönch nach einer kurzen Stille.

»Nein.«

»Weshalb suchen Sie in der jetzigen unfreundlichen Jahreszeit diesen weltentlegenen Ort auf?«

»Ich will ihn kennen lernen,« sagte Paula und nichts weiter.

Der Mönch gab das Fragen auf, betrachtete aber das ernste, blasse Mädchen aufmerksam. Der Zug langte am Ort an, wo Paula aussteigen mußte. Sie erhob sich und verabschiedete sich von dem Mönche.

»Der Friede des Herrn komme über Sie,« sagte dieser und sah sie bedeutungsvoll an. »Ich will für Sie beten. Gelobt sei Jesus Christus.«

»Amen,« sprach Paula trübe und verstört und verließ den Waggon. Sie wartete, bis der Zug davongefahren war, und schlug dann den Weg zum Dorfe ein. In einem sauber aussehenden Wirtshause kehrte sie ein, suchte die Wirtin auf und fragte, ob diese ihr einen Wagen zur Verfügung stellen könnte.

»Wohin wollt's denn fahren?« fragte die Wirtin.

»Nach Keßten.«

»O mei! Das is weit. Bis zum Berg kann i Ihna scho' fahren lassen, ... aber über'n Berg hinüber müßt's halt z' Fuß laufen.«

»Das will ich ... Bitte, lassen Sie nur gleich anspannen.«

»Wollt's was essen oder trinken?«

»Nein, ich danke.«

Die Wirtin führte sie in die Gaststube. Paula setzte sich und wartete auf den Wagen. Nach Ablauf einer halben Stunde fuhr dieser am Tor vor. Hastig ging Paula hinaus, nahm an der Seite des Kutschers Platz und das Pferd setzte sich in Bewegung.

Es war sehr kalt. Paula hüllte sich fester in ihren Mantel, der Kutscher breitete eine Pferdedecke über ihre Füße und meinte gutmütig: »Kan' fein' Tag habt's Euch just net ausg'sucht.«

»Das ist wahr,« sagte Paula mechanisch. Ihr Nachbar war sehr gesprächiger Natur. Er machte sie auf mancherlei aufmerksam, nannte ihr die Namen der Dörfer, an denen sie vorbeifuhren, sagte ihr, wie die Berge hießen und fragte sie wiederholt, ob ihr nicht kalt wäre. »Ös[17] seid's so blaß,« fügte er sich gleichsam entschuldigend hinzu. Sie beruhigte ihn; ihr wäre nicht kalt, er möchte nur rasch fahren.

»Wie lange braucht es, um über den Berg zu gehen, der nach Keßten führt?« fragte sie.

»Wer'n schon drei Stunden sein.«

Er trieb das Pferd zu größerer Eile an. Sie kamen sehr rasch vorwärts und hatten nach zweistündiger Fahrt ihr Ziel erreicht.

Am Fuße des Berges lag ein kleines Dorf. Paula war steif und ausgekältet von der Fahrt, und da sie auch Hunger zu spüren begann, beschloß sie, sich vor ihrer Wanderung ein wenig zu stärken. Sie ließ sich vom Kutscher ein Wirtshaus zeigen und verlangte dort nach Speise und Trank. Die Kellnerin fragte sie, wohin ihr Weg sie führe, und Paula gab abermals die gewünschte Auskunft.

»Nach Keßten!« sagte das Mädchen. »Aber bleiben werdet's net dort?«

»Nein. Ich halte mich bloß ein paar Stunden dort auf.«

»Ah so!«

»Ist denn Keßten ein so schrecklicher Ort?« fragte Paula.

»I' woaß net, ... i' bin nie noch drenten g'west. Aber g'falln' tut's koanem, hab' i' g'hört.«

Paula stellte keine weitere Frage, verzehrte ihr einfaches Mahl, beglich ihre Schuld und machte sich dann auf den Weg.

»Nur immer g'rad' hinauf!« rief die Kellnerin ihr nach. »Es is' nur der oane Weg ... Ös könnt's gar net fehl gehen.«

Paula dankte für die Auskunft und schritt langsam den Berg hinan. Auf dem schmalen Wege lagen halb verfaulte Blätter, rechts und links standen entlaubte Bäume und über allem hing ein grauer, wolkenschwerer Himmel. Manchen Baum hatte der Sturm geknickt, und sie lagen quer über den Weg und ihre dürren Äste raschelten unter dem Fuß der einsamen Wanderin. Um sie herum war es so still, nichts lebte in der noch winterlichen, abgestorbenen Natur, und diese schweigende Trauer senkte sich tief und tiefer in Paulas ahnungschweres Herz. Ihr war zumute, als ob sie weinen, als ob sie jemanden um Hilfe anrufen müßte ... »Warum sind Sie so traurig?« hatte der fremde alte Mönch sie gefragt. »O! Nicht meinetwegen! Meinetwegen nicht, frommer Vater. Hinlegen möchte ich mich auf die nasse Erde, möcht' langsam verhungern, wenn ich dadurch seinen Frieden und sein Glück erkaufen könnte. Aber was Menschen und Bücher auch sagen, – ohnmächtig ist die Liebe; sie kann weinen und fühlen, – aber helfen, ... das ist ihr oft versagt.«

Nach zweistündiger Wanderung hatte Paula den Gipfel des Berges erreicht. Vom raschen Gehen war ihr warm geworden, ihr Herz schlug laut und ihre Wangen glühten. Sie holte tief Atem und schaute in das Tal hinab. Zu ihren Füßen lag das Dorf Keßten. Von zwei Seiten schlossen es rauhe Felsen ein, nach Osten und Norden lag es frei und man erblickte in diesen Himmelsgegenden Wiesen, Wälder und kleine Ortschaften. Das Kirchlein des Dorfes stand außerhalb des Ortes, auf einem schmalen, baumlosen Hügel; die Häuser lagen zerstreut. Waren sie wirklich so klein und armselig oder täuschte die Entfernung? Und welches mochte der Pfarrhof sein? Kein Haus überragte das andere; an keines schloß sich ein Garten an; neben einigen befanden sich wohl kleine Gemüsegärten, aber Bäume und Lauben waren nirgends zu sehen.

Mit einem bangen Seufzer schickte Paula sich an, ihren Weg fortzusetzen. Der Pfad abwärts war steil und unbequem. Stellenweise kam Paula ins Laufen und war oft nahe daran, auszugleiten. Erschöpft, atemlos und mit zitternden Knieen langte sie unten an und sah jetzt das Dorf in der Nähe. Ihr Blick hatte sie nicht betrogen. Diese Häuser waren nichts Besseres als ärmliche Hütten. Einige alte Leute, Männer und Frauen, kamen ihr entgegen. Die wollte sie eben nach dem Pfarrhof fragen, als sie schaudernd innehielt. Diese Leute, erkannte sie nun, waren Kretins; sie grinsten sie an, lallten unverständliche Worte und schwankten an ihr vorüber.

»Glieder seiner Gemeinde!« dachte Paula und ging, seltsam erschüttert, weiter. Vor der ersten der Hütten stand eine Bäuerin und an diese richtete Paula ihre Frage.

»Der Pfarrhof liegt drunten, am anderen End' vom Dorf, g'rad' gegenüber vom Freithof[18],« sagte die Frau. »Aber was wollt's denn dort? Unser Herr is g'storben und der neue Vikar is noch net kimma.«

»Aber die Wirtschafterin des verstorbenen Vikars wohnt doch noch dort?«

»Ja. Also zu der wollt's.« Die Frau sah sie halb neugierig, halb mißtrauisch an. »Seid's von ihrer Freundschaft[19]

»Ja,« sagte Paula, grüßte und ging weiter. Als sie durch das Dorf schritt, fiel ihr die Dürftigkeit der Häuser noch peinlicher ins Auge; ein Rudel schmutziger Kinder trieb sich auf der Straße umher; alle stierten sie verwundert an. Jetzt hatte sie den Friedhof erreicht und blickte um sich. Eines der Häuser, einstöckig, mit grauen Fensterläden und einem vielfach geflickten Schindeldach, machte einen etwas besseren Eindruck als die umstehenden.

»Das muß der Pfarrhof sein,« dachte Paula, ging auf das Haus los und klopfte an das Tor.

»Herein!« rief drinnen eine weinerliche Frauenstimme. »Wer ist denn da?«

Paula öffnete das Tor und trat in den Hausflur. Eine schwarz gekleidete, ungefähr fünfzigjährige Frau kam ihr entgegen. Von Gestalt war die Frau klein und schmächtig, sie hatte ein verhärmtes Gesicht und rotgeweinte Augen. Ihr ganzes Wesen drückte schüchterne Verzagtheit aus.

»Was steht zu Diensten?« fragte sie, durch den Anblick einer Fremden sichtlich in Angst versetzt.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie störe,« sagte Paula. »Ich werde Sie nicht lang aufhalten; ich habe Sie nur einiges zu fragen.«

»Wollen Sie nicht hinaufspazieren, ins Wohnzimmer vom seligen Herrn?« fragte die Frau und Tränen schossen in ihre Augen und liefen über ihre eingefallenen Wangen; hastig trocknete sie sich das Gesicht mit der Schürze ab. Sie ging voran und geleitete Paula in ein über alle Begriffe unwohnliches Gemach. An den schadhaften Stellen der Wandmalerei und an den Löchern in den Wänden konnte man erkennen, daß hier Möbel angerückt gewesen waren und Bilder und Gardinen gehangen hatten. Ordnungslos, teilweise in Stroh gewickelt, standen Möbelstücke umher, auf einem mit Staub bedeckten Tisch und einigen Stühlen lagen Pakete. Die Frau säuberte die Stühle und wischte mit der Schürze den Staub von denselben und bat Paula dann, Platz zu nehmen.

»Die Sachen gehören dem neuen Herrn Vikar,« sagte sie. »Vor ein paar Tagen sind sie angekommen. Ich traue mich nichts anzurühren, ... es könnte dem Herrn nicht recht sein. Aber schrecklich traurig sieht's hier aus, ... wie in einer Möbelhandlung oder bei einer Versteigerung.«

»Sie sollten doch Ordnung schaffen,« bemerkte Paula. »Bedenken Sie den Eindruck, den diese Unordnung auf einen Ankömmling machen muß!«

»Was kann ich tun?« entgegnete die Frau mit trübem Kopfschütteln. »Weiß ich denn, ob ich das Richtige treffe!«

»Ich werde Ihnen dabei behilflich sein,« sagte Paula und legte Hut und Mantel ab. »Ich kenne Ihren neuen Vikar. Er wird uns Dank wissen, wenn wir die Wohnung zu seinem Empfang ein wenig herrichten.«

Die arme Frau ging auf den Vorschlag gern ein. Sie machten sich an die Arbeit, packten die Möbel aus, hingen Gardinen an die Fenster, schlugen im Nebenzimmer das Bett auf, und Paula erwies sich bei allem, was sie anfaßte, so geschickt und unermüdlich, daß die Frau nicht mithin konnte, das junge Mädchen zu bewundern.

»Vieles fehlt noch,« sagte Paula, als sie fertig waren, zog ein Notizbuch hervor und schrieb einiges auf.

»Ich dachte mir, daß dem so sein würde, und deshalb bin ich gekommen. Das Küchengeschirr hat der Herr Vikar ganz und gar vergessen.«

Sie lächelte flüchtig; es machte ihr Freude, wie eine Hausfrau für ihn sorgen zu dürfen, und nachdenklich rieb sie sich die Stirn. »Habe ich alles notiert?« fragte sie sich selbst. Ja. Ihr praktischer, hausmütterlicher Sinn hatte alles übersehen. Sie wußte, was noch angeschafft werden mußte, auf daß die Wirtschaft, wie es sich gehörte, geführt werden konnte.

»Versäumen Sie nur nicht, die Fenster am Tag offen zu lassen, damit frische Luft in den Zimmern herrsche,« sagte sie und setzte sich erschöpft und mit erhitzten Wangen nieder. »Und am Tag, wo der Herr Vikar ankommt, heizen Sie in den Stuben tüchtig ein ... Es ist noch sehr kalt und der Herr Vikar nicht kräftig.«

Die Frau versprach das alles zu tun und schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht.

»Ich kann's noch immer nicht glauben, daß mein guter Herr tot ist, daß ein anderer ...«

Tränen erstickten ihre Stimme.

»Sie haben den verstorbenen Vikar wohl sehr lieb gehabt, nicht wahr?« fragte Paula, das trostlose Gesicht der Frau teilnahmvoll betrachtend.

Diese fing laut zu schluchzen an. »Gott weiß, wie sehr er's verdient hat, daß alle Leut' ihn lieb gehabt haben,« sagte sie endlich. »Er war ein so braver Herr und so wohltätig und geduldig; denn hier zu leben ist keine leichte Aufgabe, meine liebe Fräul'n; aber er hat alles ruhig ertragen, bis zum letzten Augenblick und hat immer noch auf die Armen gedacht ... Und jung war er auch noch, ... bereits erst vierzig Jahre alt und hat schon sterben müssen. Aber es ist ihm immer vorgegangen, daß er bald sterben wird, und wie wir hergekommen sein – das sein nun bereits fünf Jahre her –, hat er zu wir gesagt: ›Leni,‹ hat er gesagt, ›wirst sehen, hier halte ich's nicht lange aus; ich werde es machen wie die anderen, die hier gewesen sein, ich werde bald sterben.‹«

»Warum sagte er: ich werde es machen wie die anderen?« fiel Paula erblassend ein. »Ist denn das Klima hier so ungesund?«

»Sehr, meine liebe Fräul'n. Schauen Sie einmal zum Fenster hinaus; sehen Sie, von zwei Seiten kann der Wind herkommen und Wind haben wir das ganze Jahr. Und schauen Sie sich die Wiesen an, ... nichts als sumpfiger Boden; deswegen kriegen's auch hier so leicht das Fieber. Und die Leut' hier sein arm; viel Kinder haben alle, ... aber sonst gibt es hier keinen Segen. Obst wächst keines und auch kein Getreide, ... die Luft ist so rauh, wir haben einen schrecklich langen Winter und einen so kurzen Sommer, und im Frühjahr schwemmt's den Schnee von den Bergen herunter, daß man verzweifeln könnt'. Ja, mein lieber seliger Herr hat hier nichts Gutes gehabt. Ich bitte Sie, wo alle arm sind, ist der Seelsorger auch arm; in anderen Pfarren muß die Gemeinde dem Geistlichen Abgaben entrichten, an Getreide oder sonst was, ... aber hier! Was sollen die Leut' hergeben, wenn sie selber nichts haben? Wenn ich reden wollt', könnt' ich manches erzählen ... Wir haben oft nicht gewußt, wie einfach wir leben sollen, um drauszukommen ... Und so viele Leut' sind hier alleweil krank und die Häuser liegen nicht beisammen, ... eines da, das andere dort, ... und die Kranken wollen doch, daß der Geistliche sie heimsuchen kommt. Und dann haben die Sappermenter die Kirche noch auf einen Berg hinbaut ... Denken Sie nur, was es heißt, jeden Tag dort hinauf gehen! Bei jedem Wetter. Im Winter war es oft schier unmöglich, ... da hat der Herr sich erst mit einer Schneeschaufel den Weg frei machen müssen, ... die Messe muß halt doch gelesen werden und der Herr hätte es auch nicht anders getan, ... er war so brav. Aber gehustet hat er schon lang und das Fieber hat er auch gehabt, ... und dazu das schlechte Wasser und nur zweimal in der Woche Fleisch, ... und was für eines! Die Leut' haben ja recht, wenn sie den Ort den geistlichen Tod nennen; keiner der Herren ist hier gesund geblieben, ... alle sein lungenkrank geworden und gestorben.«

Ein kalter Schauer kroch durch Paulas Gebein. Lungenkrank geworden, – gestorben, – der geistliche Tod. Ihr war, als ob sich die Zukunft vor ihr öffnete, – groß, schwarz, unerbittlich. Darum also hatten sie ihn hierher verbannt.

»Weshalb wurde Ihr Vikar, der doch ein braver Priester war, gerade nach Keßten versetzt?« fragte sie gedankenlos.

»Das mag der liebe Himmel wissen! Soviel ich gehört habe, hat er's einem Freund zuliebe getan; der war nicht recht gesund und hätte nach Keßten kommen sollen, und da hat halt mein Herr gebeten, sie möchten ihn statt seinem Freund hierherschicken. Sie haben recht, Fräul'n; ein braver Priester gehört an einen besseren Ort und es sein halt auch immer schlechte Herren hier gewesen, ... oder nicht gerade schlechte, aber halt leichtsinnige Herren, die nicht gut getan haben. Hier freilich sein alle still und dasig geworden und alle haben wieder fort wollen, ... aber die Herren in Salzburg sein ein bissel streng, wenn einer von ihren Geistlichen sich was hat zu schulden kommen lassen, und so haben sie einem jeden geschrieben, er soll nur bleiben, wo er ist. Und sie sein auch alle hier geblieben, ... draußen, auf dem Freithof, liegt einer neben dem anderen.«

Nach vorne gebeugt, die Finger krampfhaft ineinander verschlungen, saß Paula da; in ihrem leichenblassen Gesicht spiegelte sich eine so qualvolle Bangigkeit wider, daß die Frau, von einer unbestimmten Ahnung erfaßt, ihren Stuhl hart an den des Mädchens rückte und die Hand auf Paulas Arm legte.

»Warum geht Ihnen das Schicksal der armen fremden Herren so nahe?« fragte sie leise.

Paula haschte nach den abgearbeiteten Händen der Frau und schaute ihr in die Augen. Es war ein langer, langer, flehender Blick.

»Ich will Ihnen sagen, warum,« sprach sie dann stoßweise. »Sie sind gut, Sie werden mich verstehen. Sie wollen doch dem neuen Vikar die Wirtschaft führen?«

»Wenn er mich mag ...«

»Er wird. Sagen Sie ihm nie, daß ich hier war. Er ... er kümmert sich nicht um mich« (sie wandte das Gesicht ab bei diesen Worten), »ich bin ihm ... gleichgültig. Er braucht also von alledem nichts zu wissen.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Und noch eines,« sprach sie hierauf. »Achten Sie auf ihn, sorgen Sie für ihn, wie Sie es für Ihren nun toten Herrn getan haben. Sie werden ihn lieb gewinnen, er ist gut und wird Sie rücksichtsvoll behandeln. Geloben Sie mir, das alles zu tun?«

»Mein Gott, ja. Ich werde den Herrn Vikar wie meine Augen behüten. Ist er noch jung?«

»Dreißig Jahre ist er alt,« sprach Paula. Ihre Stimme zitterte.

»Und Sie haben ihn halt gern,« sagte die Frau mitleidvoll.

Paula gab darauf keine Antwort.

»Leben Sie wohl,« sagte sie. »Ich habe einen weiten Weg vor mir und kann mich nicht länger aufhalten.« Sie drückte der anderen eine Banknote in die Hand und wehrte die Frau, die ihr die Hand küssen wollte, hastig ab. »Danken Sie mir nicht, ... Sie leisten mir viel größere Dienste, als ich jemals vergelten kann. Vergessen Sie nur nicht, was Sie mir versprochen haben. Seien Sie gut gegen ihn, ... er ... er braucht Teilnahme, ... und leben Sie wohl, leben Sie wohl.«

Rasch eilte sie aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, zum Hause hinaus und lenkte den Schritt nach dem Kirchhof. Unter den ärmlichen Holzkreuzen ragte eine Reihe von Grabsteinen hervor; zu diesen ging Paula hin und las die Inschriften. Da lagen die »Herren« ... Das junge Mädchen kniete neben dem letzten der Gräber nieder, klammerte sich mit beiden Händen an den Stein und starrte auf das Grab. Der Fleck, auf dem sie kniete, war ein Stück ebener, mit Gras bewachsener Erde. Da drunten ruhte niemand; diese Wohnung war noch leer.

Zur selben Stunde saß Georg Harteck mit seiner Schwester am Fenster und plauderte mit ihr. Plötzlich gab es ihm von innen gleichsam einen Stoß und er schüttelte sich, als ob er Fieber hätte.

»Ist Dir kalt?« fragte Anna. »Soll ich das Fenster schließen?«

»Nein,« antwortete er. »Mir lief nur ein Schauer durch den Leib. Es geht schon wieder vorüber.«

»Weißt Du, was das nach dem Aberglauben der Leute bedeutet?« fragte die Schwester mit leisem Lachen. »Daß jetzt jemand auf Dein Grab getreten ist ... So ein Unsinn!«


Zum Tode matt und mit schwerem Herzen erreichte Paula am Abend den Bahnhof. Sie hatte nicht nur den Berg aufs neue übersteigen, sondern auch den Weg vom Fuße des Berges bis zur Bahnstation zurücklegen müssen und kam kurz vor Eintreffen des Zuges an ihrem Ziele an. Ihre Stimme klang erschöpft, als sie jetzt den Schaffner bat, ihr ein möglichst leeres Coupé anzuweisen, und der Mann war gefällig genug, ihr einen Waggon aufzuschließen, in dem sich nur ein einziger Passagier befand. Dieser stand am Fenster und wendete sich um, als er jemanden einsteigen hörte; doch er kehrte dem jungen Mädchen, das still in der entgegengesetzten Ecke Platz nahm, sogleich wieder den Rücken zu, lehnte sich ins offene Fenster und sah neuerdings auf die Gegend hinaus. Paula würde ihren Reisegefährten wahrscheinlich gar nicht beachtet haben, wenn nicht der schwarze, weit über die Kniee reichende Rock und das schwarze Kollare ihr verraten hätten, daß sie mit einem katholischen Priester fuhr. Längere Zeit, vielleicht um irgendeine Beschäftigung zu haben, blickte sie ihn prüfend an. Er war sehr sauber gekleidet, hatte ein Reisetäschchen, an einem Riemen befestigt, um den Leib hängen, und unter seinem schwarzen, runden Hut quoll dichtes, blondes Haar hervor. Auf der Bank neben ihm lagen ein Buch und mehrere Zeitungen.

Der Schaffner zeigte sich auf dem Trittbrett und streckte den Kopf zur Tür herein.

»Wohin fahren Sie, Fräulein?« fragte er.

»Nach St. Jakob,« antwortete Paula und wies ihr Billett vor. Bei diesen Worten drehte der junge Geistliche sich plötzlich um und sah das junge Mädchen flüchtig an. Er war noch sehr jung und sein hübsches, von der Gebirgsluft frisch gefärbtes Gesicht ließ auf Intelligenz, Selbstvertrauen und Entschlossenheit raten; seine graublauen Augen blickten ein wenig kalt und um seinen vollen roten Mund lag ein Zug, der eine gewisse trotzige Härte bekundete. Die Gestalt des jungen Mannes erreichte die Mittelgröße und war schlank, obschon durchaus kräftig. Er machte den Eindruck eines geistig und körperlich gleich gesunden Menschen.

»Hochwürden fahren auch nach St. Jakob?« fragte ihn der Schaffner.

Der junge Geistliche nickte stumm und nahm seine vorige Stellung wieder ein.

Der Schaffner zog sich zurück, ein Pfiff ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung.

Von ihrem Mitpassagier war keinerlei Störung zu befürchten und Paula wußte ihm Dank dafür: mit einem Fremden zu sprechen wäre ihr qualvoll gewesen. Im Geiste jedoch legte sie sich die Frage vor, was dieser junge Mann in St. Jakob zu tun haben mochte, ob er bloß auf Besuch käme oder ob er vielleicht Georgs Nachfolger wäre. Sein Nachfolger! Bei diesem Worte erwachte wieder alles: der bevorstehende Abschied, das Nimmerwiedersehen, ... sie sah den häßlichen Ort vor sich, von dem sie kam, den dürftigen Pfarrhof, die arme Frau mit den rotgeweinten Augen, den Gottesacker, die Gräber, ... und die entsetzliche Bezeichnung des Ortes: der geistliche Tod klang traurig wie ein Zügenglöcklein in ihrem Ohre nach ... Wenn sie allein gewesen wäre, würde sie sich auf die Bank gelegt und recht, recht bitterlich geweint haben.

Der junge Geistliche stand noch immer am Fenster und fuhr fort, die Gegenden zu betrachten, obwohl er nicht mehr viel sehen konnte. Der Abend war hereingebrochen, Berg und Tal verschwammen in dunklen Umrissen. Sie waren ihrem Ziel schon nahe, als der junge Mann, des zwecklosen Hinausstarrens müde, seinen Platz am Fenster verließ, sich setzte und nach einer Zeitung griff. Die Lampe im Waggon verbreitete ein nur spärliches Licht und der Geistliche gab das Lesen bald wieder auf. Er fuhr mit der Hand ein paarmal über seine Augen, verkreuzte die Beine, trommelte mit dem Fuß auf dem Boden, sah nach der Waggondecke, den Fenstern, den Bänken und endlich nach Paula. Er hatte jenen eigentümlichen, kalt abweisenden Blick, über den manche junge Geistliche verfügen, sobald sie Frauen ansehen. Sie scheinen dann mit den Augen sagen zu wollen: Gebt Euch keine Mühe; Ihr und wir haben miteinander nichts zu schaffen; für uns existiert Ihr nicht.

Paula war sich bewußt, den Priester längere Zeit fixiert zu haben; sie hatte es ohne Arg, ja, fast mechanisch getan. Jedoch sein scharfer, ans Feindselige streifender Blick belehrte sie, daß er es übelgenommen. Gleichgültig wendete sie die Augen von ihm ab.

Der junge Mann schien unter dem Druck einer großen Ungeduld oder Unruhe zu sein. Paula konnte ihn zwar nicht sehen, weil sie absichtlich vermied, ihn anzublicken; aber sie hörte ihn bald aufstehen, bald wieder Platz nehmen, seine Handtasche auf- und zuschnallen, auf seinem Sitze hin- und herrücken und einige Male seufzen. Die Fahrt dünkte ihn wohl schon lang. Als der Zug endlich in St. Jakob einlief, stand der Geistliche hastig auf, hatte jedoch, trotz seiner sichtbaren Ungeduld, die Höflichkeit, zu warten, bis seine Reisegefährtin ausgestiegen sein würde. Paula verbeugte sich flüchtig, bevor sie das Coupé verließ, der Geistliche lüftete den Hut und damit trennten sie sich.

Auf dem Perron erblickte Paula zwei wohlbekannte Gestalten: ihren Vater und an seiner Hand die kleine Toni. Sie eilte auf sie zu und küßte beide, der Arzt gab ihr den Arm, Toni faßte sie bei der Hand und so schritten sie, in scheinbarer Eintracht, ihrem Heim zu.

Das Abendbrot stand schon auf dem Tisch, im Ofen brannte ein helles Feuer und die Lampe verbreitete im Gemach ein trauliches Licht.

»Du bist gewiß recht müde, hungrig und ausgekältet,« sagte der Vater und half Paula Hut und Mantel ablegen, während Toni mit geschäftiger Eile die Hausschuhe der Schwester herbeibrachte. »Komm, setze Dich, mein Kind; erwärme und stärke Dich.«

In Paulas Augen blitzten Tränen. Dieser liebevolle Empfang rührte sie und erweckte ein Gefühl der Reue in ihrer Brust. Wie sehr vernachlässigte sie diese Menschen, die ihr vor kurzem noch so viel, ja, alles gewesen waren! Sie hatten sich nicht verändert; was aber war mit ihr vorgegangen! Seit vielen Tagen fehlte ihr der Mut, das Bild der Mutter anzuschauen und sie um ihren Segen anzuflehen. Sie wußte, daß die Tote, wenn sie sprechen könnte, jetzt nicht mehr sagen würde: »Ich bin mit Dir zufrieden, Paula.«

Als Toni schlafen gegangen war, stand Paula auf, kniete neben dem Vater nieder und legte die Arme und den Kopf auf seinen Schoß. Er beugte sich auf sie herab und streichelte sanft ihr Haar. Lang, lang blieben beide stumm.

Endlich sagte Paula: »Du fragst mich nicht, wo ich heute war. Ich will es Dir unaufgefordert sagen. Ich war in Keßten. O Vater, der Ort ist greulich. Sie heißen ihn den geistlichen Tod, weil die Luft dort so ungesund und die Seelsorge so beschwerlich ist, daß die Priester über kurz oder lang zugrunde gehen. Du weißt, Vater, daß er ... Herr Harteck, wollte ich sagen, ... nicht stark ist auf der Brust ... Ich beschwöre Dich« ... und sie blickte auf und hob die gefalteten Hände zu ihm empor ... »ich beschwöre Dich, rette ihn. Wenn Du ihn auch nicht liebst, ... so kannst Du doch nicht wünschen, daß er sterben soll!«

»Ich wünsche nichts dergleichen,« versetzte der Arzt. »Was aber vermag ich zu tun? Soll ich mich in die Angelegenheiten mir völlig fremder Personen mengen? Mich um das Schicksal eines Priesters kümmern, der, wie leider allenthalben bekannt ist, meine eigene Tochter liebt? Soll ich zum Dekan gehen und ihn bitten, den Herrn hier zu lassen?«

»Nein, Vater. Daß er gehen muß, ... darein habe ich mich gefunden. Aber nicht dorthin! Nicht an jenen traurigen Ort! Du brauchst ja bloß zu sagen, daß Du, als Arzt, für dringend geboten hältst, daß Harteck nach dem Süden gehe, ... daß die Herren ihn anderswohin versetzen möchten ...«

»Was aber würde der Geistliche dazu sagen? Er hat meinen ärztlichen Rat niemals begehrt und ist, soviel ich weiß, gesund. Ich kann mich ihm doch nicht aufdrängen.«

»Das sollst Du auch nicht. Gib mir nur Dein Wort, daß Du so sprechen wirst, wenn Deine Meinung verlangt werden sollte, ... alles andere überlaß mir

»Das verspreche ich Dir gern,« sagte er und strich mit der Hand ihren Scheitel glatt. »Was aber hast Du vor? Ich spreche nicht von mir, bloß von Dir. Du wirst Deinen Ruf, Deine Zukunft, Dich selbst zugrunde richten, armes Kind.«

»Ich habe nichts Schlimmes im Sinn,« antwortete Paula. »Ich gedenke nur Herrn Harteck zu bestimmen, sich von Dir untersuchen zu lassen, – weiter nichts. Ich bereite Dir vielen Kummer, Vater, ich weiß es. Aber Gott ist mein Zeuge, daß ich es nicht mit Willen tue; wenn ich allein elend wäre, würde niemand darunter zu leiden haben, ... am allerwenigsten Du und Toni. Aber daß auch er unglücklich ist, ... das ist es, was mich niederdrückt. Ich bin nun einmal so angelegt, daß ich diejenigen, die mir teuer sind, nicht leiden sehen kann, ohne daß mir das Herz darüber bricht.«

»Du bist jung,« sprach der Arzt. »Ein langes Leben liegt vor Dir. Du wirst vergessen lernen.«

»Niemals,« sagte Paula feierlichen Tones. »Ich werde ihn nie vergessen, Vater.« Sie stand bei diesen Worten auf und reichte ihm die Hand. »Nun gute Nacht,« sagte sie. Er schaute sie an und, von einem inneren Impulse getrieben, warf sie sich an seine Brust.

»Verzeih mir, ... verzeih mir ...«

Er war unfähig, ein Wort hervorzubringen. Stumm hielt er sie an sein Herz gedrückt, – seine Brust arbeitete heftig. Wohl stand ein Schatten zwischen ihm und dem Glück seines Hauses, er sah die Tochter elend und konnte nicht helfen. Aber er besaß doch wieder ihr Vertrauen, offen lag ihr krankes Herz vor ihm, er sah, daß in diesem verirrten Herzen noch Liebe für ihn wohnte und Reue, und er fing aufs neue zu hoffen an, daß alles noch gut werden könnte. Sie, die er in seinen Armen hielt, war die alte, schon verloren geglaubte Tochter; dem Himmel sei Dank! sie war endlich, endlich zum Vater zurückgekehrt.

Dreizehntes Kapitel

Am darauffolgenden Tag gefiel es dem launenhaften April ein freundliches Gesicht zu zeigen. Toni war selig darüber und jagte, einen Reif vor sich hertreibend, über die Gartenwege, während Paula, ein Buch in der Hand, am Geländer stand und abwechselnd auf das Kind und auf die Straße blickte. Alle, die vorbei kamen, grüßten sie, manche blieben stehen und sprachen ein paar Worte mit ihr, und Paula gab allen teilnahmvolle Antwort, – gerade so, wie sie es sonst getan. Auch der junge Schullehrer kam des Weges einher; er zögerte, da er des Mädchens ansichtig wurde, und überlegte, ob er sie anreden sollte oder nicht; sein Gefühl siegte, er blieb stehen und zog errötend den Hut vom Kopfe.

Sie waren einander arg entfremdet; selten sahen sie, noch seltener sprachen sie sich. Er hatte diese Entfremdung niemals besser gefühlt als jetzt, wo sie ihn anblickte und seinen Gruß so höflich und gleichgültig erwiderte, – nicht anders, als ob sie einen wildfremden Menschen grüßte.

»Wie steht Ihr Befinden, Fräulein Paula?« fragte er unsicheren Tones.

»Danke, mir geht es gut. Und Ihnen?«

»Nun, so, so.« Er bohrte seinen Spazierstock in die Erde und betrachtete ihn scheinbar aufmerksam. »Was liegt Ihnen auch an meinem Befinden!«

In der Tat, ihr lag nicht viel daran; aber sie erwiderte: »Lassen Sie uns friedlich bleiben, ... ich bitte Sie darum. Was gibt es Neues?«

»Nichts von Belang. Der Nachfolger des Kooperators ist gestern hier eingetroffen. Vielleicht interessiert Sie das.«

Sie schwieg.

»Und unser geliebter Seelsorger, Herr Harteck,« fuhr er mit einer Grimasse fort und stieß die Spitze seines Stockes heftig in den Erdboden, »ist ebenfalls heute morgen zurückgekehrt. Doch das war Ihnen ohne Zweifel schon bekannt.«

»Nein,« sagte Paula.

»Nicht? Das wundert mich.« Er nahm den Hut vom Kopfe und wirbelte mit den Fingern sein Haar auf. »Die Stunde, in der dieser Herr zum Teufel geht, wird die schönste meines Lebens sein,« sprach er und aus seiner Stimme schlug ingrimmige Schadenfreude heraus.

Paula wendete sich zum Gehen.

»O! bleiben Sie nur!« sagte der Lehrer. »Ich bin schon wieder artig.« – Finsteren Blickes starrte er die Straße hinab. »Der Wolf in der Fabel!« murmelte er. »Dieser Mensch läuft aber auch immer über meinen Weg.«

Er bemerkte, daß Paula zusammenschrack und der Richtung seiner Augen folgte.

»Adieu!« rief er kurz und entfernte sich mit großen Schritten.

Sie beachtete ihn nicht weiter; dachte nicht einmal mehr an ihn. Ihr Blick ruhte unverwandt auf der näherkommenden schwarzen Gestalt. Harteck war nicht allein. An seinem Arm hing ein junger Mann, derselbe Geistliche, der gestern Paulas Reisegefährte gewesen war. Die beiden sprachen angelegentlich miteinander und schienen recht heiter zu sein; der fremde Geistliche hatte eine jugendlich klare Stimme, sprach lebhaft und lachte manchmal lustig auf.

Paula konnte sich nicht verhehlen, daß dieser Anblick ihr wehe tat; Eifersucht regte sich in ihrer Brust. Wer war dieser Mensch, der sich so vertraulich auf Georgs Arm stützte, ihn so fröhlich zu stimmen wußte? ... Sie sah den jungen Mann mit zusammengezogenen Brauen und durchdringendem, fast feindseligem Blicke an.

Ganz in sein Gespräch vertieft, bemerkte er sie nicht. Harteck jedoch wendete den Kopf nach dem Garten hin und entdeckte das junge Mädchen. Er sagte seinem Begleiter etwas ins Ohr, was zur Folge hatte, daß dieser die Augen auf Paula heftete und den Arm des anderen fahren ließ. Harteck schritt auf Paula zu, während der Fremde in einiger Entfernung stehen blieb und sich mit Cäsar, der auch dabei war, zu schaffen machte.

Harteck reichte dem jungen Mädchen über dem Gartenzaun die Hand, und zum erstenmal zögerte Paula, seine Hand zu ergreifen; sie tat es am Ende doch, wenn auch sehr flüchtig, und fragte rasch: »Wer ist der Herr?«

»Denken Sie sich diesen eigentümlichen Zufall,« sagte Harteck und der Ton seiner Stimme wie das schwache Rot auf seinen Wangen bekundeten freudige Erregung. »Ich habe Ihnen einige Male von einem Freunde erzählt, ... demjenigen, den ich wartete, da er krank war, ... übrigens habe ich bloß den einen Freund ... und eben der ist bestimmt, mich hier zu ersetzen.«

»In der Tat,« sagte Paula, »das ist ein seltsames Zusammentreffen. Es ... es freut Sie wohl sehr, ihn wiederzusehen?«

»Sehr,« gab er arglos zu. »Er ist ein so prächtiger, lieber Mensch.« Zärtlich sah er nach ihm hin, und der junge Geistliche, der fühlen mochte, daß von ihm die Rede war, blickte ebenfalls auf die beiden. »Wollen Sie, daß ich ihn Ihnen vorstelle?«

»Nein,« sagte Paula ablehnend. »Lieber ein anderes Mal.«

Sie sagte es so gereizt, daß er sie befremdet ansah.

»Was ist Ihnen?« fragte er. »Habe ich wider Willen das Unglück gehabt, Ihnen in irgend etwas zu mißfallen?«

Worte und Ton entwaffneten sie, und sie versetzte mit kleinlauter Stimme: »Seien Sie mir nicht böse, ... aber ich kann Ihnen nicht verschweigen, daß es mir wehe tut, Sie so ganz erfüllt von Ihrem Freunde zu sehen, ... und das ein paar Tage vor Ihrem Abschied von hier und ... von mir ...«

Sie kehrte das Gesicht weg.

»Wie grausam Sie sind!« entgegnete er mit plötzlichem Ernst. »Mißgönnen Sie mir das Glück, jemanden lieb zu haben, und möchten Sie mich lieber traurig als ein wenig gefaßt und aufgeheitert sehen?«

»Nein! O nein!« sprach sie rasch. »Aber ich sehe voraus, daß Sie sich während dieser letzten Tage ganz Ihrem Freunde widmen, mich vollständig vernachlässigen werden ...«

»Das denken Sie nicht,« fiel er ein. »Das können Sie nicht denken, Paula.«

Sie glaubte ihm und fühlte sich beschämt.

»Rufen Sie Ihren Freund her, ich bitte Sie darum,« sprach sie errötend.

In seinem Gesicht prägte sich ungeschminkte Freude aus. »Juchei[20]!« rief er sich umwendend und winkte dem jungen Geistlichen, heranzukommen. Dieser trat grüßend auf sie zu.

»Mein Freund, Kooperator Perkow, Fräulein Reinberg,« sagte Harteck.

Der Geistliche verneigte sich abermals.

»Ich habe gestern schon das Vergnügen gehabt, das Fräulein zu sehen,« sagte er. »Wir sind eine Strecke weit zusammen gefahren.«

»Davon hast Du mir gar nichts gesagt,« warf Harteck ein.

»Ich habe ja nicht gewußt, daß Du mit dem Fräulein bekannt bist,« entgegnete der junge Mann. »Freilich hätte ich es mir denken können. Der Ort ist nicht so groß, als daß nicht alle Welt einander kennen sollte. Wohnen Sie schon längere Zeit in St. Jakob?« fragte er Paula.

Sie bejahte die Frage, und weil er sich einige Auskünfte über Land und Leute von ihr erbat, erzählte sie ihm verschiedenes, wovon sie dachte, daß es ihn interessieren könnte; und schließlich sprach sie den Wunsch aus, daß es ihm hier recht gut gefallen möchte.

»Das bezweifle ich keineswegs,« sagte der junge Priester. »Es gefällt mir hier recht wohl, die Gegend, der Ort, alles.«

»Auch der Dekan?« fragte Harteck mit einem Lächeln.

»Weshalb nicht? Wir werden uns gewiß miteinander vertragen. Übrigens war mein früherer Prinzipal auch kein Engel.«

»Ich habe Dir schon mehrere Ratschläge erteilt,« sagte Harteck. »Durch Erfahrung wird man klug, und ich rate Dir alles das zu befolgen, was ich leider zu tun versäumt habe. Der Dekan will geschmeichelt sein, und seinem Fräulein Nichte mußt Du, wenn Du Dich in ihre Gunst setzen willst, ein wenig den Hof machen.«

»Den Hof machen?« wiederholte der andere und zuckte mit den Achseln. »Davon verstehe ich nichts.«

Paula blickte ihn an. Sein junges, hübsches Gesicht sah sehr verständig, aber auch sehr unverdorben aus ... Eine, man könnte fast sagen jungfräuliche Herbheit wohnte in diesen männlichen Zügen, in diesen kalten blauen Augen. »Daß Du davon nichts verstehst noch verstehen willst, glaube ich Dir aufs Wort,« dachte Paula.

Toni hatte sich verstohlen genähert und stand an die große Schwester gelehnt; in der einen Hand hielt sie den Reif, mit dem freien Arm umschlang sie Paulas schlanken Leib und schaute den fremden Geistlichen mit ihrem offenen Kindesblick neugierig an.

»Meine Schwester,« sagte Paula und drückte das Kind an sich. »Gib dem Herrn die Hand, Toni.«

Lächelnd und errötend gehorchte die Kleine. Perkow blickte sie ziemlich gleichgültig an.

»Sind Sie kein Kinderfreund?« fragte ihn Paula, etwas pikiert darüber, daß ihr Schwesterchen so gar keinen Eindruck hervorzurufen schien.

»Ich mag Kinder wohl leiden,« versetzte der Gefragte, »vorausgesetzt nämlich, daß sie gut erzogen sind, sich nicht unnütz machen und vor allem gehorchen.«

»Bist Du ein solches Musterkind, Toni?« sagte Paula zu ihrem Schwesterchen. Die Kleine drückte das Kinn an den Hals und verzog die Lippen. Der neue geistliche Herr mißfiel ihr in hohem Grade.

»Sie scheint ein bißchen trotzig zu sein,« bemerkte dieser. »Lernt sie brav?«

»Sie ist die beste Schülerin,« sagte Paula, »und daß sie trotzig sei, hat bis jetzt noch niemand herausgefunden.«

Der junge Geistliche wollte etwas entgegnen, doch Harteck berührte leise seinen Arm und bat ihn mit den Augen, zu schweigen. Eine Pause trat ein ... Hierauf sagte Perkow: »Wir haben das Fräulein lang genug aufgehalten. Wollen wir uns nicht verabschieden?«

»Wie es Dir gefällig ist,« sagte Harteck unzufriedenen Tones. Sie grüßten, die Schwestern dankten schweigend, und während Perkow sich in Bewegung setzte, blieb Harteck noch stehen und fragte Paula mit leiser Stimme: »Gestatten Sie, daß ich heute noch einmal bei Ihnen vorspreche?«

»Wenn Sie Zeit für mich haben, ...« antwortete sie ziemlich kalt.

Er verbeugte sich stumm und eilte dem Freunde nach.

»Bist Du immer so streitlustig, wenn Du mit Frauen zu tun hast?« fragte er, als er ihn eingeholt hatte.

»Ich? Streitsüchtig?« entgegnete Perkow mit ungeheucheltem Erstaunen. »Du bist wohl nicht recht gescheit. Verschweigen kann ich Dir zwar nicht, daß mir dieses Fräulein nicht gefällt. Ich liebe so ernste, blasse, empfindliche und eingebildete Frauenzimmer keineswegs. Junge Mädchen sollen heiter und bescheiden sein.«

»Du bist, trotz Deinen sechsundzwanzig Jahren, nicht wenig pedant,« sagte Harteck.

»Mag sein. Das gehört übrigens zu unserem Berufe. Wohin würde der schuldige Respekt kommen, wenn wir alle diese frauenzimmerlichen Grillen und Launen nachsichtig oder gar wohlgefällig beurteilten? Zwischen dem Auftreten eines Priesters und dem anderer Leute muß doch immer ein gewisser Unterschied bestehen, ... eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Jede Art von Familiarität muß streng vermieden werden. Wenn ich schon durchaus mit Frauen verkehren soll, dann mag es mit Bäuerinnen sein. Diese städtisch gekleideten Dorfbewohnerinnen sind mir von jeher zuwider gewesen; sie dünken sich etwas Besonderes und wollen sich, vermöge ihrer sogenannten Bildung, auf eine Stufe mit uns stellen, ... und das heißt nichts. Ich bin nicht gewohnt, daß junge Mädchen ihrem Seelsorger in so kategorischem Tone antworten, wie Dein Fräulein Reinberg getan hat.«

Harteck schwieg auf diese Rede, sein Gesicht aber drückte Unzufriedenheit aus.

»Ich sehe, daß meine Sprache Dir mißfällt,« sagte Perkow und hängte sich an seinen Arm. »Lassen wir das Gespräch daher lieber fallen. Eines jedoch muß ich Dir noch bemerken: Du weißt eben niemals, was Du in Deiner Stellung als Priester zu tun und zu lassen hast. Das sage nicht ich allein, sondern alle Geistlichen, die Dich kennen. Nimmermehr würdest Du in das armselige Keßten versetzt worden sein, wenn Du Dich den allgemeinen Ansichten besser anzupassen verstanden hättest.«

»Sehr wahr,« sagte Harteck mit einem Seufzer und ließ den Kopf hängen.

»Na, werde nicht melancholisch,« sprach der junge Geistliche tröstend und drückte seinen Arm. »Ich will Dir täglich schreiben und Dich besuchen, so oft ich's werde tun können.«

»Was wird Dein Prinzipal dazu sagen?« warf Harteck ein. »Du weißt, daß er mich nicht leiden kann.«

»Mag er sagen, was ihm gefällt! Ich kann und will Dich nicht so ganz Dir selbst überlassen. Du bist mir das Teuerste, was ich auf Erden habe. Gern würde ich Dir jedes erlaubte Opfer bringen, wenn ich dadurch Dein Leben erhellen könnte ... Aber leider vermag ich Dir, außer meiner Freundschaft, nichts zu bieten.«

Harteck war versöhnt. Alles Mißliebige, was der junge Priester gesprochen, verschwand vor diesem treuherzigen Bekenntnisse echter, warmer Freundschaft.

»Ich danke Dir für Deine Worte,« sagte er. »Wer weiß, ob nicht die Zeit kommen wird, wo ich größere Opfer von Dir fordern werde.«

Sie sollte kommen, diese Zeit, und eher, als beide ahnten. –

Nach Ablauf einer Stunde kehrte Harteck zu Paula zurück. Er fand die Mädchen im Wohnzimmer, Toni schrieb Schulaufgaben und Paula überwachte sie dabei. Er setzte sich zwischen beide, legte den Arm auf die Lehne des Stuhles, auf dem Toni saß und sah zu, wie sie schrieb.

»Störe ich?« fragte Toni mit kindlicher Unschuld. »Soll ich gehen, Paula?«

»Nein, bleibe bei uns,« antwortete die Schwester.

Harteck blickte sie an. Das Wörtchen ›bei uns‹ rührte ihn seltsam; es klang so vertraulich, als ob sie ihn ganz zu sich gehörend betrachtete ... »Was haben Sie in den letzten Tagen getrieben?« fragte er sie.

Sie gestand ihm, daß sie in Keßten gewesen war; von den Mühen und Plagen der Wanderung sagte sie nichts, und seine Frage, welchen Eindruck der Ort auf sie gemacht hätte, beantwortete sie ausweichend. Sie erzählte ihm nur, was sie in seinem neuen Hause getan hatte, zog ihr Notizbuch hervor und nannte ihm alle jene Hausgegenstände, die noch angeschafft werden mußten; und der Gedanke, wie ganz anders, wie schön und traulich es wäre, wenn sie ihm als seine Hausfrau folgen könnte in das neue Heim, lag bei diesem Wirtschaftsgespräch so nahe, daß er beiden zur gleichen Zeit kam. Sie fühlte, daß sein Auge auf ihr ruhte, und senkte das Gesicht. »Ich hoffe immer noch, daß nichts daraus wird,« sagte sie und blätterte in dem Notizbuch. »Ich meine aus Ihrer Versetzung nach Keßten ... Die Luft dort ist sehr rauh und ich fürchte, daß sie Ihnen nicht gut tun wird ... Sie würden mich sehr beruhigen, wenn Sie sich von meinem Vater untersuchen ließen. Er wird Ihnen ehrlich sagen, was er von Ihrer Gesundheit hält; und wenn er den Ausspruch täte, daß eine rauhe Luft Ihnen nicht zuträglich sei, könnten Sie vielleicht doch noch den Versuch machen, zu erwirken, daß Ihnen ein anderer, milderer Ort zugewiesen werde.«

Er schüttelte das Haupt. »Dazu ist es zu spät. Auch würde es nichts helfen. Weshalb aber beunruhigen Sie sich? Ich bin ja leidlich gesund.«

»Leidlich! Sie müssen also selbst zugeben, daß Sie nicht ganz gesund sind. Schlagen Sie mir diese Bitte nicht ab! Sprechen Sie mit meinem Vater!« sagte sie drängend.

»Wenn Sie es durchaus wünschen, Paula, will ich Ihnen den Gefallen tun, ... obschon es ein wenig lächerlich ist, wenn ein gesunder Mensch aus Furcht, daß er vielleicht krank sein könnte, einen Arzt konsultiert.«

»Nehmen Sie das, wie Sie wollen, ... ich bin es zufrieden, wenn Sie es überhaupt tun.« Sie fragte ihn hierauf nach seiner Familie und ob er in Kufstein angenehme Tage verlebt hätte, und er erzählte ihr, was er zu berichten für passend fand, zeigte ihr die neueste Photographie seines kleinen Neffen, die die Schwester ihm geschenkt hatte, sprach sanft und nachsichtig von den Seinen, ohne irgendwelche Bitterkeit, und hob nur ihre guten Eigenschaften hervor.

»Meine Mutter war ganz glücklich, mich wieder einmal die Messe lesen zu hören,« sagte er, »und ich habe sie wiederholt gebeten, mich bald in Keßten zu besuchen; dann kann sie dieses Vergnügen täglich haben.«

Errötend und ohne ihn anzusehen, fragte ihn Paula, ob seine Wäsche und Kleider in gutem Stande wären und ob sie Schadhaftes vielleicht ausbessern dürfte; es würde ihr große Freude bereiten, für seine Bequemlichkeit zu sorgen.

Er lehnte ihr Anerbieten dankend ab. »Das alles kann meine Wirtschafterin in Ordnung bringen,« sagte er.

Paula beschrieb ihm darauf die Frau, die sie im Pfarrhof vorgefunden hatte, und legte ihm ans Herz, sie in seinem Hause zu behalten: sie scheine gut und anhänglich zu sein und er würde sich gewiß bald an sie gewöhnen. »Aber verraten Sie ihr nicht, daß Sie es auf meine Bitte hin tun wollen,« setzte Paula hinzu. »Ich sagte ihr, daß ich Ihnen gleichgültig bin, und Sie müssen sie in diesem Glauben erhalten. Mich kennt sie nicht; was sie von mir denkt, spielt folglich keine Rolle. Aber Sie, der Sie in Keßten leben werden, müssen achtsam sein auf Ihren guten Ruf.«

Er mußte lächeln über ihre Worte, seine Stimme jedoch klang gepreßt, als er jetzt sagte: »Sie sind um meinen Ruf besorgt, – um den Ihrigen aber kümmern Sie sich nicht. Jetzt, wo Sie wissen, daß ich bald gehe, gestatten Sie mir, täglich zu Ihnen zu kommen, weil Sie in Ihrer Selbstlosigkeit folgern, daß es mir nun nichts mehr anhaben könne. Von diesem Standpunkt aus haben Sie freilich recht, – ich gehe, – aber Sie? Sie bleiben zurück und – merken Sie es wohl, Paula: die Menschen werden den Stab über Sie brechen.«

»Daran habe ich noch nicht gedacht,« schaltete sie ruhig ein.

»Aber ich! Glauben Sie mir, ... so sehr es mich in Ihre Nähe zieht und so glücklich ich mich fühle, wenn ich Sie an meiner Seite habe, ... es kostet mir jedesmal einen schweren Kampf, zu Ihnen zu gehen. Ich kann mir nicht verhehlen, daß ich es bin, der Ihren Ruf untergräbt, und das macht mich elend.«

Paula wies mit den Augen auf Toni, die verwundert aufhorchte. Er biß sich auf die Lippe und schwieg.

»Wie hat Ihnen mein Freund gefallen?« fragte er nach einer Weile.

»Nicht sonderlich gut, wenn ich aufrichtig sein soll,« erwiderte Paula.

»Im Anfang mag er schroff scheinen; ich zweifle jedoch nicht, daß Sie ihn lieb gewinnen werden, wenn Sie ihn näher kennen. Ich will ihn nicht allzu sehr loben, um Sie nicht neuerdings zu erzürnen, aber ich versichere Ihnen, daß er ein vortreffliches Herz hat. Und was mir vorzugsweise an ihm gefällt: er hängt mit Leib und Seele an seinem Beruf. Predigen müssen Sie ihn hören! Er ist immer so ganz bei der Sache, ist so durch und durch Priester und würde für seinen Stand durchs Feuer gehen. Er besitzt eben alle guten Eigenschaften, die mir abgehen.«

»Sie setzen sich immer herab,« warf Paula dazwischen. »Finden Sie die Arroganz Ihres vielgerühmten Freundes gleichfalls bewunderungswürdig?«

»Er ist nicht arrogant, ... nur nicht biegsam oder zugänglich ... Bedenken Sie, daß er im Waisenhause aufgewachsen ist, niemals Liebe genossen hat, und wer selbst nie verzärtelt worden ist, verzärtelt auch andere nicht. Mir jedoch ist er treu ergeben und einen besseren Freund werde ich schwerlich jemals mehr finden. Das alles muß Sie doch ein klein wenig für ihn einnehmen,« schloß er zuredend und bittend zugleich.

»Gewiß,« sagte Paula. »Wenn es ihm erwünscht ist, will ich gern mit ihm verkehren ... Aber wird er es wollen? Ich zweifle daran.«

»Mit der Zeit, ... wer weiß? ... Er hat mich lieb und auch Sie sind mir gut, ... der Gedanke, daß Sie beide von mir sprechen, wird mich trösten in meiner Einsamkeit ... Und wenn Joachim mich besucht, kann er mir von Ihnen erzählen, und er wird mir dann doppelt teuer sein ...«

Paula stieß einen Wehruf aus und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Paula!« rief der Priester erschrocken und Toni sprang auf und eilte zu der Schwester hin – »Paula,« – er beugte sich über sie – »liebe Paula, was hab' ich Ihnen getan?«

»Müssen Sie davon sprechen?« brachte sie mühsam heraus. »Haben wir uns nicht gelobt, nie, nie den Abschied zu berühren? ... Und nun malen Sie die Zukunft so deutlich aus ...«

Sie erhob sich, nahm Toni bei der Hand und ging, ehe er's hindern konnte, rasch aus dem Zimmer.

Eine halbe Stunde später kam der Arzt nach Hause. Er fuhr zusammen, als er, in das Wohnzimmer tretend, den Geistlichen am Tisch sitzen sah ... Harteck erblickte ihn, stand auf und verbeugte sich stumm. Die Blässe und Alteration seiner Züge entgingen dem Arzt keineswegs; aber er hatte sich bereits gefaßt und fragte den Priester so ruhig wie möglich nach seinem Begehr.

Mit abgerissenen Worten brachte Harteck vor, was Paula ihm zu sagen aufgetragen hatte. Der Arzt ersuchte ihn, Rock und Weste abzulegen, und als Harteck dem nachgekommen war, lehnte jener das Ohr an seine Brust und bat ihn, tief Atem zu holen. Er untersuchte ihn aufmerksam, befühlte seinen Puls und fragte ihn dann: »Husten Sie öfters?«

»Im Herbst und Frühjahr beständig. Ich erkälte mich überhaupt sehr leicht.«

»Haben Sie Schmerzen?«

»Nein.«

»Auch nicht zwischen den Schulterblättern, wenn Sie zum Beispiel viel gegangen sind?«

»Das ist wahr. Das hatte ich vergessen. Nach weiten Spaziergängen oder wenn ich lang Klavier gespielt habe, empfinde ich im Rücken einen stechenden Schmerz.«

»Hm! ... Ihre Stimme klingt umflort. Ist das Ihre natürliche Stimme?«

»Ich bin seit einiger Zeit etwas heiser.«

»Wie schlafen Sie? Geraten Sie beim Schlafen oft in Schweiß?«

»Sehr oft.«

»Rauchen Sie?«

»Nur wenig; ich vertrage das Rauchen schlecht.«

»Wahrscheinlich reizt es Sie zum Husten?«

»Ja.«

Der Arzt betrachtete seine Hände. Sie waren blaß und mager.

»An welcher Krankheit ist Ihr Vater gestorben?« fragte er dann.

»An der Lungentuberkulose.«

»War das ein Ausnahmefall, oder ist dieses Übel erblich in seiner Familie?«

»Soviel mir bekannt ist, sind alle Verwandten meines Vaters eben dieser Krankheit erlegen.«

»Hm!« sagte der Arzt noch einmal. »Sie müssen vorsichtig sein, sich schonen. In Keßten soll das Klima sehr rauh sein?«

»Man sagt so.«

»Für Sie wäre es besser, wenn Sie nach Südtirol kämen ... Würde sich das nicht machen lassen?«

»Jetzt nicht. Vielleicht später. Wenn mir der Aufenthalt in Keßten nicht gut tut, kann ich um meine Versetzung einkommen.«

Er griff nach seinem Rock und seiner Weste; der Arzt war ihm beim Ankleiden behilflich.

»Aber brustkrank bin ich noch nicht?« fragte Harteck und blickte dem anderen fest in die Augen.

»Nein. Indessen darf ich Ihnen nicht verschweigen, daß Sie einige Anlage zu diesem Leiden besitzen.«

Harteck nickte wie jemand, der etwas hört, worauf er schon vorbereitet war, und langte nach seinem Hute.

»Ich empfehle Ihnen noch einmal dringend an, auf Ihre Gesundheit acht zu geben,« sagte der Arzt. »Dieses Übel ist heimtückischer Art und schöpft aus allem Nahrung ... Es genügt nicht, sich körperlich zu schonen und zu pflegen, ... auch der Geist muß frei und leicht sein. Kummer, Unzufriedenheit, Sorgen sind die besten Förderer dieses schleichenden Übels, sind oft verhängnisvoller als körperliche Unvorsichtigkeiten ... Trachten Sie daher, so viel wie möglich eine gleichmäßige, heitere oder doch ruhige Stimmung anzustreben; grübeln Sie nicht nach, bekämpfen Sie Schwermut und Traurigkeit, beschäftigen Sie sich stets, damit Sie keine Zeit haben, trüben Gedanken nachzuhängen und meiden Sie alles, was Ihnen körperlich von Nachteil sein könnte; Schlaf, kräftige Speisen, gute Luft und ein ruhiges Gemüt sind und bleiben die besten, ja, die einzigen Mittel, um solchen Krankheitsanlagen entgegenzuwirken.«

Er hatte bis dahin als Arzt gesprochen, ohne ein persönliches Motiv zu berücksichtigen: unparteiisch, teilnehmend und voll Interesse, wie er es jedem Fremden gegenüber tat, der einen ärztlichen Rat von ihm begehrte. Doch jetzt, da er fertig war, verbeugte er sich wie verabschiedend und sah den jungen Priester, der unbeweglich stehen blieb, mit strengem Blick an.

»Wünschen Sie noch etwas von mir?« fragte er ihn.

»Ich verlasse St. Jakob in einigen Tagen,« sagte Harteck mit unsicher klingender Stimme, »und da ich vielleicht nicht mehr Gelegenheit haben werde, Sie zu sehen, möchte ich Ihnen jetzt schon Adieu sagen ...«

Er streckte dem anderen die Hand entgegen. Der Arzt erfaßte sie, ließ sie jedoch sogleich wieder fallen.

»Gehaben Sie sich wohl,« sagte er und wendete sich von dem Priester ab.

Dieser tat einen Schritt gegen ihn hin.

»Lassen Sie mich hoffen, daß Sie sich meiner nicht mit Haß erinnern werden ... Ich habe schweres Leid über Ihr Haus gebracht, ... aber ich büße hart dafür, Gott weiß es.«

Der Arzt machte eine abwehrende Bewegung.

»In kurzer Zeit ist alles vorbei,« sprach Harteck weiter. »Ich gehe und damit ist das Spiel zu Ende. Nur zu gut fühle ich, daß es in diesem Fall keinen Mittelweg gibt: es heißt entweder alles wagen oder auf alles verzichten. Ich wähle das zweite. Niemals werde ich Ihrer Tochter schreiben, und wenn sie, in ihrer Güte, sich einfallen lassen sollte, einen Brief an mich zu richten ...«

Der Arzt unterbrach ihn.

»Ich erlasse Ihnen diese Versprechungen,« sagte er. »Glauben Sie denn, daß ich dieser Sache nicht längst schon ein Ende gesetzt haben würde, wenn ich nicht wüßte, daß in solchen Fällen Gewalt und Zwang das Übel nur vergrößern, anstatt es auszurotten?« Ein fürchterlich ernster Blick war es, den er bei diesen Worten auf den Priester heftete, ein Blick, vor dem Harteck die Augen senken mußte. »Glauben Sie, daß ich bis jetzt geschwiegen haben würde, wenn ich nicht gefürchtet hätte, in Ihnen auch mein Kind zu treffen? Paula würde alles, was ich Ihnen gesagt hätte, als eine persönliche Kränkung empfunden und ich würde dadurch meine Tochter ganz verloren haben. Nein; versprechen Sie mir nichts. Paula mag tun, was ihr gefällt; wenn sie nicht freiwillig entsagt, helfen alle Gewaltmittel nichts. Sie gehe ihren eigenen Weg; mag sie das, was sie an mir und sich selbst verübt, mit ihrem Gewissen ausmachen. Über das Herz eines Kindes gebietet der Vater nicht, und wenn dieses Herz durchaus unrecht tun will, dann verlohnt es sich auch nicht der Mühe, es zurückhalten zu wollen.«

Hochaufgerichtet stand er da, als er so sprach. Harteck war zumute, als ob der ernste, hagere Mann zu riesiger Größe emporwüchse, zu einer Größe, neben der er zwerghaft klein erschien. Er kam sich neben dem schwer gekränkten Vater so elend, armselig und verächtlich vor, daß er es für eine Wohltat angesehen haben würde, wenn der Fußboden sich aufgetan und ihn verschlungen hätte. Vorwürfe, Schmähungen, ja Mißhandlungen sogar würde er leichter ertragen haben, als dieses kalte und stolze: Tut, was Ihr wollt.

Der Arzt mochte erraten, was im Innern des Mannes vorging, der in der scheuen Haltung eines Verbrechers vor ihm stand, und in seiner Brust regte sich eine Empfindung, die an Mitleid streifte.

»Wir haben ausgesprochen, denke ich,« sagte er und trat zum Tisch hin.

»Ja,« murmelte Harteck, verneigte sich ungeschickt und verließ das Zimmer. Er kam sich vor wie ein Dieb, dem der Bestohlene die Strafe erläßt.

Vierzehntes Kapitel

Noch zwei Tage. Er wünschte, sie wären vorüber. Paula hatte er glauben gemacht, daß er noch drei Tage hier bleiben würde, um ihr und sich selbst die Bitternis des Abschiedes zu ersparen. Den vorletzten Tag seines Hierseins verwendete er dazu, daß er von Haus zu Haus ging und allen Leuten Ade sagte, und er gewann bei dieser Wanderung durch das Dorf aufs neue die Überzeugung, daß die Leute ihn lieb gewonnen hatten und ungern scheiden sahen. Freilich trat dabei auch zu Tage, daß er, wie es ihm überall erging, die Menschen durch allzu große Güte und Nachsicht verwöhnt hatte und daß manche dies benutzten, um dreist zu werden. Mehr als einer hatte die Unverfrorenheit, mit schlauem Augenwinken zu ihm zu sagen: »Es ist ja besser für Sie, daß Sie gehen,« und wenn er nach dem Warum fragte, erfolgte abermaliges Blinzeln und Nicken und ein gutmütiges: »Ich meine halt so, ... Sie verstehen mich schon ...« Sich den nötigen Respekt zu verschaffen, hatte er nicht gewußt, und seine aller Welt bekannte Neigung zu einem Mädchen zerstörte den Nimbus, der sonst den Seelsorger in einem Dorf zu umgeben pflegt, vollends. Das war ihm nicht gleichgültig, verdroß ihn sogar, aber er verschluckte es wie so manches andere. Am Hause Paulas glitt er scheu vorüber: er wollte sie weder sehen noch von ihr gesehen werden; und er nahm sich vor, sie auch morgen zu meiden, wenn er Kraft genug besäße, die Sehnsucht seines Herzens so weit zu besiegen.

Am Abend fühlte er sich von dem vielen Umhergehen, Sprechen und Abschiednehmen auf das äußerste erschöpft. Er ließ sich beim Dekan entschuldigen: er könne am gemeinschaftlichen Mahl nicht teilnehmen, er wäre allzu müde. Mochte der gewesene Prinzipal ihn unhöflich schelten! Jetzt war doch alles gleichbedeutend und jeder Zwang überflüssig.

Harteck kam am folgenden Morgen später als sein Freund, der früher die Messe gelesen hatte, in das Frühstückzimmer und traf dort bloß den Mönch und den jungen Geistlichen an. Diese beiden schienen schon recht gut bekannt miteinander, sie standen am Fenster, Joachim hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und der Mönch blickte über seine Schulter in dasselbe.

»Ich habe für diesen Artikel große Lobsprüche geerntet,« sagte Perkow, »sogar der Fürst-Erzbischof hat ihn gelesen und mir seine Zustimmung ausdrücken lassen ... Das Polemisieren ist meine Passion. Sie können sich wohl vorstellen, daß das Organ unserer Gegner dazu nicht geschwiegen hat, ... aber ich weiß, was ich auf alle Einwürfe zu erwidern habe. Ich bin im Recht. Den Gegenartikel trage ich bereits in der Tasche,« schloß der junge Mann mit einem triumphierenden Lächeln und klopfte mit der Hand auf die Brust. Jetzt erst gewahrte er den Freund.

»Guten Morgen, Georg,« sagte er.

»Guten Morgen,« sagte Harteck grüßend. »Wo sind die anderen?«

»Über Land gefahren,« berichtete der Mönch. »Sie werden erst abends zurückkehren.«

»Desto besser!« sagte Perkow aufrichtig. »Gegen den Herrn Dekan habe ich zwar nichts einzuwenden, aber seine Nichte, diese alte Jungfer, ist ein unausstehliches Geschöpf. Ist sie immer so geziert und affektiert, wie sie's gestern war?«

»Immer so,« sagte Benediktus. »Und boshaft! Davon haben Sie keinen Begriff.«

»Das werden wir ihr austreiben,« sprach Joachim leichthin und setzte sich. »Vorläufig aber wollen wir frühstücken.«

Der junge Pater nahm an seiner Seite Platz und heftete den Blick unausgesetzt auf seinen blonden, sorglos und zufrieden aussehenden Nachbar. Augenscheinlich bewunderte er ihn.

»Es ist erstaunlich, wie gescheit Sie sind für Ihre Jahre,« sagte der Mönch plötzlich und wurde rot. »Sie werden es noch weit bringen.«

»Ach nein! Warum denn?« entgegnete Joachim bescheiden und geschmeichelt zugleich. »Allerdings höre ich das manchmal und es ist mir, zum Beispiel, in Aussicht gestellt worden, Redakteur unseres Salzburger Parteiblattes zu werden ... Ich weiß jedoch nicht, ob ich dieser Stellung gewachsen sein werde. Es mangelt mir doch an Erfahrung. Nicht wahr, Georg?«

»Für einen Kampfhahn wie Du einer bist wäre das gerade das richtige Feld,« erwiderte dieser mit einem Lächeln.

»Du spottest mich immer aus,« murrte der junge Geistliche.

»Keineswegs; ich meine nur ...«

»Daß ich ein intoleranter, streitsüchtiger Pfaff bin? Intolerant, in der Tat!« rief der junge Priester und schlug mit der Hand auf den Tisch. »So nennt man uns, ... aber dieser Vorwurf ist, nach meiner Ansicht, ein ungerechter. Wer, um alles in der Welt, ist tolerant gegen uns? Welche Stellung nehmen die Katholiken in Deutschland, Rußland und Irland ein? Man duldet sie, weil man muß, und sobald sie eine Bewegung machen, schlägt man sie zu Boden. Davon aber spricht niemand, das finden die Menschen ganz in der Ordnung. Narren und Feiglinge wären wir, wenn wir ihnen nicht gleiches mit gleichem vergälten. Was mich jedoch bei alledem am meisten verdrießt, das ist die Lauheit und Flauheit der Katholiken selber. Alles lassen sie sich gefallen, mit Füßen lassen sie sich treten. Ich möchte einmal hören, was die Protestanten oder Juden sagen würden, wenn ihre Pastoren oder Rabbiner nur halb so vielen Angriffen ausgesetzt wären wie wir! Steinigen würden sie die Angreifer, oder doch wenigstens die Hand rühren und den Mund auftun. Unsere Katholiken aber sind die ersten, die ihre Priester herabsetzen und die Nase rümpfen, wenn von den Klerikalen, wie sie uns und unsere Parteigänger nennen, die Rede ist. Darüber habe ich mich oft schon geärgert und dagegen gesprochen und geschrieben. Unsere Bauern gehen noch an, ... aber die Städter, ... die sind es, die der Sache schaden, die geflissentlich zu vergessen scheinen, daß sie katholisch sind und darum Hand in Hand mit uns gehen sollten, anstatt sich zu unseren Widersachern aufzuwerfen, wie sie es in der Tat tun. Was wird aus unserer heiligen Kirche werden, wenn die eigenen Kinder sich gegen dieselbe empören? Und wir, ... sollen vielleicht auch wir die Flinte in das Korn werfen und gleichgültig zusehen, wie an unserer Kirche gemäkelt wird, wie unsere Gegner sich breit machen und uns verhöhnen? Nimmermehr! Krieg bis aufs Messer! Entweder siegen oder fallen, – aber sich feige ergeben, – das niemals!«

Der junge Mönch nickte lebhaft Beifall und seine leuchtenden Augen hingen an dem geröteten, erregten Gesicht des jugendlichen Paladin der Kirche. »Bist Du nicht auch meiner Ansicht?« wendete Perkow sich an Harteck, der sich schweigend verhielt und weder ein Beifalls- noch ein Mißfallenszeichen zu erkennen gegeben hatte.

»Gewiß,« antwortete dieser, also zum Sprechen aufgefordert. »Indessen darfst Du nicht übersehen, daß der katholische Klerus – teilweise wenigstens – nicht danach angetan ist, sich Sympathien zu erwerben. Die Pastoren, zum Beispiel, begnügen sich damit, Diener des Staates zu sein und ordnen sich dem Staate unter; sie wollen keine politische Rolle spielen und machen selten von sich reden. Wir hingegen haben stets nach der Herrschaft gestrebt und streben noch immer danach, wollen einen Staat im Staate bilden, und das verzeiht die Welt uns nicht. Sind wir Patrioten? Bürger? Geht uns der Staat unseren Sonder-Interessen vor? Nein, müssen wir auf diese Fragen antworten. Wir sind nur so lang Patrioten, als wir unsere Kirche nicht gefährdet glauben, ... unsere Blicke sind nach Rom gerichtet und was der Papst sagt, gilt uns mehr als die Wünsche unserer Mitbürger. So muß es natürlich sein, wir dürfen anders nicht denken. Aber Du mußt doch zugeben, daß die Welt einigen Grund habe, uns mit scheelen Augen anzublicken. Ein jeder Stand ringt nach der Weltherrschaft, ... die Aristokratie so gut wie wir; der Bürger so gut wie das Proletariat oder der vierte Stand; wir sind ihnen folglich im Wege und darum mögen sie uns nicht.«

»Aber Sie haben unrecht, wie mir scheint,« warf der junge Pater stockend und errötend ein. »Wenn irgend jemand berufen ist zu herrschen, dann sind es wir, denen die Aufgabe obliegt, die Gewissen rein zu erhalten und die Menschen auf das ewige Leben vorzubereiten, während unsere Gegner sich bloß um das zeitliche Wohl kümmern. Wenn die Menschen mehr den Tod und was darauf folgen wird, im Auge hätten als ihr vergängliches Dasein, würden sie sich den Priestern gern unterwerfen und sich willig ihrer Leitung anvertrauen.«

Die beiden Freunde blickten zuerst dem Sprecher, dann einander in die Augen. Daß der Mönch es ehrlich meinte und das Gesagte wirklich dachte, – darüber konnte niemand im Zweifel sein. Man brauchte nur sein treuherziges Gesicht anzusehen, ... dann mußte man ihm Glauben schenken. Von diesem idealen Standpunkt aus hatte er freilich recht ... »Aber – sind wir auch so?« mußte Joachim sich fragen. »Vielleicht viele, ... alle gewiß nicht. Und ich – ebenfalls nicht.«

Wohl war er sich bewußt, ein treuer und eifriger Diener der Kirche zu sein, ... aber daß Ehrgeiz, Herrschlust und Eigenliebe ihm gänzlich fremd, daß er nur die zukünftige, bessere Welt im Auge habe? So weit ging seine Liebe zu Gott noch lange nicht. Fast beschämt blickte er vor sich nieder und versank in Nachdenken.

»Werde ich heute abend Gelegenheit haben, das gnädige Fräulein zu sehen?« fragte Harteck, sich an den Pater wendend. »Ich möchte doch nicht ohne Abschied von ihr gehen.«

»Sie hat gesagt – warum weiß ich nicht –, daß sie diesem Abschied auszuweichen gesonnen wäre,« antwortete Benediktus.

»Dann laß die Närrin!« rief Georgs heißblütiger Freund. »Dir wird doch nicht darum zu tun sein, noch einmal in ihre wässerigen Augen zu schauen.«

»Ich will von aller Welt in Frieden scheiden,« versetzte Harteck. »Wie immer auch die Menschen hier sich gegen mich betragen haben, ... ich will allen beweisen, daß ich keinem grolle und es mit jedem gut meinte.«

Der Mönch schlug bei diesen Worten die Augen zu Boden.

»Komm, Joachim,« sagte Harteck mit einem Blick auf den Pater. »Wir haben noch viel zu tun.«

Die Freunde standen auf und verfügten sich in Hartecks Wohnung. Die Möbel und das Klavier waren bereits verpackt und sollten heute schon mittels der Eisenbahn nach Hartecks neuem Wohnort befördert werden.

»Willst Du mir beim Packen behilflich sein?« fragte Georg.

»Natürlich! Du magst die ganze Arbeit getrost mir überlassen. Du siehst ohnehin ermüdet aus. Hast Du schlecht geschlafen?«

»Es geht an. Beginne denn mit den Büchern, wenn Du so gut sein willst, mir diese Arbeit abzunehmen ... Ich will einstweilen meine Papiere ordnen.«

Perkow machte sich an die Arbeit und Harteck kramte in Papieren, die auf dem Tische lagen, zerknitterte manche und warf sie auf den Boden, während er andere wieder sorgsam aufeinander legte. Knechte traten ein, luden die Möbel auf ihre Schultern und trugen sie hinaus. Unruhig lief Cäsar hin und her.

»Der Hund weiß, daß wir abermals wandern müssen,« sagte Harteck. »Er hat solchen Umzug schon mehrere Male mitgemacht und ist kein Freund davon. Leg Dich nieder, Cäsar. Du wirst bald wieder dein wohlgeordnetes Daheim haben, und um etwas anderes ist Dir ja nicht zu tun. Dir bleibt nichts Liebes hier zurück,« schloß er mit einem Seufzer.

»Ich habe Dir doch schon gesagt, daß ich Dich oft besuchen werde,« sprach Joachim, auf dem Boden knieend, und tat einen Stoß Bücher in die vor ihm stehende Kiste. »Gib mir ein Staubtuch, wenn Du eines besitzest. Deine Bücher sind nicht im besten Stand ... Schau, wie der Staub aus den Blättern fliegt! Diese Werke liest Du wohl selten?«

»Sehr selten.« (Es waren Bücher theologischen Inhaltes.)

»Ach! dann gib sie mir!« rief Juchei. »Ich überlasse Dir andere dafür; ja, Georg?«

»Behalte, was Dir gefällt. Ich verlange nichts dafür. Es freut mich, wenn ich Dir etwas schenken darf.«

»Dann danke ich schönstens,« sagte der junge Priester und legte mehrere Werke beiseite. Das Packen ging langsam von statten. Perkow blätterte wiederholt in den Büchern, die er für sich zurückgelegt hatte, und vertiefte sich darein. Endlich aber wurde er doch fertig.

»Nun kommen die Wäsche und Kleider an die Reihe,« sagte er und fuhr mit dem Taschentuch über sein erhitztes Gesicht. »Uff! Bei dem Packen wird einem warm. Sollten wir uns nicht Bier bringen lassen, Georg?«

»Ich will sogleich den Auftrag dazu geben,« sagte Harteck und stand auf. »Setz jetzt ein wenig aus. Auf dem Tisch liegt meine Zigarrentasche, wenn Du vielleicht Lust hast zu rauchen.«

Er ging aus dem Zimmer. Juchei brannte sich eine Zigarre an und schaute, die Hände auf dem Rücken gefaltet, zum Fenster hinaus. Es regnete leise, aber ununterbrochen. »Hoffentlich hat er morgen zu seiner Reise besseres Wetter,« dachte Joachim. »Dieser trostlose Regen wirkt bedrückend auf die Nerven ein, und lustig ist der arme Kerl ohnehin nicht ... Was aber kann ihm den Abschied von hier so schwer machen? Mit dem Dekan steht er nicht sonderlich gut und das ist bei uns doch immer die Hauptsache.«

Georg kehrte zurück mit der Meldung, daß das Bier sofort gebracht werden würde. Der junge Geistliche nickte und beobachtete den Freund, der sich an den Tisch setzte und traurig vor sich hinstarrte. In diesem Augenblick fiel Joachim auch auf, wie blaß und mager sein Gesicht war. Er ging zu dem Freunde hin und nahm ihn bei der Hand.

»Na, Georg?« sagte er fragend. »Hast Du Deine Papiere schon in Ordnung gebracht?«

»Ja.«

»Wohin soll ich sie legen? Zur Wäsche?«

»Wohin Du willst.« Er lehnte die Stirn an den Arm des jüngeren Kollegen. »Ach, Joachim,« sagte er und nichts weiter.

»Nun, nun,« sagte Perkow liebreich und besorgt, »was ist Dir denn, mein Alter?«

»Nichts,« versetzte Georg trüb. Sie verstummten eine Zeitlang. Als sie dann die Tür gehen hörten und Uschei mit dem Bier und zwei Gläsern eintreten sahen, richtete Harteck sich in die Höhe und zwang sich zu einem Lächeln.

»Das war sehr schnell,« sagte er zu dem Mädchen.

»I bin recht g'rennt[21], dös is schon wahr,« sagte diese und stellte Krug und Gläser auf den Tisch. »Sie soll'n nix über mi' z'sagen haben am letzten Tag.«

»Ich hatte niemals etwas über Sie zu sagen,« versetzte Harteck und ergriff ihre Hand. Joachim sah ihn und die junge Magd, die ein bißchen geziert tat, mit zweifelhaften Blicken an.

»Was i no' sagen hab' wollen,« sprach Uschei. »Ja, richtig. Wenn die Herren eppes heut' hier, in dem Zimmer da, essen wollen, kann's leicht g'schehen. Der Herr Pater is weit furt gangen zu oam Kranken und ißt a drenten. Sie zwoa sein ganz alloani dahoam, ... Sie können also essen, wo's wollen.«

»Dann essen wir hier,« entschied Harteck und goß die Gläser voll. »Da, nehmen Sie einen Schluck, Uschei.« Sie ergriff das dargebotene Glas und schwenkte es lächelnd gegen Perkow hin. »Zum Wohl! Herr Kopp'ratter,« sagte sie dabei.

»Danke,« sprach Joachim ziemlich ungerührt und stieß flüchtig mit ihr an. Des Mädchens blühende Gestalt brachte nicht den geringsten Eindruck auf ihn hervor. Er sah nichts anderes in ihr als eine Magd, die sich vertraulicher benahm, als eben nötig war, – und das war alles. Harteck entging nicht die leise Ungeduld in den Zügen des unerschütterlichen Freundes und er sagte zu Uschei: »Sorgen Sie nur, daß wir was Gutes zu essen bekommen.«

»Die Herren werden scho' zufrieden sein,« antwortete Uschei, knickste und ließ sie allein.

»Ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« sagte Harteck lächelnd zu Perkow.

»O ja,« antwortete dieser gleichgültig ... »Ich verstehe nicht, wie man sich für die Weiber so sehr interessieren kann. Sie gehen Dich nichts an. Laß sie doch in Ruhe.«

Harteck mußte lachen. »Ja, wenn ich so weise wäre wie Du ...«

»Ich bin nicht weise. Aber ich habe, Gott sei Dank! nicht Dein entzündbares Temperament. Überhaupt begreife ich nicht, wie man sich verlieben kann. Ich habe doch auch schon eine Menge hübscher Frauen und Mädchen gesehen, ... daß aber eine, außer flüchtigem Gefallen, andere Gefühle in mir wachgerufen hätte, ist mir nicht bekannt. Es darf nun einmal nicht sein, und wenn man sich beizeiten vorsieht und der Versuchung aus dem Weg geht, kann man das Übel im Keim ersticken. Mir ist die bloße Vorstellung, der Narr einer solchen Dirne zu sein, um ihre Gunst zu betteln und vielleicht von ihr verspottet zu werden, fürchterlich. In welche Abhängigkeit gerät man nicht, wenn man auf die Verschwiegenheit eines Frauenzimmers angewiesen ist! Und was für eine dumme Figur ein Geistlicher macht, von dem die Gemeinde weiß, daß er verliebt ist, ... und solche Dinge kommen immer an den Tag: die Weiber sind eitel und können den Mund nicht halten. Das hast Du ja an Dir selbst erfahren.«

»Mein armes Mädchen ... Du sprichst ja wohl von Kathei? ... hat nicht geschwatzt. Dazu hatte sie mich viel zu lieb. Die Leute haben es eben gemerkt ... Das Mädel und ich waren zu sehr verbrannt ineinander, als daß wir uns genügend hätten verstellen können.«

»Ich glaube wahrhaftig, Du schämst Dich nicht einmal,« rief Joachim unwillig.

»Schämen? Nein, mein keuscher Freund; dazu war die Sache zu traurig. Aber das gestehe ich Dir gern: mein Leben würde ich gelassen haben, wenn ich das arme Geschöpf nicht kennen gelernt hätte. Was sie gelitten hat, wie sie beschimpft und verhöhnt worden ist, das weiß nur ich. Sie hat ihr kurzes Liebesglück teuer bezahlen müssen ... Doch davon willst Du nichts hören. Du siehst bloß den Fehltritt und den verurteilst Du. Was ihm jedoch voranging, wie schwer sie rang, bevor sie Liebe für Liebe und mit der Liebe die Ehre dahingab und was darauf folgte, ... darum bekümmerst Du Dich nicht; das ist Nebensache, nicht der Rede wert.«

»Wie magst Du nur in einem so bitteren Ton zu mir sprechen!« sagte Perkow. »Hältst Du mich für einen Unmenschen? Glaube mir, ich wäre der erste gewesen, der Euch hilfreiche Hand geboten hätte, wenn ich Euch, da Ihr im Elend wart, von Nutzen hätte sein können.«

»Wirklich?« rief Harteck und ergriff seine Hände. Er schien noch mehr sagen zu wollen, besann sich jedoch und begnügte sich damit, daß er die Hände des Freundes mit Wärme drückte.

»Ich will nun wieder an die Arbeit gehen,« sagte dieser. »Sonst kommt der Abend und ich bin mit dem Packen nicht fertig.«

Die Folge bewies indessen, daß der junge Mann die übernommene Arbeit überschätzt hatte. Als das Mittagbrot aufgetragen wurde, standen die paar Kisten und Koffer gepackt und verschlossen da.

»Was tun wir jetzt?« fragte Perkow, als wieder abgetragen worden war. »Wollen wir vielleicht kegeln?«

Harteck lehnte den Vorschlag ab.

»Oder ausgehen?«

»Es regnet ja ... Ich will lieber zu schlafen versuchen.«

»Auch gut. Während Du schläfst, werde ich in die Kirche gehen und nachsehen, ob es dort nicht einiges zu tun gibt. Und dann will ich zur Schule ... Die Kinder erhalten doch täglich Religionsunterricht?«

»Ja.«

»Leb wohl unterdessen.«

Nach zweistündiger Abwesenheit kehrte Perkow zu dem Freunde zurück und fand diesen auf dem Bette liegend, mit geschlossenen Augen.

»Dieser Faulpelz!« murmelte Joachim vor sich hin und wollte sich zurückziehen. Da schlug Harteck die Augen auf.

»Ich habe nicht schlafen können,« sagte er. »Bleib bei mir, Juchei.«

Perkow setzte sich auf den Rand des Bettes.

»Wie spät ist es?«

»Drei Uhr.«

»Erst drei Uhr! Dieser Tag nimmt kein Ende.«

»Soll ich Dir etwas vorlesen?« fragte Juchei.

»Meinetwegen. Was? gilt mir gleich. Wähle selber.«

Perkow holte Bücher und Zeitungen herbei und las dem Freunde daraus vor. Auf diese Weise verstrich eine Stunde.

»Leg das Zeug beiseite,« sagte Harteck plötzlich, »und sieh nach dem Wetter. Vielleicht hat es zu regnen aufgehört.«

Juchei trat ans Fenster.

»Es regnet nicht mehr,« sagte er.

»Dann gehen wir ins Freie,« sprach Harteck und erhob sich. »In mir ist eine unbeschreibliche Ruhelosigkeit, ... ich kann es in dieser engen Stube nicht länger aushalten.«

Juchei war es zufrieden und, von Cäsar begleitet, verließen die Freunde das Haus. Trotz Nässe und Kälte schlenderten sie lange umher, und wenn Juchei, um die zarte Gesundheit Georgs besorgt, den Vorschlag machte, umzukehren, sagte Harteck jedesmal: »Noch nicht, ... es ist noch zu früh.«

Eine nervöse Unruhe hatte sich seiner bemächtigt. Er ging so rasch, als ob er gehetzt würde; seine Wangen glühten und er atmete mit Anstrengung.

»Ich gehe keinen Schritt weiter,« erklärte Joachim endlich. »Du siehst ganz erschöpft aus. Willst Du Dich absichtlich zugrunde richten?«

Harteck fügte sich und sie schlugen den Heimweg ein. Als sie zu Hause anlangten, verkündete die Turmuhr die siebente Stunde.

»Willst Du nicht etwas essen?« fragte Juchei, setzte sich und betrachtete seine mit Schmutz bespritzten Stiefel. »Ich, meinerseits, bin hungrig wie ein Jagdhund.«

»Dann laß Dir etwas zu essen geben,« sagte Harteck. Er schritt im Zimmer auf und ab, trat wiederholt zum Fenster hin, las zerknüllte Papiere vom Boden auf und zerriß sie. In seinem jetzt wieder todblassen Gesicht spiegelten sich Gefühle aller Art: Pein, Unruhe, Mißmut ... Endlich blieb er vor dem Freunde stehen.

»Joachim ...«

»Nun?«

»Ich muß fort.«

»Wohin denn? Was hast Du vor?«

»Ich kämpfe schon den ganzen Tag. Ich habe stark bleiben, mir auch dieses Letzte versagen wollen, ... aber ich kann nicht ... So ganz ohne Abschied, ... nein! Das geht über meine Kräfte.«

Er griff nach seinem Hute.

»Ich verstehe Dich nicht,« sagte Joachim sich erhebend. »Wovon oder von wem sprichst Du?«

»Ich kehre bald zurück,« sagte Harteck, ohne die Frage zu beachten; vielleicht hatte er sie nicht einmal gehört.

»Willst Du nicht den Hund mitnehmen?« fragte Perkow, der, obschon er sich das Benehmen des anderen nicht erklären konnte, von der Ahnung eines Unheiles erfaßt wurde. Es würde ihn beruhigt haben, wenn er wenigstens ein Tier dem Freunde zur Seite gewußt hätte. Harteck aber sagte Nein zu dem Vorschlag, und ehe Joachim Zeit gefunden, noch ein weiteres Wort zu sprechen, hatte jener das Zimmer verlassen.

Fünfzehntes Kapitel

Er ging zu Paula. Sie war allein. Beschäftigungslos saß sie am Fenster und rührte sich nicht, als sie ihn eintreten sah. Sie hatte seinen Schritt erkannt. Im Anfang sprachen beide nichts. Georg setzte sich aufs Sofa und zerrte an den Quasten, die von der Lehne herabhingen.

»Wo ist Ihr Vater?« fragte er endlich.

»Noch nicht daheim. Toni ist zu den Nachbarleuten gegangen. Soll ich sie holen lassen?«

»Wozu? ... Sie brauchen sich vor einem Alleinsein mit mir nicht zu fürchten.«

»Ich fürchte mich nicht,« sagte Paula; doch als sie seinem Blick begegnete, schrak sie zusammen. Solch ein Blick voll Leidenschaft und Seelenpein war ihr fremd. Mit gewaltsamer Fassung fragte sie: »Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«

»Weshalb hätte ich kommen sollen? Um noch mehr verachtet zu werden? Denn Ihr Vater verachtet mich und mit Recht. Ich bin ein Feigling.«

»Vater hat mir von seiner Unterredung mit Ihnen erzählt,« sagte Paula und ihre Stimme bebte. »Aber daß von anderem als von Ihrer Gesundheit die Rede war, hat er mir nicht gesagt.«

»Nicht? Wahrscheinlich wollte er Ihnen nicht weh tun ... Aber ich werde ihm beweisen, daß auch ich stark sein kann ... Ich habe ihm schon versprochen, daß ich Ihnen niemals schreiben werde, daß Sie nie wieder von mir hören sollen, und ich werde mein Wort halten.«

»Hat er es von Ihnen verlangt?« fuhr Paula auf. »Das kann er nicht verlangt haben. Diesen armseligen letzten Trost kann er mir nicht rauben wollen ... Ist er doch ohnehin gering genug!«

»Eben deshalb,« murmelte der Priester vor sich hin. »Das Wenige sättigt nicht, ... es zeigt vielmehr bloß an, wie groß der Hunger ist.«

Paula stützte die Arme auf das Fensterbrett und legte das Kinn in die gefalteten Hände. Ihre Augen schweiften über den grauen, endlosen Himmel.

»Bleibt es dabei, daß Sie übermorgen reisen?« fragte sie.

»Ja.« – »Sie wird mir den Betrug verzeihen,« dachte er. »Ich tue es zu ihrem Besten, ... sie wird mich verstehen.«

»Und Sie werden mir nicht schreiben, – kein einziges Mal?« fuhr Paula fort.

»Nein. Ich darf und will nicht. Zu tief habe ich mich an Ihnen versündigt ... Lassen Sie uns der Tragödie ein für allemal ein Ende machen.«

Paula beugte den Kopf. Lange konnte sie kein Wort hervorbringen.

»Sagen Sie mir,« hob sie endlich wieder mit dumpfer Stimme an, »warum sind Sie Priester geworden?«

Er antwortete nicht sogleich.

»Fragen Sie meine Mutter,« sprach er dann. »Die wird es Ihnen sagen.«

Er stand auf und trat zu ihr hin.

»Meine Mutter hat es gewollt,« sprach er weiter. »Ich hätte freilich nicht gehorchen müssen. Aber das hätte die alte Frau getötet. Sie ist nicht schlecht, sie meinte es gut mit mir und darum klage ich sie nicht an. Ich könnte heute noch den Priesterrock von mir werfen und ein neues Leben anfangen, ... und ich habe, seit ich Sie kenne, Paula, manchmal daran gedacht. Doch was mich davor zurückhält, ist meine alte Mutter, deren Elend der Preis dieses Schrittes sein würde. Was sage ich Elend! Sie würde in Seelenqual und Verzweiflung dem Tode entgegensehen, würde glauben, daß ihr Sohn sich das Himmelreich verwirkt habe, ... ich würde der Mörder ihres Friedens sein ... und das ... das kann ich nicht auf mein Gewissen laden. Sie ist am Ende doch meine Mutter, ist alt, hat viel gelitten, und ihr einziges Glück, ihr Trost und ihre Hoffnung ist der geistliche Sohn, der, wie sie in ihrem Irrwahn glaubt, berufen sei, Gott dem Herrn allein zu dienen und dadurch sich selbst und den Seinigen die ewige Seligkeit zu sichern. Ein beklagenswerter Wahn, dem mein Leben zum Opfer fiel, das sich viel schöner und segensreicher gestalten hätte können, wenn meine Mutter mich meinen eigenen Weg hätte gehen lassen. Aber ich will mich darein ergeben. Wenn das Opfer nun einmal gebracht werden muß, soll es wenigstens mit christlicher Demut geschehen. Gott wird mir mein Kreuz tragen helfen, ohne daß ich unter seiner Last zusammenbreche.«

Er schwieg und beugte sich über Paula, die in sich versunken dasaß. Sie erfaßte seine Hände und lehnte das Gesicht an seine Brust.

»Ach! Dieses kalte schwarze Kleid!« sprach sie zurückschaudernd. »Wie schwer haben die Menschen sich an Ihnen vergangen!«

»Nicht doch, Paula. Klagen Sie niemanden an. Soviel bin ich doch Christ und Priester, daß ich aus ganzem Herzen verzeihen kann.«

»Aber ich nicht! Gott helfe mir! Ich kann nicht...«

Sie verkreuzte die Arme, sah zu ihm empor, dann zu Boden und grub die Zähne in die Unterlippe ein. In ihren Zügen arbeitete ein heftiger, innerer Kampf.

»Meine tote Mutter wird es mir vergeben,« sprach sie endlich.

»Was wollen Sie damit sagen, Paula? Worüber sinnen Sie nach?«

»Hören Sie mich an,« fuhr sie mit unbeugsamer Entschlossenheit fort. »Ich habe oft darüber nachgedacht; denken auch Sie darüber nach. Wir werden voneinander scheiden. Versuchen Sie es, sich darein zu schicken. Doch wenn es Ihnen unmöglich, wenn Sie fühlen, daß Sie meiner bedürfen zum Leben, – dann rufen Sie mich. Ich werde warten, – wochen-, monate-, jahrelang, wenn es sein muß. Ich gehöre Ihnen, wenn Sie es wollen, und ich bleibe hier, wenn Sie anders entscheiden.«

»Sie wissen nicht, was Sie reden, Paula,« sagte er und faßte sich an der Stirn. »Es ist nicht großmütig, einen Menschen in solche Versuchung zu führen. Welch ein Elender müßte ich sein, wenn ich nur einen Augenblick schwanken könnte. Bedenken Sie ... Ihr Vater, Ihre kleine Schwester, die Ihrer so notwendig bedarf, ... Ihr eigenes Leben, Ihre ganze Zukunft ...«

»Ich habe alles bedacht. An meinem Leben und meiner Zukunft ist wenig gelegen. Und Vater und Toni würden mich vergessen, wie man eine Unwürdige vergißt.«

»Sie sprechen damit Ihr Urteil aus. Sie, die Sie so ehrlich, pflichtgetreu und opferwillig sind, wollten etwas begehen, was, wie Sie selbst gestehen, unwürdig ist? Sie würden elend werden und auch mich elend machen, wenn ich ruchlos genug wäre, Sie Ihrem Hause zu entreißen. Wissen Sie, was Reue heißt? Sie würden es erfahren. Liebesbande, wie es diejenigen sind, die Sie mit Ihrem Vater und Ihrer Schwester verbinden, lassen sich nicht zerreißen. Sie würden sie immer fühlen, diese Bande, würden sich zurücksehnen nach Ihrem reinen Familienleben, würden sich und mich verfluchen. Nein, Paula. Dazu soll es niemals kommen. Glücklich zu werden ist uns verneint; fügen wir zum Schmerz nicht noch die Sünde hinzu. Wir beide sind nicht schlecht geboren, ... wir könnten uns vielleicht zum Schlechtsein zwingen, vielleicht eine Zeitlang wähnen glücklich zu sein ... wenigstens ich, der ich Sie so sehr liebe ..., dann aber würden wir erwachen und uns gänzlich verarmt finden. Sie, Paula, die Geliebte eines katholischen Priesters, ... verachtet, verhöhnt, ausgestoßen von allen, ... und ich an Ihrer Seite, unfähig, Sie zu schützen, ohnmächtig gegenüber allem Spott und Hohn ... Nein! Tausendmal nein. Für solch ein Glück danke ich.«

»Es ist gut,« sagte Paula. »Ich will Sie nicht weiter drängen. Wie ich denke, wissen Sie. Vergessen Sie es nicht. Und wenn eine Zeit kommen sollte, wo Sie denken wie ich, dann erinnern Sie sich, daß ich warte.«

Sie stand auf.

»Was haben Sie vor?« fragte er erschrocken und hielt sie am Kleide fest. »Wollen Sie mich schon verlassen?«

»Ich muß. Für heute ist es genug. Vater kann jeden Augenblick kommen und ich will, daß er mich ruhig finde, ... und so lang Sie bei mir sind ...« Sie lächelte mühsam und streckte ihm die Hand hin. »Morgen wollen wir von dem allen nicht weiter sprechen und gelassen Abschied voneinander nehmen, ... ja?«

Er neigte sich über ihre Hand und drückte die Lippen darauf. Jetzt wurde es Ernst. Gott im Himmel! So schwer hatte er sich diesen Augenblick nicht gedacht.

»Auf morgen denn,« sagte Paula.

»Auf morgen,« sprach er nach. Er war blaß wie eine Leiche. Fort, fort von hier; keine nutzlose Verlängerung des Todeskampfes.

Eine halbe Minute später stand er auf der Straße. Der Wind peitschte seine Kleider und fuhr ihm mit mürrischem Gruß ins Gesicht. Es war vorüber. –

Geduldig lehnte Perkow am Fenster und wartete auf den Freund. Er sah ihn kommen und eilte ihm entgegen.

»Schon zurück?« redete er ihn an, verstummte jedoch allsogleich. Das Aussehen des anderen war so sonderbar ...

»Ist Dir etwas geschehen?« fragte Joachim erschreckt.

Harteck wollte antworten, vermocht' es aber nicht.

Stumm schritt er durch das Zimmer nach seiner Schlafstube und warf sich dort auf das Bett. Der junge Priester war ihm gefolgt.

»Um Gottes willen, was hast Du nur?« fragte Joachim und beugte sich über ihn.

Harteck stieß ihn von sich.

»Laß mich!« rief er mit heiserer Stimme. »Ich will schlafen.«

Ohne ein Wort zu erwidern, zog Perkow sich zurück in das Wohnzimmer, setzte sich und starrte mit trüber Verwunderung im Gesicht auf den Boden. Unsäglich langsam verstrich die Zeit. Der Geistliche stützte den Kopf mit beiden Händen und dachte über den Freund nach. Es war so still, so dunkel in der Stube, tief und ruhig atmend lag Cäsar unter dem Tische ausgestreckt, ... der junge Mann versank in eine Art Halbschlummer. Das Geräusch eines näher rollenden Wagens brachte ihn indessen bald wieder zu sich; er hörte den Wagen am Tor halten, vernahm Stimmen; der Dekan und dessen Nichte waren von ihrem Ausfluge heimgekehrt.

Harteck fuhr aus seinem dumpfen Schlaf empor.

»Ist es schon Morgen? Muß ich fort?« fragte er verwirrt. »Ich höre einen Wagen.«

Joachim trat zu ihm hin.

»Es ist zehn Uhr,« sagte er. »Der Dekan und das Fräulein sind zurückgekommen. Schlafe nur weiter; der Wagen geht Dich nichts an.«

Harteck seufzte und stöhnte wie ein Mensch, der physische und geistige Qual erduldet, und fiel neuerdings auf die Kissen zurück.

»In den Kleidern schläft es sich schlecht,« sagte Joachim. »Willst Du sie nicht ablegen? Komm, ich will Dir dabei behilflich sein.«

Georg nickte stumm und ließ sich wie ein Kind von dem Freunde auskleiden.

»Vergiß nicht, mich morgen rechtzeitig zu wecken,« sagte er dann und schloß die Augen.

»Sei ohne Sorge.«

Joachim rückte einen Stuhl an das Bett, setzte sich und wachte am Lager des Freundes. Dieser schlief bald wieder ein, doch sein Schlaf war unruhiger Art. Um Mitternacht erwachte er.

»Juchei!«

»Was willst Du?«

»Du bist so gut, ... Ich muß Dir noch etwas sagen, Dich um etwas bitten, ... Du wirst es mir nicht abschlagen.«

»Wenn es in meiner Macht steht, Deinen Wunsch zu erfüllen ...«

»Hier lebt ein Mädchen. Du kennst sie, ... sie heißt Paula Reinberg. Versprich mir, freundlich gegen sie zu sein, wenn sie Dich nach mir fragen sollte, ... ja, noch mehr, ... suche sie manchmal auf und erzähle ihr unaufgefordert von mir ... Willst Du mir das geloben?«

»Ja,« antwortete Juchei gepreßten Tones. Jetzt war ihm alles klar.

»Dank, tausend Dank,« sagte Harteck und drückte die Hände des Freundes. »Nun bin ich ruhig.«

Er sank in Schlaf und Juchei wachte getreulich an seiner Seite. Erst als der Morgen zu dämmern begann und der junge Priester bemerkte, daß Georg fest schlief, beugte sich Joachim, vom Wachen müde, auf das Bett herab und legte den Kopf auf den Rand des Kissens. Sein Blondhaar streifte das dunkle Gelock des Freundes, ihre Atemzüge flossen ineinander und beide schliefen bis zum Morgen.

Joachim war es, der zuerst erwachte. Rasch machte er Toilette, suchte Uschei auf und bat sie, in einer halben Stunde das Frühstück zu bringen und anspannen zu lassen. Dann erst weckte er den Freund. Georg sah sehr schlecht aus, war jedoch leidlich heiter oder stellte sich wenigstens so, und die zwei Freunde verfügten sich in die Kirche, um dort eine heilige Messe zu lesen. Dann kehrten sie in den Pfarrhof zurück und setzten sich zum Frühstück nieder. Während sie damit beschäftigt waren und mehrere Knechte das Gepäck hinaustrugen, um es hinten an dem Wagen festzubinden, trat der Dekan in das Zimmer.

»Lassen Sie sich nicht stören,« sagte er, mit der Hand winkend, da die jungen Männer sich erhoben. Harteck bot ihm einen Stuhl an. Der Dekan setzte sich. Man mag einem Menschen noch so unhold gesinnt sein: im Moment des Scheidens sieht man ihn immer mit milderen Augen an. Der Dekan betrachtete das blasse, hagere Gesicht des jungen Priesters, das im fahlen Frühlicht beinahe grau erschien, und etwas wie Mitleid regte sich in seiner Brust. Hatte er ihn vielleicht nicht doch allzu hart beurteilt und verurteilt? Nun aber waren die Würfel gefallen. Die leisen Selbstvorwürfe kamen zu spät.

»Wie reisen Sie?« fragte der Dekan sich räuspernd. »Wenn ich nicht irre, muß man einen Berg übersetzen, um nach Keßten zu gelangen.«

»Das wäre freilich der kürzeste Weg,« sagte Harteck. »Aber ich habe meiner Bagage wegen beschlossen, um den Berg herumzufahren. Ich muß die Fahrt im Schritt zurücklegen und werde Keßten vor dem Abend schwerlich erreichen.«

»So, so,« sprach der Dekan. Er hätte ihm gern etwas Freundliches gesagt, aber es fiel ihm nichts ein. »Wenn es Ihnen angenehm ist,« fuhr er nach längerer Überlegung fort, »kann Herr Perkow Sie begleiten und morgen mit dem Wagen hierher zurückkehren. Ich gebe ihm gern einen zweitägigen Urlaub.«

Überraschung und Freude malten sich im Gesicht des Priesters; er stand auf und ergriff die Hand des Prinzipals.

»Ich danke Ihnen, Herr Dekan,« sprach er mit Wärme.

»Aber bis morgen abend müssen Sie zurück sein,« sagte der Dekan zu Perkow gewendet. »Übermorgen ist Bittgang und den müssen Sie anführen.«

»Sie dürfen sich auf mich verlassen, gnädiger Herr,« sprach Joachim, der sich gleichfalls erhoben hatte.

Der Dekan nickte und legte die Hand auf Hartecks Schulter.

»Gehaben Sie sich wohl,« sagte er und seine Stimme klang nicht ganz rein, »und lassen Sie sich Ihre Pflichten recht angelegen sein. Der Herr gebe Ihnen seinen Segen dazu.«

»Ich stelle mich unter seinen Schutz,« antwortete Harteck. »Leben Sie wohl, Herr Dekan.«

Dieser entfernte sich rasch.

Uschei trat ein mit der Meldung, daß der Wagen bereit stehe.

Harteck gab auch ihr die Hand und sprach mit ihr, während Joachim, einen Plaid und Georgs Handtasche über dem Arm, zum Wagen hinabeilte. Georg folgte ihm bald.

»Wo ist der Pater?« fragte er, im Begriff einzusteigen.

Der Pater war nicht zu Hause. Hatte eine Pflicht ihn abgerufen oder wollte er dem Abschied aus dem Wege gehen? Harteck zerbrach sich nicht lang den Kopf darüber, trug Uschei auf, den Pater von ihm zu grüßen, schüttelte die Hände des um ihn versammelten Gesindes und stieg in den Wagen. Cäsar hatte keine Lust, ein gleiches zu tun und sprang, trotz Jucheis Pfeifen und Locken, laut bellend vor den Pferden her.

»Mag er laufen!« sagte Harteck. »Wenn er müde ist, bequemt er sich wohl, hereinzukommen. – Das gnädige Fräulein schläft wahrscheinlich noch?« wendete er sich an Uschei.

»Ja,« sagte diese.

»Vermelden Sie auch ihr meine Grüße und Empfehlungen. – Vorwärts, Kutscher!«

Die Pferde zogen an, die Knechte schwenkten die Mützen, die Dirnen winkten mit den Händen und die gefühlvolle Uschei führte ihre Schürze an die Augen. Juchei breitete den Plaid über die Kniee des Freundes, und, hart aneinander gerückt, fuhren sie in den kühlen Morgen hinaus. Georgs Lippen zitterten und an seinen Wimpern hingen schwere Tränen.

»Nicht weinen, Alter,« sagte Juchei bittend und schmiegte sich an ihn. »Sieh, wie schön die Sonne hervorbricht!«

Georg schaute nach Osten.

»Ade,« sprach er leise. Wem galt dieser letzte Gruß? Joachim ahnte, wem er gelten mochte, aber er sagte nichts und überließ den Freund seinen Gedanken.


Fräulein Aurelie war an diesem Morgen bitter verstimmt. Daß Harteck fort war, ärgerte sie nicht, wohl aber, daß sie sein Fortgehen hatte wünschen müssen. Ein so unhöflicher, geschmackloser Mensch! Aber der neue »Pfaff« war auch nicht besser. Harteck war doch wenigstens gutmütig gewesen, – aber dieser junge Lecker verstand so spöttisch zu blicken und so herrisch zu sprechen, daß man billig staunen mußte. Dazu eine wahrhaft empörende Gleichgültigkeit gegen – sie ... Das war es. Um sich zu zerstreuen, unternahm das Fräulein nach dem Frühstück einen Spaziergang. Auf dem Wege begegnete ihr Paula, die gerade vom Markte kam.

Aurelie blieb stehen, grüßte überaus höflich und erkundigte sich nach Paulas Befinden. »Sie müssen krank sein, meine Liebe,« sagte sie mit süßlichem Lächeln. »Sie sehen erschreckend schlecht aus, nicht anders, als ob Sie die ganze Nacht gewacht und geweint hätten. Wahrhaftig! so sehen Sie aus. Der Herr Kooperator – oder, wie er jetzt heißt, der Herr Vikar – sah vorgestern ebenso aus, – genau so schlecht wie Sie.«

Paula fühlte den Stich, gab jedoch keine Antwort.

»Sie wissen ja, daß er uns heute verlassen hat?« sprach Aurelie, noch immer lächelnd, weiter und verwandte keinen Blick von dem Mädchen.

»Heute?« wiederholte Paula mit tonloser Stimme. »Ich dachte, ... erst morgen ...«

»Nein, heute schon. Wußten Sie's nicht? Das nimmt mich Wunder.«

Hämisch fixierte sie das junge Mädchen, dessen farbloses, bestürztes Gesicht jedem anderen als ihr einiges Mitleid hätte einflößen müssen.

»Er fuhr sehr früh fort,« sagte Aurelie. »Ich habe seinetwegen meinen Schlaf natürlich nicht abbrechen wollen und seine Wegfahrt auch verschlafen. Er ist mir immer höchst gleichgültig gewesen.«

Sie sprach diese Worte affektiert genug, – aber Paula war zu zerstreut, um darauf zu achten. Sie dachte bloß an ihn, der ohne Abschied von ihr gegangen war, ... wahrscheinlich, um sie zu schonen. Darum also war er gestern so blaß gewesen, hatte er sie so lang angesehen, so lang, als ob er ihr Bild seiner Seele einprägen gewollt ... Er hatte ihr im Geiste Lebewohl gesagt und sie hatte nichts geahnt.

Und aus diesem höhnischen Munde hören müssen, daß er fort! Das war unerträglich. Sie nickte dem lächelnden Fräulein einen Gruß zu und ließ sie stehen. Schadenfroh blickte Aurelie ihr nach. Sie wußte und verstand nicht, was in diesem armen jungen Herzen vorging: sonst hätte sie erröten müssen darüber, daß sie bei so tiefem, wortlosem Weh nichts anderes empfand als hämische Schadenfreude.


In Keßten war man von dem Eintreffen des neuen Seelsorgers bereits unterrichtet. Um die siebente Abendstunde langten ein paar kleine Buben atemlos im Dorfe an, mit der Meldung, daß der Herr Vikar angefahren komme.

Wirklich tauchte auf der Heerstraße ein Wagen auf, der sich im Schritt dem Dorfe näherte. Alles, was Beine hatte, voran die Alten, hinterher die Jungen, eilte dem neuen Seelsorger entgegen.

»Das ist Keßten,« rief Juchei, sich von seinem Sitz erhebend; doch als er die Leute kommen sah, setzte er sich wieder und drückte sich in die Ecke. Die Leute sollten wissen, daß nicht er, sondern der Priester an seiner Seite der Erwartete wäre.

»Es ist für unsereinen doch viel besser, auf dem Lande als in einer Stadt zu leben,« sagt er zu Harteck. »Hier gelten wir doch etwas ... Nimm den Hut ab, Georg, ... Deine Gemeinde ist schon ganz nahe.«

Harteck richtete sich in die Höhe und tat, was der Freund von ihm begehrte hatte. Mit inniger Rührung sah er auf seine neue Gemeinde und sein Herz fing beim Anblick des kleinen, armen Dorfes laut zu schlagen an. Seine neue Heimat, – ach! die wievielte schon!? Aber er schüttelte die schwermütigen Gedanken rasch wieder ab; diese Menschen kamen ihm mit Liebe entgegen, – er wollte die sich ihm entgegenstreckenden Hände mit gleicher Liebe erfassen.

Und näher rückte der kleine Zug, immer näher. »Grüß Gott!« ertönte es aus alten und jungen Kehlen. Einige Mütterchen fingen zu weinen an, – froh vielleicht, einen Anlaß zu haben, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Weiber hoben ihre Kinder in die Höhe: »Siescht[22], Seppei[23], dös ischt der neue Herr Vikar!« Die Burschen und Dirnen grüßten mit lachenden Augen. Der junge Vikar winkte nach allen Seiten und reichte denjenigen, die sich besonders nah an den Wagen herandrängten, die Hand. Im Dorfe läuteten die Glocken, barhaupt gingen Männer und Burschen neben dem Wagen einher, die Weiberleute folgten hinten nach. Am Pfarrhof hielt der Wagen. Harteck öffnete den Schlag und sprang heraus, dankte den Dorfältesten, die um ihn herumstanden, für den liebevollen Empfang, drückte noch viele von schwerer Arbeit rauhe, mit Schwielen bedeckte Hände, schwenkte den Hut gegen das versammelte Landvolk hin und ging in das Haus hinein.

Die Leute zerstreuten sich bald. »Ein feiner Herr und so freundlich,« sagten einige. »Aber gar so viel blaß,« meinten andere. »Der Blonde sieht viel lustiger aus.«

Im großen und ganzen waren sie jedoch seines Lobes voll; er hatte jedermann gefallen.

Im Hausflur trat Harteck die Wirtschafterin des verstorbenen Vikars entgegen. Sie brach in Tränen aus, und als er sie um die Ursache ihres Kummers befragte, sagte sie schluchzend: »Sie erinnern mich halt gar so viel an meinen seligen Herrn ... Gerade so ein leutseliges G'schau[24] wie Sie hat er gehabt.«

Er bat sie, sich zu beruhigen: er werde sich alle Mühe geben, ihr den Verstorbenen zu ersetzen, und sie faßte sich auch und geleitete ihn in das Wohnzimmer, wo der gedeckte Tisch ihn belehrte, daß er erwartet worden war.

»Aber auf zwei Gäste haben Sie nicht gerechnet?« fragte Harteck lächelnd. »Ist genug Essen vorhanden für mich und meinen Freund und können Sie ihm ein Lager bereiten?«

Sie antwortete, daß sich das schon werde machen lassen, nur müßten die Herren eben mit geringem vorlieb nehmen. Ihre Miene blieb eine bekümmerte, in ihren Augen glänzten Tränen und alles, was sie sagte, brachte sie in traurigem Tone vor.

»Der tote Herr will mir halt nicht aus dem Sinn,« sagte sie, sich gleichsam entschuldigend. Harteck betrachtete sie mit Teilnahme; hatte doch Paula von ihr und für sie gesprochen. Er nahm sich vor, gut und geduldig gegen die arme Frau zu sein.

Während diese sich anschickte, das Essen aufzutragen, besichtigten die Geistlichen den Pfarrhof. Das Haus war allerdings armselig, die Zimmerchen niedrig und in schlechtem Stande. Aber Georg ließ sich dadurch nicht verstimmen, sondern sprach die Hoffnung aus, daß es ihm wohl gelingen würde, sein kleines Besitztum wohnlich zu gestalten, und Joachim bestärkte ihn in seiner Zuversicht. Heiterer als sie gedacht hatten, setzten sie sich an den gedeckten Tisch und verzehrten das einfache Mahl.

Am folgenden Tag war ihre erste Sorge, in die Kirche zu gehen und die Messe zu zelebrieren. Die ganze Gemeinde hatte sich eingefunden und wohnte mit großer Andacht der heiligen Messe bei, und als der Gottesdienst vorüber war, kamen viele Leute in die Sakristei und begehrten mit dem neuen Vikar zu sprechen; ein jeder hatte ein anderes Anliegen und alle wollten gehört sein. Harteck ersuchte die Leute, nach Ablauf einer Stunde in den Pfarrhof zu kommen, dort werde er alle Wünsche entgegennehmen, und kehrte mit Juchei in den Pfarrhof zurück. Da nahmen sie das Frühstück ein und plauderten eine Weile; dann stand Juchei auf und sagte, daß es Zeit für ihn wäre, die Heimfahrt anzutreten. Harteck schloß ihn in die Arme und Juchei hing lang an seinem Halse.

»Laß es Dir gut gehen,« sagte Juchei endlich mit schwankender Stimme, »und schreib mir oft ...«

Er riß sich aus seinen Armen und ging rasch davon. Harteck stellte sich ans Fenster. Er sah Juchei aus dem Hause treten und in den Wagen steigen.

»Besuche mich bald!« rief er hinunter.

»Sobald ich kann,« antwortete Juchei und erhob grüßend die Hand. Ein stechender Schmerz durchzuckte Hartecks Brust, als jetzt der Wagen sich in Bewegung setzte. War ihm doch, als ob die Pferde sein Einziges, das Letzte, was das Schicksal ihm gelassen hatte, entführten. Jetzt erst fühlte er, wie teuer und notwendig der Freund ihm war und wie einsam, wie freudlos das neue Leben. Er trat vom Fenster zurück. Er konnte den Freund nicht fortfahren sehen. Und drunten auf der Straße fuhr Joachim, drückte sich in eine Ecke und zog den Hut bis auf die Augen herab, – damit niemand die Tränen sehe, die der Abschied vom Freunde ihm erpreßte.

Sechzehntes Kapitel

Die Abwesenden sind bald vergessen. Nach kurzer Zeit schon sprachen die Bewohner St. Jakobs nicht mehr von ihrem alten Kooperator und gewöhnten sich an den neuen, und der Dekan, dessen flüchtiges Reuegefühl längst wieder verflogen war, fand sein Vorgehen wider Harteck nunmehr ganz in der Ordnung und zerbrach sich nicht weiter den Kopf über ihn und sein Schicksal. Im Hause des Arztes wurde der Name Hartecks niemals genannt und, äußerlich wenigstens, schien es, als ob in diesen Räumen mit dem Scheiden des Priesters der alte Friede wieder eingekehrt wäre. Den Vater freilich täuschte die scheinbare Ruhe seines Kindes nicht. Er kannte Paula zu gut, um nicht zu wissen, daß sie nicht zu denjenigen gehörte, die vergessen, weil sie stumm bleiben. Aber wozu an die Wunde rühren? Mochte sie im stillen ausbluten; die alles mildernde Zeit wird auch diese Wunde schließen.

Paula lebte still dahin, beschäftigte sich viel mit dem Hauswesen, der Schwester, dem Vater, und war sanft und geduldig gegen jedermann. Wenn manchmal Leute, teils aus Mitgefühl, teils aus Neugier und nicht selten aus Bosheit, von dem Geistlichen zu sprechen anhoben und dabei dem Mädchen mit dummdreistem Blick ins Gesicht starrten, antwortete Paula ruhig und gelassen, und nichts in ihren Zügen tat kund, daß sie sehr gut wußte, weshalb die Menschen gerade so oft mit ihr von dem Geschiedenen redeten. Die Kirche besuchte sie nur zu Stunden, wo sie das Gotteshaus fast leer wußte; dann kniete sie an einem der Seitenaltäre nieder, legte Stirn und Hände auf die Umfriedung und dachte nach ... Beten konnte sie selten; doch wenn es geschah, war es ein Gebet für ihn, ... daß Gott ihn sie vergessen lassen möchte ... Für sich erbat sie nicht das gleiche. Sie wußte, daß diese Bitte nicht erfüllt werden konnte.

Im Anfang ertrug sie seinen Verlust mit großer Fassung. Ihr war zumute, als ob er gar nicht gegangen wäre, als ob er wieder kommen müßte. Als aber Tag um Tag, Woche um Woche verstrich und keine Kunde von ihm zu ihr gelangte; als sie immer umsonst auf ihn wartete oder auf ein Zeichen von ihm, – da begann sie eine ungeheure Leere in der Brust zu fühlen; da wurde ihr allmählich klar, daß sie ihn ganz und auf immer verloren, daß ihr Warten ein vergebliches, ... und es kam ihr vor, als ob alles um sie herum und in ihr abgestorben wäre. Was tut er? Wie lebt er? Sie zermarterte sich das Gehirn über diese Fragen. Oft sprang sie mitten in einer Arbeit vom Stuhle auf und stand, die Hand an die Lippen gepreßt, ängstlich horchend da ... »Er sehnt sich nach mir, ruft mich, kann mich nicht vergessen,« dachte sie dann. »Ich fühle es, und das ist es, was mich so emporreißt und hinzieht zu ihm ...«

»Warum bist Du so traurig, Paula?« fragte die kleine Toni zu wiederholten Malen. Was sollte sie dem Schwesterchen antworten? »Wenn Du einmal groß sein wirst, will ich's Dir sagen,« versetzte sie einmal. »Heute würdest Du es noch nicht verstehen.«

Mit Perkow traf sie selten zusammen. Sie vermied es, ihm zu begegnen und er – suchte sie nicht auf. Sie hörte viel Gutes über ihn, – wie eifrig er wäre, wie sittenstreng und brav und welch' große Stücke der Dekan auf ihn halte, ... aber alles dieses Lob stimmte sie nicht freundlicher wider ihn. Im Gegenteil! Lag darin nicht eine indirekte Herabsetzung des anderen? Den hatte niemand gelobt, obschon alle ihm gut gewesen waren. Aber sie sprachen nach, was sie vom Dekan gehört hatten: daß Harteck kein echter Priester gewesen wäre, daß er zu viel weltlichen Gedanken nachgehangen hätte ... Der neue Kooperator hingegen, – ja der, das wäre ein Mann! Vielleicht ein wenig streng, aber das müsse ein Priester sein, vor einem solchen habe man doch Respekt, während der andere, ... dem seien eben immer die Weiber im Sinn gelegen, der hätte nicht Geistlich werden sollen. Paula nährte einen geheimen Groll gegen den jungen blonden Priester, und daß er Hartecks Freund war, erbitterte sie noch mehr wider ihn. Der durfte ihm Liebesdienste erweisen, mit ihm verkehren, brauchte seine Freundschaft nicht scheu zu verbergen, während sie alle ihre Liebe in ihr Herz verschließen und schweigend zusehen mußte, wie diese Liebesfülle nutzlos und einsam verdorrte.

Eines Tages ging sie im Garten spazieren und sah den jungen Kooperator vor demselben auf und ab wandeln. Von Zeit zu Zeit stand er still, schaute um sich, schien auf jemanden zu warten ... Sie näherte sich ihm. Perkow erblickte sie, fuhr grüßend an den Hut und trat an das Geländer heran.

»Wünschen Sie etwas von mir?« redete Paula ihn an.

»Nichts Besonderes,« gab er zur Antwort. »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie das Singen in der Kirche gänzlich aufgegeben haben. Der Herr Dekan hat neulich davon gesprochen ...«

Um ihr das zu sagen, war er sicherlich nicht gekommen. Aber Paula hatte keine Lust, ihm zu helfen.

»Ich bin heiser und kann nicht singen:« das war alles, was sie erwiderte.

»Mein Freund Harteck –,« er, nicht sie, errötete, als er diesen Namen aussprach, – »schwärmt heute noch von Ihrem Gesang. Die Leute in Keßten haben erbärmliche, schlecht geschulte Stimmen.«

Paula war bei diesen Worten, als ob die Schranke zwischen ihr und ihm plötzlich fiele; er war gekommen, um ihr von Georg zu erzählen ... Konnte sie da noch zögern? Ihr ganzes Herz verlangte ja danach, von ihm zu hören.

»Wie geht es Ihrem Freunde?« fragte sie mit bebender Stimme.

»Danke, recht gut,« antwortete er, durch die entgegenkommende Frage sichtlich erleichtert. »Ich habe vor kurzem einen Brief von ihm erhalten. Vielleicht wollen Sie diesen lesen ...?«

»Ja,« sagte Paula. Sie wußte nun, daß Perkow von ihrem traurigen Geheimnisse unterrichtet war, und gab auch ihrerseits jede Verstellung auf. Er überreichte ihr das Schreiben und blickte, während sie las, von ihr weg, die Straße hinab.

»Du teilst mir mit, daß Deine Berufspflichten es Dir einstweilen unmöglich machen, mich zu besuchen,« hieß es in dem Briefe, »und so muß ich denn nolens volens zur armseligen Kritzelei meine Zuflucht nehmen, um mich mit Dir zu unterhalten. Ein recht erbärmliches Auskunftsmittel, lieber Juchei, das mich nur wenig befriedigt. Daß ich es Dir nur bekenne: täglich stehe ich mit der Hoffnung auf, daß Du vielleicht heute kommen wirst, und blicke hundertmal im Tag die Straße hinauf und hinunter, ... aber immer vergeblich. Was ich tue und treibe? Ach Lieber! Was soll, was kann ich tun? Du weißt doch, welches unser Leben ist. In Keßten, so klein das Nest ist, gibt es viel zu schaffen. Die Seelsorge ist recht anstrengend, da ich alles allein besorgen muß und die Kirche von meiner Wohnung weit entfernt liegt. Und dann ist meine Gemeinde auf Wallfahrten sehr erpicht, und die muß ich natürlich immer mitmachen. Den Leuten geht es aber trotzdem ziemlich schlecht, sie sind arm und der Boden wirft, außer Gras, nichts ab. Das junge Volk verdingt sich als Knechte und Mägde in die reicheren Nachbardörfer, die Alten und Verheirateten bleiben daheim und schlagen sich kümmerlich genug durchs Leben. Die Männer betreiben einen kleinen Milch- und Käsehandel, die Weiber spinnen, sticken, flechten Strohhüte. An Kranken und Kretins herrscht hier trauriger Überfluß. Die Kranken sind sehr fromm und sehen es gern, wenn ich sie besuche; ich tue ihnen den Gefallen und tröste sie, so gut ich es vermag, und sie haben mich schon recht lieb gewonnen. Besonders leid tun mir die Kinder. Diese armen Würmer müssen eine Stunde lang in die Schule laufen, und wenn ich nicht fürchtete, daß ich mir dadurch Verdrießlichkeiten zuziehen könnte, würde ich es gern übernehmen, sie zu unterrichten; zum mindesten die kleinsten und schwächlichen. Aber dann würde es wahrscheinlich heißen, daß ich die Kleinen ›verfinstern‹ wolle und mich in Dinge menge, die mich nichts angehen. Du weißt, wie die Herren Lehrer über uns denken. Darum lasse ich es lieber sein.

Hier bietet sich mir auch Gelegenheit zu erfahren, was arm sein heißt. Solang ich unter einem Vorgesetzten stand, wußte ich nicht, wie arm ich war, weil ich mit den Haushaltauslagen nichts zu schaffen hatte. Ich brauchte nur für Kleider, Bücher, Musikalien usw. zu sorgen und dafür reichte meine karge Einnahme immerhin aus. Jetzt aber soll ich alles bestreiten, alles besorgen, und meine Einkünfte sind verzweifelt gering. Ich bin sozusagen in einer höchst peinlichen Lage ... Ich habe doch meine Junggesellenwirtschaft einrichten müssen, vieles fehlt noch darin und meine Haushälterin jammert mir täglich vor, sie brauche das und jenes, ... aber mein Geld ist alle. Ich bitte Dich jedoch mit aufgehobenen Händen, mir nur um des Himmels willen keines zu schicken. Du hast selbst sehr wenig und benötigst es für Dich, und außerdem weiß ich nicht, wann ich es Dir zurückerstatten könnte. Ich werde mich wohl durchschlagen. Die Leute sind so komisch zu glauben, daß ich mich pekuniär ziemlich gut stehe, und haben nicht selten den unglücklichen Einfall, mich um milde Gaben anzusprechen. Wenn diese armen, bedrängten Menschen nicht einen so jammervollen Anblick böten, würde ich über solche Zumutungen lachen. Ich gebe sehr gern, – aber leben muß man doch auch, und ich kann Dir versichern, daß ich schlecht genug lebe. Mein Vorgänger hat eine Art Gemüsehandel getrieben, – das aber bringe ich nicht zuwege. Offen gesagt, ich schäme mich, es zu tun. Lieber esse ich mich an Gemüsen satt, – das Fleisch ist hier ohnehin selten und teuer.

Meine gute Gemeinde benutzt mich überhaupt zu allem möglichen. Die Leute sind, wie alle Bauern, interessiert und habsüchtig, und wenn sie irgend etwas wissen wollen, wenden sie sich an mich, der jede Auskunft gratis verabfolgt. Auch zum Schiedsrichter ernennen sie mich oft – Bauern streiten ja immer untereinander und suchen sich gegenseitig zu übervorteilen –, und ich muß dann entscheiden, wer von den Streitenden recht habe und wer unrecht. Von meiner Unparteilichkeit sind sie überzeugt und dann kostet mein Richtspruch keinen Kreuzer, – das ist die Hauptsache. Aber halsstarrig und eigensinnig sind meine Schäflein, – es gehört eine große Dose Geduld dazu, mit ihnen fertig zu werden. Auch kann man sich nicht auf sie verlassen. Ins Gesicht geben sie mir recht, und kaum drehe ich ihnen den Rücken, tun sie das verkehrte. Vielleicht bin ich ein Narr, daß ich mir ihr Wohl und Wehe so angelegen sein lasse; aber ich möchte, daß sie friedlich nebeneinander lebten, möchte sie vernünftiger machen. Was die Gesundheitpflege anbelangt, so haben sie davon keinen Begriff. Die Kinder leiden am meisten darunter; in den Stuben wird die freie Luft ängstlich abgesperrt, die Fenster bleiben konsequent geschlossen und die Reinlichkeit des Körpers gilt als eine überflüssige Sache; kaum, daß die Leute sich täglich das Gesicht waschen; das Haar kämmen sich die Frauen oft bloß am Sonntag. Könnte man da nicht rasend werden! Aber rede mit diesen Leuten! Sie halten mich für überspannt, wenn ich ihnen irgendeinen Rat erteile, und lachen mich im geheimen wahrscheinlich aus. Die Kinder sind klein und schwach für ihr Alter, die Frauen sehen vor der Zeit welk und verblüht aus, haben dünnes Haar und schlechte Zähne, ... das sind die Folgen der grenzenlosen Beschränktheit. Ich bin oft recht mutlos; vielleicht, daß mit der Zeit – Du lieber Gott! Was alles habe ich nicht schon von der Zeit erhofft! Vielleicht, daß sie dieses Mal sich wirksamer erweisen wird, als sie bisher getan hat.

Ich bin jetzt leidlich gesund, obschon ich mich meistens abgespannt und ermüdet fühle; besonders das Predigen strengt mich an. Auch das Klavierspiel, meine liebste Beschäftigung, darf ich nicht allzu fleißig pflegen. Aber ich gehe viel ins Freie und Cäsar ist dabei mein steter Begleiter. Mein Husten hat sich gebessert, auch bin ich weniger heiser als früher und sehe gesünder aus. Meine brave Wirtschafterin, die mir treu ergeben ist und gewissenhaft für mein leibliches Wohl sorgt, macht mir täglich ein Kompliment über mein Aussehen. Ich schreibe Dir alles das, weil Du es wissen wolltest, und Du darfst mir's auch glauben. Weißt Du, daß nun schon zwei Monate verflossen sind, seit Du bei mir gewesen bist? Mach Dich doch frei und komm Dir Deinen Freund ansehen. Oder schreib mir wenigstens bald und recht ausführlich, hörst Du, Juchei? Ich sehne mich unaussprechlich nach Dir –

Mit tausend Grüßen    
Dein getreuer Georg.«

Kein Wort von ihr in dem Schreiben ... Paula faltete es schweigend zusammen und steckte es in den Umschlag. Wahrscheinlich hatte der Geistliche sie den Brief just deshalb lesen lassen ... Georg mußte von ihr gesprochen oder geschrieben haben; wie würde sein Freund sonst auf den Gedanken verfallen sein, zu ihr zu kommen? Dieses Schreiben war wohl das gefaßteste, sollte sie über sein Schicksal beruhigen. Ein ungläubiges und bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie mußte eine Bewegung machen, um die Aufmerksamkeit Perkows, der bis jetzt den Blick absichtlich von ihr abgewendet gehalten, auf sich zu lenken.

»Da haben Sie den Brief wieder,« sagte Paula. Er nahm ihn in Empfang.

»Sind Sie zufrieden?« fragte er.

»O ja ... Wann werden Sie wieder nach Keßten gehen?«

»Sobald es mir möglich sein wird. Der Ausflug nimmt doch einen ganzen Tag in Anspruch und der Herr Dekan sieht es nicht gern, wenn die Arbeiten im Rückstand bleiben.«

Er grüßte und ging seiner Wege.

»Er mag mich nicht,« dachte Paula. »Seines Auftrages hat er sich entledigt, und er ist froh von mir fortzukommen. Vielleicht haßt er mich sogar, klagt mich an, ... und doch, ... ist es denn meine Schuld, daß ich dort Leid bringen muß, wo ich so gern beglücken möchte? Hartes, hartes Schicksal ...«

Und wieder folgte ein Tag dem anderen. In trostloser Einförmigkeit verstrich Woche um Woche, verging der Sommer, kam der Herbst ... Schon färbten sich die Blätter der Bäume gelb und rot, lag frischer Schnee auf den Bergen; der ernste Oktober brach herein, der traurige November kam gezogen, ... und immer noch wartete Paula auf eine neue Kunde, schlich oft an dem Pfarrhof vorbei, um den jungen Priester vielleicht zu erspähen ... Sie besaß ihm gegenüber keinen Stolz mehr. War er doch der einzige, der ihr Nachricht geben konnte von dem Freunde ... Gern hätte sie sich vor dem kalten jungen Manne gedemütigt, ihn angefleht, ihr ein, nur ein Wort zu sagen, ... aber der Geistliche wußte ihr immer auszuweichen. Einmal jedoch traf sie ihn zufällig auf der Straße, und da sie ihm den Weg vertrat und vor ihm stehen blieb, hemmte auch er den Schritt.

»Ich bin mit dem Befinden meines Freundes gar nicht zufrieden,« sagte er unaufgefordert. »Vor mehreren Wochen hat er sich stark erkältet. Er wurde in der Nacht zu einem Sterbenden geholt, der Weg war weit und beschwerlich, das Wetter sehr häßlich ... und seitdem geht es ihm schlecht. Auf meinen Rat hin hat er nach Salzburg geschrieben und um seine Versetzung nachgesucht ... Hoffentlich wird seinem Wunsche bald entsprochen werden. Die Seelsorge in Keßten ist zu anstrengend für ihn und das Klima zu ungesund.«

»Ja, ... der geistliche Tod,« sprach Paula dumpf vor sich hin.

Mit einer Mischung von Verwunderung und Schrecken schaute Perkow sie an: »Was sagten Sie?«

»Nichts ...« Sie blickte starr in die Luft. Unausweichlich sah sie es kommen, ... Schritt vor Schritt, ... das längst Geahnte, oft Gefürchtete. Es konnte nicht anders sein. Menschen und Schicksal reichten einander die Hand, um ihn zu verderben.

»Wann gehen Sie wieder zu ihm?« fragte sie.

»Dieser Tage. Der Gedanke an ihn läßt mir keine Ruhe. Ich sehe ihn immer vor mir ...«

Hastig brach er ab und entfernte sich.

Kurz vor Weihnachten fand Paula sich an einem Morgen zur Frühmesse in der Kirche ein. Sie saß teilnahmlos in einer Kirchenbank, während Toni neben ihr kniete und andächtig betete. Das junge Mädchen faltete mechanisch die Hände, ihre Gedanken aber weilten nicht bei Gott. Unverwandt hingen ihre Augen an der Gestalt des jungen Priesters, der die heilige Messe las ... Ach! wenn sie doch endlich vorüber wäre, diese Messe. Nicht des Gebetes halber war Paula gekommen. Die Messe war zu Ende, der junge Geistliche erteilte der Gemeinde den Segen, setzte sein Barett auf und begab sich in die Sakristei.

»Geh Du nach Hause,« sagte Paula zu Toni. »Ich komme bald nach ...«

Sie stand auf und folgte dem Priester. Er war eben im Begriff, das Meßkleid auszuziehen und sah die Eintretende nicht sonderlich freundlich an.

»Was wünschen Sie?« fragte er.

»Mit Ihnen sprechen, ... unter vier Augen ...«

Perkow zuckte die Achseln, gab aber dem Meßner und dem Ministranten die Weisung, sich zu entfernen. Die beiden gehorchten mit verwunderten Gesichtern.

»Sie wollen wahrscheinlich wissen, was Harteck macht,« sagte der Geistliche in hartem, fast erbittertem Tone und fuhr fort sich auszukleiden. »Vernehmen Sie denn, daß er sehr krank ist, ... nicht herzkrank, meine ich, sondern physisch krank, ... und wenn die Herren in Salzburg nicht bald die Gnade haben, seinen wiederholten Bitten um Versetzung von Keßten nach einem milderen Klima Gehör zu geben, wird er wohl auf immer dort bleiben müssen ... Wünschen Sie noch etwas zu erfahren?«

»Warum hassen Sie mich?« fragte Paula mit versagender Stimme. »Was habe ich getan? Als ob er allein ... Ich bin ja auch unglücklich.«

»Das bedaure ich von Herzen,« erwiderte er frostig. »Halten Sie mir meine Kälte nicht für übel, ... ich habe meinen Freund sehr lieb; er hat ohnehin genug zu tragen, ... mußte auch das noch über ihn kommen!«

»Ist keine Hoffnung da, daß er Keßten verlassen wird?« fragte Paula.

»Bis jetzt keine ... Er hat schon einige Male nach Salzburg geschrieben, ... aber die Herren dort scheinen an seine Krankheit nicht recht zu glauben, denn sie geben ihm einfach keine Antwort. Wenn ihm nur wenigstens ein Hilfsgeistlicher zugeteilt würde! Auch darum hat er gebeten, ... aber bei der herrschenden Seelsorgernot hält es wahrscheinlich schwer, sein Ansuchen zu erfüllen. Er ist ganz verändert, ... so reizbar, erbittert und ungeduldig, ... ein ganz anderer Mensch, als er war.«

»Er war so gut, so weich,« sagte Paula und Tränen stürzten aus ihren Augen. »Gott! mein Gott! Und wir stehen müßig da und können nichts tun für ihn ...«

Sie lehnte sich an die Wand und weinte bitterlich, hilf- und trostlos.

Perkow schien gerührt.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er, »und verzeihen Sie mir, wenn ich Sie hart anließ ... Ich hatte unrecht.«

»Was liegt an mir!« rief sie unter Tränen. »Helfen Sie ihm, ... alles andere ist gleichgültig.«

»Was kann ich tun?« entgegnete Perkow. »Ich habe alles versucht, ... habe mit dem Dekan gesprochen und ihn gebeten, sich für Georg zu verwenden, ... habe selbst nach Salzburg geschrieben, ... wer aber bin ich? Meine Stimme verhallt ungehört. Ich will noch ein Letztes wagen und, wenn die Feiertage vorüber sind, nach Salzburg reisen, ... vielleicht, daß es etwas nützen wird.«

»Ja, reisen Sie hin,« sprach Paula hastig. »Gott segne Sie!« Und das Taschentuch an die zuckenden Lippen und nassen Augen pressend, enteilte sie mit raschen Schritten. In Gedanken versunken blieb der junge Priester stehen. Es war doch etwas Erhabenes um eine so tiefe, hingebungsvolle Liebe, trotz allem Schmerz und aller Pein. Sogar er mußte das zugeben. Dieses Mädchen hatte nichts zu hoffen, die Welt und vor allen er nannte ihre Liebe eine sündige, ... und dennoch, ... wie frei trug Paula das Haupt, verachtend jeden Spott und Hohn, alles vergessend, alles ertragend bis auf das Leid, das der geliebte Mann zu erdulden hatte. »Ich will ihr nie wieder hart begegnen,« gelobte sich Perkow. »Sie ist, trotz allem, treu und brav.«

Weihnachten kam und ging, – Silvester, – das alte Jahr sank ins Grab. Trübe genug waren die hohen Festtage für den jungen Geistlichen verstrichen; die Sorge um den kranken Freund verdrängte jeden anderen Gedanken, verfolgte ihn bis ins Gotteshaus, bis in die Ausübung seiner teuersten Berufspflichten. Am heiligen Christtag hatte er sanfter als sonst gepredigt; und als er von der Liebe und den Leiden des Gottessohnes sprach und seine Gläubigen daran erinnerte, sie möchten dem Heiland zuliebe gut gegen ihre Nebenmenschen sein, möchten sein Gebot: ›Liebet Euch untereinander‹ treu befolgen, denn die Menschen stürben, und wenn wir jemand Teuren verloren und ihn, solange er lebte, gekränkt hätten, käme alle Reue zu spät, und wir möchten die Erde aufscharren, um den Dahingeschiedenen nur noch einmal zu sehen, ihm ein Liebeswort, ein Wort der Reue zu sagen, ... da zitterte die Stimme des jungen Predigers und in seinen Augen schimmerte ein feuchter Glanz. Er dachte an den Freund.

An einem eisig-kalten Januarabend saß der junge Priester allein in seinem Zimmer, damit beschäftigt, an Georg Harteck zu schreiben. Aber mutlos ließ er die Feder sinken. Was sollte er dem Freunde sagen? Daß er in Salzburg gewesen war und nichts erreicht hatte? Ach! Immer nur Trauriges berichten können! ... Er stand auf und schritt im Zimmer auf und ab. War denn alles schon versucht worden? Alle Hilfsquellen erschöpft? Er drückte die geballte Hand wider die Stirn und sann und grübelte ...

Horch! Ein Wagen. Er hielt vor dem Hause still. Wer kommt um diese Stunde? Vielleicht der Bote eines Kranken, der nach einem Priester sendet? Perkow stand still und horchte. Schritte und Stimmen auf der Treppe; sie nähern sich, die Tür geht auf und: »Jesus!« entringt sich unwillkürlich den Lippen des jungen Geistlichen, er weicht ein paar Schritte weit zurück, ... meint er doch ein Gespenst zu sehen. »Du hier, Georg?« stotterte er, »bei dieser Kälte, in so später Stunde! Was, um aller Heiligen willen, führt Dich hierher?«

Der Ankömmling schüttelte sich und griff mit der Hand an die Kehle, als ob etwas ihn würgte ...

»Gib mir Wein,« brachte er mit heiserer Stimme heraus, »Glühwein, wenn möglich ... Ich bin ganz starr vor Kälte.«

Joachim ging um ihn herum, befühlte seine Hände, seine Kleider, ... er glaubte noch immer zu träumen.

»Ich will sogleich ... Setz Dich einstweilen ... oder, besser noch, leg Dich zu Bett ... Wie kannst Du mich so erschrecken, Georg!«

»Es ist nun einmal mein böses Schicksal, die zu quälen, die mich lieben,« erwiderte Harteck und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich vermag es nicht zu ändern.«

Joachim entfernte sich und kehrte sehr bald zurück.

»Nun sag mir, was Du hier zu suchen hast,« begann er, holte seine Bettdecke und warf sie über die Kniee des Freundes. »Weshalb bist Du gekommen? Doch nicht ... wegen des Mädchens?«

»Nein. Ich bin auf dem Wege nach Salzburg.«

»Dort bin ich gewesen und ...«

»Und sie haben Dich abgewiesen, nicht wahr? Eben, weil ich das voraussah, gehe ich hin. Sie sollen mit eigenen Augen sehen, was sie aus mir gemacht haben.«

Ein heftiger Hustenanfall zwang ihn, seine Rede zu unterbrechen.

»Dieser verdammte Husten!« murrte er, als er wieder sprechen konnte. »Tag und Nacht läßt er mir keine Ruhe. Immer röchelt er in meiner Brust und will heraus, heraus ... Der Dekan schläft wohl schon?« fragte er ablenkend und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich weiß es nicht ... Was willst Du von ihm?«

»Mit diesem Herrn habe ich auch ein Wort zu sprechen. Er wolle nichts für mich tun, schriebst Du mir. Ich möchte einmal sehen, ob er mir das Aug' in Auge zu wiederholen wagt!«

»Georg, rege Dich nicht gewaltsam auf,« sagte Joachim und legte beschwichtigend die Hand auf die Schulter des Freundes.

»Ich soll wohl noch ruhig bleiben?« rief dieser leidenschaftlich. »Was habe ich getan? Daß ich ein paar alten, miserablen Pfaffen nicht zu Gesicht stand, ... kann ich dafür! Was habe ich sonst verbrochen, daß sie mich verenden lassen wollen wie einen räudigen Hund? Mir soll mein Recht werden, das schwöre ich! Ich will den Herren Pfaffen und Ultramontanen in Salzburg Dinge sagen, die ihnen noch lang in den Ohren liegen sollen ... Ich bin nicht mehr der sanfte, furchtsame Narr, der ich war, ... leider zu lang gewesen bin, ... sonst stünde ich heute anders da. Aber noch ist es Zeit ...«

Ein lautes Klopfen an die Tür machte ihn verstummen und nach der Tür hinblicken.

»Wer ist es?« fragte Perkow, aus dessen Gesicht, während der Freund gesprochen, alle Farbe gewichen war.

»Kann ich eintreten?« fragte es draußen zurück.

»Der Dekan!« murmelte Joachim mit einem verstörten Blick auf Georg.

»O ja! Warum nicht?« antwortete Harteck für den anderen. »Im Gegenteil! Ich werde mich sehr freuen, den gnädigen Herrn Dekan zu begrüßen ...«

Die Tür ging auf und hereintrat mit zögernden Schritten die beleibte Gestalt des Dekans. Seine Miene war ängstlich und vorsichtig schloß er die Tür.

»Ich habe gehört, daß Sie gekommen sind,« hob er an; doch was er ferner sagen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken. Hartecks Anblick entsetzte ihn. Diese abgemagerten Glieder, um die der schwarze Priestertalar schlotterte, die eingesunkene Brust, die hinaufgezogenen Schultern, die hohlen Wangen und Schläfen, die gespenstisch großen Augen und um die Lippen ein scharfer, krankhafter Zug: in so kurzer Zeit eine solche Verwandlung, ... das zu finden, hatte der Dekan nicht erwartet.

Harteck war sitzen geblieben und sah den ehemaligen Prinzipal mit höhnisch herausfordernden Blicken an.

»Sie finden mich sehr verändert, nicht wahr?«

»Allerdings ... ein wenig,« stammelte der Dekan.

»Wenn das hochwürdige Domkapitel von Salzburg« – er schnitt bei diesen Worten eine Grimasse – »mich sehen wird, werden die Herren vielleicht an meine Krankheit glauben, meinen Sie nicht, Herr Dekan? Dann wird es nicht mehr heißen: Was dieser Mensch nur will, ... in einemfort will er anderswohin ... Oder vielleicht irre ich ... vielleicht beurteile ich die Herren zu menschlich, ... vielleicht werden sie sagen: Um so besser! Werden wir ihn endlich los! Er tut ja doch nirgends gut ... Keiner seiner Vorgesetzten mochte ihn leiden, und der hochwürdige Herr Dekan von St. Jakob hat uns streng auf die Seele gebunden, diesen Menschen nicht zu schonen, seinen Alfanzereien kein Gehör zu leihen ...«

»Ich bitte Sie,« fiel ihm der Dekan verstört in die Rede, »halten Sie inne! Was glauben Sie von mir? Es ist mir doch niemals in den Sinn gekommen ...«

»Nicht? Dann bitte ich um Verzeihung, obwohl ich, entschuldigen Sie, Ihren Worten keinen rechten Glauben beimessen kann. Sind nicht Sie es gewesen, der meine Versetzung nach Keßten in Vorschlag gebracht hat?«

»Das habe ich zwar getan ... Wie aber konnte ich voraussehen ...«

»Daß ich erkranken würde? Das konnten Sie freilich nicht voraussehen. Als aber mein Freund Sie bat, Sie wiederholt bat, ein gutes Wort für mich einzulegen, ... was gaben Sie ihm zur Antwort? Daß er Sie verschonen möchte, Sie hätten sich mit diesem Menschen – mit mir nämlich – schon genug gequält und seine Krankheit wäre ohnehin nur erlogen, ... das haben Sie ihm geantwortet. Glauben Sie wirklich, daß ein Mensch mit einem so ehrlichen Gesicht und so treuen Augen wie mein Joachim lügen könne? Das können Sie nicht geglaubt haben, ... aber es war Ihnen lästig, sich meinethalben zu bemühen. Freilich hätte es Ihnen bloß einige Zeilen gekostet, ... aber auch das war zu viel verlangt. Sie wollten mir keinen Liebesdienst erweisen. Das war's.«

Der Dekan sah sich hilfesuchend nach Perkow um. Der aber war zum Fenster hingetreten und kehrte den Sprechenden den Rücken zu. Seine Hände lagen auf dem Fensterbrett, seine Stirn lehnte an der Scheibe. Sogar aus der Entfernung konnte der Dekan wahrnehmen, daß der junge Priester am ganzen Leibe zitterte.

»Sie gehen denn doch zu weit,« sagte der Dekan, der einsah, daß er nicht länger stumm bleiben konnte. »Weshalb sagen Sie mir das alles? Warum sind Sie überhaupt hier?«

»Um Ihnen das alles zu sagen. Zuerst Ihnen, dann der ehrenwerten Gesellschaft in Salzburg. So krank ich bin, ... ich schleppe mich hin zu diesen Herren und fordere Gerechtigkeit. Daß sie sich hüten! Ich bin ein verzweifelter Mensch. Wenn sie nicht nachgeben, will ich andere Saiten aufziehen, ... will aller Welt verkünden, wie man in dieser Diözese gegen den niederen Klerus verfährt, ... austreten will ich aus dieser Diözese und in allen Blättern veröffentlichen lassen, wie man gegen mich vorgegangen ist, ... sie sollen an mich denken, diese Diener der Kirche. Zertreten haben sie mich, – aber ich will den Fuß stechen, der mich zertreten hat. Vielleicht, daß ein Skandal anderen armen, unterdrückten Pfaffen zum Heile werden wird, ... dann mag ich in Gottes Namen zugrunde gehen.«

»Hören Sie mich, Herr Vikar,« sagte der Dekan sichtlich aufgeregt. »Kommen Sie doch zu sich! Sie waren ja sonst nicht so heftig ...«

Harteck lachte bitter in sich hinein.

»Sehen Sie das jetzt ein?«

»Alles sehe ich ein. Hören Sie mich nur, ich beschwöre Sie. Einen Skandal können und dürfen Sie nicht machen. Was würde die Welt dazu sagen? Daß wir den jungen Klerus nichtswürdig behandeln, ... von dem einen Beispiel würden unsere Gegner auf die Gesamtheit schließen. Und das wäre doch eine Unwahrheit ... Fragen Sie Ihren Freund, fragen Sie alle jungen Geistlichen, die in meinem Hause lebten, ... alle werden Ihnen sagen, daß ich sie anständig behandelt habe. Ich bitte Sie, nehmen Sie Vernunft an. Ich werde alles für Sie tun, werde selbst nach Salzburg gehen und den Herren erzählen, was ich gesehen und gehört habe, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie von Keßten fortkommen sollen ... Wollen Sie noch sonst etwas? Ich bin bereit, alle Ihre Wünsche zu erfüllen.«

Harteck dachte nach. In seinem gesenkten Gesichte dämmerte kein Schimmer von Versöhnung auf, ... seine Züge blieben finster, wie sie gewesen. Er wußte, was den Dekan so nachgiebig stimmte. Nicht Reue war es oder Mitgefühl; einzig und allein die Furcht vor einem möglichen Skandal.

»Ich bin unfähig, den Seelsorgedienst in Keßten zu versehen,« sagte er nach einer Stille. »Indessen muß er besorgt werden. Verschaffen Sie mir einen Hilfspriester, der, solang ich noch dort bin, den Dienst für mich verrichtet.«

»Gern,« versetzte der Dekan hastig. »Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen den Pater Benediktus zur Verfügung.«

»Den mag ich nicht.«

»Oder Ihren Freund, ... wir werden uns auch ohne ihn behelfen. Lang dauert es keinesfalls ... Ich werde darauf dringen, daß Sie schleunigst versetzt werden.«

Harteck nickte bloß schweigend mit dem Kopfe. Seine Züge verrieten große Erschöpfung, er atmete unruhig. Plötzlich faßte er sich an der Brust und sein Gesicht überflog ein Ausdruck schmerzhafter Ungeduld.

»Der Husten kommt schon wieder,« sagte er verzagten Tones und blickte wie in Angst um sich. »Wenn ich mich nur vor dem erretten könnte! Es tut so weh ...«

Joachim eilte rasch zu ihm hin und stützte sein Haupt mit beiden Händen. Während sich der Brust des Kranken ein lauter, quälender Husten entrang, hielt sich Georg krampfhaft an Joachims Rock fest und auf seine Stirn trat kalter Schweiß.

Der Dekan wurde blutrot im Gesichte. Er glaubte nicht anders, als daß der Priester ersticken müßte. Erleichtert atmete er auf, als der Anfall endlich vorüber ging und er den Kranken mit erloschener Stimme sagen hörte: »Gib mir Wasser, Juchei.«

»Warten Sie! Ich will es ihm bringen!« rief der Dekan. »Bleiben Sie bei ihm.«

Und eilfertig goß er ein Glas voll und setzte es an die Lippen des Priesters, während Joachim mit einem Tuch leise die Schweißtropfen von Georgs wachsbleicher Stirn wischte.

»Danke,« sagte Harteck kurz zum Dekan und trank. Der Dekan betrachtete die abgemagerten, zitternden Hände des Kranken und tiefe Wehmut beschlich seine Seele. Erst dreißigjährig und vielleicht nur noch einen Schritt vom Grabe entfernt! Das war doch namenlos traurig ...

»Weiß Ihre Familie um Ihre Erkrankung?« fragte er.

»Nein.«

»Aber das ist nicht recht von Ihnen ... Sie sollten Ihre Mutter zu sich berufen, um sich von ihr pflegen zu lassen.«

»Ich brauche niemanden, wenn ich Joachim habe,« antwortete Harteck mit unsäglicher Zärtlichkeit und führte die Hand des Freundes an die Lippen. Juchei kämpfte augenscheinlich gegen Tränen.

»Unter meiner Pflege wirst Du gewiß wieder gesund werden,« sagte er mit dem Versuch, seiner Stimme einige Festigkeit zu verleihen, was ihm jedoch schlecht gelang.

»Dazu ist es wohl zu spät. Aber vielleicht, daß in einem milderen Klima, ... ich bin noch jung, ... nur noch ein paar Jahre, ... nur nicht schon jetzt! Jetzt ist es noch zu früh. Nicht daß ich so sehr an diesem elenden Dasein hinge, ... nicht meinetwegen kämpfe ich so ängstlich um das Leben, ... es ist ja doch verspielt ... Dennoch flehe ich zu Gott, mir noch einige Jahre zu schenken und mich erst dann abzuberufen, wenn – jemand mich vergessen hat ...«

Er stand rasch auf und ging mit großen Schritten in Joachims Schlafstube.

»Morgen reise ich nach Salzburg,« sprach der Dekan erschüttert. »Und Sie, ... was gedenken Sie mit ihm anzufangen?«

»Ich werde morgen mit ihm nach Keßten fahren, wenn sein Zustand es erlaubt. Es ist doch besser für ihn, wenn er wieder zu Hause ist.«

»Freilich, freilich,« sprach der Dekan. Er würde viel darum gegeben haben, wenn er den unerwünschten Gast nach Keßten hätte zurückversetzen können; seine Nähe war ihm unheimlich. Eilig sagte er zu Perkow gute Nacht und entfernte sich so schnell er konnte. Joachim stand lang in düstere Gedanken verloren da. Erst als er eine Magd eintreten sah – nicht die hübsche Uschei, die hatte mittlerweile geheiratet, sondern eine Fremde –, schreckte er aus seinem Sinnen empor und folgte dem Freund.

Georg lag auf dem Bette, das Gesicht in die Kissen vergraben.

»Der gewünschte Glühwein steht auf dem Tisch, Georg,« sagte Juchei.

»Ach ja! Den hatte ich vergessen. Verzeih, daß ich Dich umsonst bemüht habe, ... ich darf keinen Wein trinken und das war mir entfallen. Aber Eis soll ich nehmen, wenn ich fühle, daß das Blut kommt.«

»Das – Blut?« wiederholte der andere mit starrem Blick. »Hustest Du denn Blut?«

»Ja, manchmal,« antwortete Harteck gleichgültig. »Im Anfang hat es mich erschreckt, doch jetzt habe ich mich bereits daran gewöhnt. Es verschafft mir sogar eine Art von Erleichterung.«

»Ich werde Eis holen lassen,« sagte Joachim leichenblaß und starrte den Freund noch immer an. Georg versuchte zu lächeln, aber der Versuch mißlang. Seine Mundwinkel bebten nervös, als ob er gegen Tränen kämpfte, – dann fiel er auf die Kissen zurück und: »Paula! Paula! Paula!« kam es mit wildem, sehnsuchtkrankem Schrei von seinen Lippen.

»Georg!« rief Joachim und stürzte zu ihm hin. »Du tötest Dich, Georg, ...« er faßte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn, ... der arme Junge wußte in seiner Hilflosigkeit nicht, was er tat, ... »komm zu Dir!«

»Mein süßes, treues, armes Mädchen!« rief Harteck mit schluchzender Stimme. »Wenn sie wüßte, daß ich ihr so nahe bin! Ach! Wie es mich gepackt hat, als ich an ihrem Hause vorüberfuhr! Alles lebte in mir auf, ... all unser kurzes, jammervolles Liebesglück ... Glück! Daß Gott erbarm!«

»Willst Du sie sehen? Soll ich sie holen?« fragte Joachim, der sich nicht mehr zu raten wußte.

»Nein! O nein! Gleichgültige sogar erschrecken bei meinem Anblick, ... wie dann erst sie, die mich so zärtlich liebt! ... O Joachim! Wie lebt sie? Siehst Du sie manchmal? Spricht sie von mir?«

»Wenn wir zusammentrafen, sprachen wir bloß von Dir. Du hast recht, ... sie ist Dir treu ergeben.«

Harteck seufzte und blieb lange still.

»Brauchst Du außer Eis noch etwas?« fragte Joachim endlich.

Georg verneinte die Frage mit einer Kopfbewegung.

»Dann will ich um Eis schicken,« sagte sein Freund. »Nur vorsichtshalber ... Hoffen wir, daß wir es in der Nacht nicht benötigen. Und glaubst Du, Georg, Lieber, daß Du morgen imstande sein wirst, nach Keßten zurückzukehren?«

»Wenn Du mit mir kommst, ... ja. Nur laß mich nicht allein.«

»Natürlich begleite ich Dich, ... der Dekan hat es erlaubt. Bist Du schläfrig?«

»Ja ...«

»Dann erlaube, daß ich Dir die Kleider ablegen helfe.«

»Du hast das schon einmal getan,« sagte Harteck, während Joachim ihm die Kleider vom Leibe zog. »Weißt Du es noch? In der Nacht war es, die meinem Scheiden von hier voranging ... Du mußt viel Geduld mit mir haben.«

»Du Narr!« sagte Juchei mit erzwungener Heiterkeit. »Hast Du die Zeit vergessen, wo ich krank war und Du mich pflegtest? Jetzt ist die Reihe an mir, ... ich vergelte nur gleiches mit gleichem.«

»Gute Nacht,« sagte Harteck und drückte seine Hand. Joachim machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und schlich dann auf den Fußspitzen hinaus, um Auftrag zu geben, daß Eis geholt werden möchte.

Siebzehntes Kapitel

Der Dekan fühlte sich von einer schweren Last befreit, als er bei seiner Rückkunft von Salzburg vernahm, daß die beiden Priester St. Jakob schon verlassen hätten. Er schrieb unverzüglich an Harteck, daß dessen Wunsch nach Versetzung entsprochen worden wäre, und bezeichnete ihm den Ort, den man zu seinem künftigen Aufenthalt bestimmt hatte. Er könne, teilte er dem Priester ferner mit, die Reise in vierzehn Tagen schon antreten; der Ort wäre seines südlich milden Klimas wegen bekannt und berühmt und er, der Dekan, hoffe zuversichtlich, daß Harteck dort genesen würde. Schließlich ersuchte er ihn noch, ihm dann und wann über sein Befinden Nachricht zu geben und sendete ihm herzliche Grüße und Wünsche für sein Wohlergehen. Die Antwort auf diesen Brief langte umgehend ein. Joachim hatte sie geschrieben. Im Namen des Freundes dankte er dem Dekan für dessen erfolgreiche Bemühungen, doch müsse er ihm zu seinem großen Schmerze mitteilen, daß Hartecks Zustand sich derartig verschlimmert hätte, daß an eine Abreise vorläufig nicht gedacht werden könne. Sobald eine Wendung zum Besseren eingetreten sein würde, wolle er den Dekan davon in Kenntnis setzen. – Aber die Tage verstrichen und die Nachricht von der »Wendung zum Besseren« traf nicht ein. Der Dekan entschloß sich endlich, noch einmal zu schreiben und anzufragen, was es denn gebe, ob die Abreise nicht bald stattfinden werde? Der Brief blieb unbeantwortet. »In Gottes Namen!« dachte der Dekan. »Ich habe getan, was in meiner Macht lag, ... alles andere geht mich nichts an.« Trotzdem vermochte er eine gewisse nervöse Unruhe nicht abzuschütteln. »Ich würde viel darum geben, wenn wir diesen Mann hier gelassen hätten,« sagte er einmal zu dem jungen Pater. »Er verfolgt mich Tag und Nacht ... Wenn er nur von dem verwünschten Keßten fortkommen könnte!«

Der Mönch nickte stumm.

»Weiß man in St. Jakob, daß er so krank ist?« fragte der Dekan.

»Ja,« sprach der Mönch, das Gesicht abwendend. »Unsere Leute haben es erzählt ...«

Er dachte dabei an eine, der er heute auf der Straße begegnet war. Warum konnte er dieses Bild nicht loswerden? Ein Jahr war es her, ... damals traf er zwei Menschen ins Herz, – nicht aus Böswilligkeit, sondern aus schlecht verstandenem Eifer. Warum ließ ihm das jetzt keine Ruhe? Wie sie an ihm vorüberging, gleich einer Nachtwandlerin, die großen Augen starr ins Leere geheftet, im abgemagerten Antlitz namenlose Pein ... O! wie dies Bild ihn verfolgte! Er hatte sie gegrüßt, sie aber war an ihm vorbeigeglitten mit scheuem, hastigem Gang, ohne ihn, ohne irgend etwas zu sehen ... Wie quälte ihn in der Erinnerung das harte Wort, das er damals über sie gesprochen, in jener unglückseligen Neujahrsnacht: »Jetzt ist sie nicht mehr unbescholten ...« Ein hartes, hartes Wort, das ihm jetzt auf der Seele brannte. »Wer ohne Sünde, der werfe den ersten Stein auf sie!« Er aber hatte den ersten Stein geworfen, rasch, unbesonnen und mitleidlos ... O! hätte er es nicht getan!


Das Leben der beiden Freunde ging einstweilen seinen traurigen Gang. Wenn Joachim durch das Dorf schritt, begrüßte alles ihn ehrfurchtsvoll, denn jedermann wußte, welches schwere Kreuz auf den Schultern des jungen Priesters lastete und wie mutig und unverdrossen er sich den Pflichten der Seelsorge und der Pflege des kranken Amtsbruders widmete. Im Pfarrhof ging es sehr still zu. Fremde wurden nicht eingelassen, um die Ruhe des Kranken nicht zu stören; Joachim und die Wirtschafterin wagten kaum aufzutreten und sprachen mit gedämpfter Stimme; und Cäsar, der arme Cäsar mußte manchmal aus dem Hause entfernt werden, weil er oft ein ohrenzerreißendes Geheul anstimmte ... »Das bedeutet den Tod!« sagten die Leute, wenn sie den Hund heulen hörten, schlugen das Kreuz und beteten ein Vaterunser. Der Arzt, in einem nahegelegenen Dorfe ansässig, fand sich täglich im Pfarrhof ein; wenn Joachim ihn fragte, ob es denn noch nicht möglich wäre, den Freund von dem unglücklichen Ort fortzubringen, zuckte der Arzt die Achseln und antwortete: »Noch nicht, ... vielleicht später.«

»Aber Sie sollten sich schonen,« sagte er eines Tages zu dem jungen Priester. »Diese anstrengende Krankenpflege reibt Sie auf. Nehmen Sie doch eine Wärterin ins Haus.«

»O nein,« entgegnete Juchei. »Fürchten Sie nichts für mich. Ich werde aushalten bis zum letzten Augenblick. Meinem teuern Georg darf niemand als ich nahe kommen.«

»Sagen Sie mir aufrichtig,« fragte er den Arzt ein anderes Mal, »ist wirklich keine Hoffnung mehr, ihn zu retten?«

»Keine. Gegen die galoppierende Lungensucht, wenn sie mit solcher Heftigkeit auftritt, ist kein Kraut gewachsen.«

»Und können Sie auch seine Schmerzen nicht lindern? Es zerreißt mir das Herz, wenn ich ihn husten höre, ... ich meine immer, daß der Husten seine Brust zersprengen muß, ... er läßt ihn weder schlafen noch liegen. Er muß immer aufrecht sitzen im Bett und ringt mit dem Ersticken ... Wenn dieses Elend nicht bald ein Ende nimmt, werde ich noch den Verstand verlieren.«

»Fassen Sie Mut, ... es kann nicht mehr lang dauern. Und seine Schmerzen will ich nach besten Kräften zu mildern suchen. Freilich bedeuten die starken Mittel, die man den Kranken in solchen Fällen verabfolgt, eine Verkürzung des Lebens, ... aber sie erleichtern das Sterben.«

»Tun Sie, was erlaubt ist,« sagte Juchei und preßte die Hand an die Stirn, »wenn es nur sein Leiden verringert ...«

»Ist er sich selbst klar über seinen Zustand?« fragte der Arzt.

»Ich weiß es nicht, ... er spricht so wenig ...«

»Morgen komme ich wieder,« sagte der Arzt und drückte dem anderen teilnahmvoll die Hand. »Die Medikamente will ich Ihnen sofort herüberschicken ... Nur Mut, Herr Kooperator, und Ergebung. Wir alle müssen sterben, – früher oder später.«

Juchei kehrte in das Haus zurück. »Es erleichtert das Sterben ...« Also wirklich, wirklich ... Er mußte sich am Stiegengeländer festhalten, um nicht umzusinken. Selbst ihm, dem Priester, erschien in diesem Augenblick die Verheißung des ewigen Lebens ein armseliger Trost.

Langsamen Schrittes verfügte er sich zu dem Freunde. Von Kissen unterstützt und in wollene Decken gehüllt, saß dieser nahe am Ofen und starrte in das Feuer. Zu seinen Füßen kauerte, leise zitternd, sein Hund und schaute mit jenem, dem Tier eigenen tieftraurigen Blick den kranken Gebieter an. Das Sprechen verursachte dem unglücklichen Manne große Pein und er hatte sich angewöhnt, sich mit seinem Wärter fast nur noch durch Zeichen zu verständigen. Er wagte kaum sich zu rühren, aus Angst, den ewig grollenden Husten wachzurufen; wenn dieser nicht länger zu unterdrücken war, sagte er gewöhnlich: »Ach Juchei, der Husten!« Und er sprach diese Worte in einem so klagenden und furchtsamen Ton, daß es Joachim jedesmal kalt überlief. Sie litten viel, diese beiden. Es würde schwer zu entscheiden gewesen sein, wer mehr zu ertragen hatte: ob derjenige, der die Schmerzen empfand, oder der andere, der den Freund leiden sah, ohne ihm helfen zu können.

»Ein Brief für Dich ist da,« sagte Juchei, als er in das Krankenzimmer trat. »Soll ich ihn öffnen?«

Harteck nickte mit dem Kopfe.

»Er ist von Deiner Schwester,« fuhr Juchei, das Schreiben mit den Augen überfliegend, fort. »Sie fragt an, ob sie oder die Mutter zu Dir kommen sollen.«

»Beide mögen bleiben, wo sie sind,« versetzte Harteck.

»Sie sind sehr besorgt Deinetwegen.«

Der Kranke lächelte bitter und gleichgültig zugleich. »Schön von ihnen,« murmelte er.

»Ich werde ihnen also antworten, daß sie in Kufstein bleiben sollen und ich ihnen nach wie vor über Dein Befinden Bericht erstatten werde ... Ist es Dir so recht?«

Georg nickte abermals.

»Wie fühlst Du Dich jetzt? Besser als in der Nacht?«

»Viel besser. Ich werde hoffentlich bald reisen können.«

»Ohne Zweifel,« sagte Juchei mit mühsamer Fassung.

»Du sagst das so traurig ... Meinst Du, daß diese Stunde niemals schlagen wird?«

»Warum sollte sie nicht? Wenn die Besserung anhält ...«

Harteck sprach eine Weile nichts.

»Es ist doch seltsam,« sagte er dann plötzlich. »Ich habe durch meinen Stand mein Leben verspielt und sterbe auch an meinem Stande ... Das ist doch ein Fingerzeig Gottes, daß ich nicht Priester hätte werden sollen ... Aber meine Mutter wollte klüger sein als Gott ... Sie mag nun sehen, was sie aus ihrem Sohne gemacht hat.«

Juchei trat zu ihm hin.

»Hänge dem nicht so nach,« sagte er leise.

»Gott hat es gut mit mir gemeint,« fuhr Harteck mit bewegter Stimme fort. »Ich hätte ein glücklicher Mensch werden können, ... ich bin ehrlich und fleißig und besitze die Gabe Liebe zu erwecken, ... ich hätte eine mir zusagende Beschäftigung erwählen, mir einen Herd gründen können, ... aber meine Mutter, meine eigene Mutter! Sie weiß nicht, was sie an mir getan hat und darum will ich ihr vergeben, ... obwohl ...« Er hielt inne und seufzte schwer. »Am Rande des Grabes ist es wohl erlaubt, die Maske abzuwerfen ... Den ärmsten Knecht habe ich oft um seine harte Arbeit beneidet ... Wenn er sich den ganzen Tag redlich abgemüht hat, sieht er am Abend das Ergebnis seiner Plage, ... er weiß, weshalb er arbeitet, ... aber ich ... Alles, was ich tat, war Grimasse, ... mein Herz wußte nichts davon. Oft erfaßten mich Ekel und Abscheu, wenn ich von weitem die bloße Turmspitze einer Kirche sah ...«

»Georg,« fiel Joachim ihm ins Wort. »Was hat der priesterliche Stand Dir getan, daß Du ihn so sehr herabsetzest?«

»Nichts ... Verstehe mich nicht falsch, lieber Juchei, ... ich achte den Stand, aber ich, ich tauge nicht zum Geistlichen. Gott weiß es, ... ich wäre ein guter Christ und, noch mehr, ein eifriger Katholik geblieben, ... aber der Welt hätten sie mich lassen sollen; mein ganzes Herz drängte zurück nach der Welt und ihren Freuden, ... nach dem Familienleben, nach Gatten- und Vaterglück, das dem katholischen Priester so grausam verwehrt ist ...«

»Da rüttelst Du an einer der Grundsäulen unserer Kirche,« sagte Joachim. »Das Gesetz, das der große Gregor angestrebt und der noch größere Innocenz durchgesetzt hat, ist ja eine der Hauptstützen des katholischen Klerus. Vielen mag es ungeheuerlich erscheinen, viele mögen darunter leiden, ... aber daran darf die Kirche sich nicht kehren. Familienidyllen kann sie nicht brauchen. Der Mann, der für Frau und Kinder zu sorgen hat, wird immer in erster Linie an die Seinen denken, und die Kirche duldet keinen Rivalen neben sich. Einsam muß der Priester im Leben dastehen, wenn er der Kirche mit allen seinen Kräften dienen will, – die Kirche muß sein erstes, sein letztes sein, und darum darf der Zölibat erst mit der Kirche selber fallen, was Gott verhüten wird.«

»Du hast ja recht, tausendmal recht, Juchei, Du sprichst als katholischer Priester, ... aber ein solcher bin ich niemals gewesen, trotzdem ich die Tonsur trage. Ich verlange nicht, daß meiner nichtigen Persönlichkeit halber der Zölibat hätte aufgehoben werden sollen, ... ich wiederhole bloß, daß ich nicht zu Euch gehörte. Das war mein Unglück. Der Stand hat nicht mich, – ich habe den Stand belogen, indem ich mich einschlich ins Priestertum, ohne daß mein Herz mir dazu riet. Ich bin auch stets ein Eindringling geblieben, ... habe unsicher umhergetappt, ohne das Richtige zu finden, ... habe weder zu tadeln noch eine Meinung zu fassen gewagt, ... und wenn ich unter eine Schar von Schurken geraten wäre, ich hätte geschwiegen zu allem und jedem: der Betrüger war ja ich, ... ich hatte kein Recht mich zu beschweren; dies Recht steht nur dem Betrogenen zu. Teilweise aus diesem Grund habe ich auch ausgeharrt: ich durfte nicht austreten und einen Skandal wachrufen, der dem ganzen Stand geschadet hätte, ... ich hatte mich genug versündigt an dem Kleide, das ich trug, ohne ein Recht darauf zu haben. Das habe ich auch stets wie eine Kette mit mir herumgeschleppt, ... welche Mühe ich mir auch gab, meine Pflichten zu erfüllen, ... ich strauchelte immer wieder über die Kette und nannte mich selbst einen Heuchler, ... und alle haben stets gemerkt, wie es um mich stand. Und darum gehe ich auch zugrunde. Ein vortrefflicher Priester bin ich gewesen,« schloß er mit einem halb bitteren, halb wehmütigen Lächeln. »Anstatt vor dem Altar Kniebeugungen zu machen, wäre ich immer lieber zu den Füßen eines schönen Weibes gelegen ... Doch jetzt ist alles vorüber, – so oder so. Nun heißt es hinuntersteigen in das kalte Grab, – und damit ist die Komödie zu Ende.«

Seit manchem Tag schon hatte er nicht so viel auf einmal gesprochen. Joachim, der ihn verloren wußte, hatte es aufgegeben, ihn mit jenen allen Kranken lästigen Einwürfen wie: »Sprich nicht so viel! Tu das nicht, schone Dich!« zu quälen, mit jenen Ermahnungen, die den armen Kranken, der sein Leiden vielleicht augenblicklich halb und halb vergaß, rücksichtslos daran erinnern. Er stand neben dem Freunde und dieser streichelte sanft die Hand des jungen Geistlichen.

»Mein braver, wackerer Priester!« sagte Georg leise; seine Stimme klang überhaupt wie zerrissen. »Wirst Du es mir nicht nachtragen, Juchei, daß Du mit mir so wenig Ehre eingelegt hast?«

»Wie kannst Du so sprechen, Lieber! Beklagen muß ich es um Deinetwegen, ... mir warst Du ein treuer Freund und mehr verlange ich nicht.«

»Ich bin stolz auf Dich, ... Du wirst es weit bringen, wirst Deinem Stande Ehre machen, ... nicht so wie ich ...« Er brach mit einem Seufzer ab. Nach einer Weile fragte er: »Hast Du nichts vergessen von dem, was zu besorgen ich Dir aufgetragen habe, falls ich ...«

Juchei legte die Hand auf seinen Mund.

»Still, Georg, still. Nichts davon, ich bitte Dich.«

»Aber ...«

»Ich habe nichts vergessen.«

»Du warst so gut gegen mich, ... ich danke Dir tausendmal für Deine Liebe und Treue. Gib mir einen Kuß, Joachim.«

Der junge Geistliche sank vor dem Kranken auf die Kniee. Ihre Lippen berührten sich in einem langen, zitternden Kusse.

»Vielleicht gibt es doch ein Wiedersehen,« sprach Georg und ließ den Kopf auf die Schulter des Freundes fallen. – Vielleicht! Ein trauriges Wort im Munde eines Priesters.

»O Georg!« rief Joachim vorwurfsvoll.

»Verzeih mir ... Und eines noch: Versäume nicht, mir auch noch die letzte Ölung zu erteilen. Was würde meine Gemeinde sagen, wenn ihr Seelsorger ohne die letzte Ölung dahinginge ... Ich will sterben, wie es einem Katholiken geziemt ...«

»Ja, ja. Das hat noch Zeit ...«

»Wer weiß, wie bald schon ... Doch jetzt will ich zu schlafen versuchen.« Seine Gedanken schienen zu wandern ... »Was wird sie sagen, wenn sie von meinem Tod erfährt? ... Juchei, vielleicht können wir morgen reisen, ... bestelle einen Wagen. Ist alles zur Reise vorbereitet?«

»Alles.«

»Dann reisen wir morgen,« sagte Georg und sein Kopf sank auf das Kissen, das ihn stützte. »Morgen, Juchei.«

»Amen,« dachte dieser. –

Am Abend entstand im Pfarrhof ein sonderbarer Lärm. Türen flogen auf und zu, eilende Schritte ertönten, und leichenblassen Gesichtes stürzte die Wirtschafterin auf die Straße. Die Inwohner der nächsten Häuser traten vor die Tore, alle scharten sich um die Frau, fragten, forschten ...

»Schnell! Lauft's einer um den Doktor!« rief diese, »und Du, Meßner, läut' die Zügenglock' ... Der Herr Vikar liegt im Sterben.«

Die Leute, Männer, Frauen und Kinder waren es, fielen auf die Kniee und fingen laut zu beten an. Einige stürzten fort. Bald darauf erscholl leises Glockengeläute; im ganzen Dorfe ward es lebendig. Alle strömten dem Pfarrhof zu; dort knieten sie nieder und murmelten die Gebete für Sterbende. Dazwischen fuhren langgezogene, jämmerliche Töne ... Cäsar war es, der mit gesträubtem Fell und eingeklemmter Rute, die Schnauze zum Himmel erhoben, dies schauerliche Geheul anstimmte, als ob auch das Tier, die Todesqual des Herrn mitempfindend, Gott anflehen wollte, den Sterbenden zu erlösen ... Die Weiber und Kinder, selbst die Männer schauderte es.

Hinter den verhüllten Fenstern erglänzte Kerzenschein. »Jetzt gibt ihm sein Freund die Wegzehrung!« flüsterte eine alte Frau. »Er hat schon heut' nachmittag das hochwürdigste Gut aus der Kirche geholt, ... hat wohl gewußt, daß er's bald brauchen wird ...« Sie trocknete sich die Augen mit der Schürze ab und betete murmelnd weiter.

Nach einer Stunde kam der Arzt angefahren. Wie ein rettender Engel wurde er begrüßt. Er aber wehrte die Leute ab und trat eilenden Schrittes in das Haus. Draußen verharrte die Gemeinde im Gebet und in todesbanger Erwartung.

»Der arme Herr stirbt schwer!« sagte ein alter Mann. »Herr Jesus! Nimm ihn zu Dir!«

Nach Mitternacht entstand eine Bewegung. Niemand hatte sich entfernt, nur die Kinder waren nach Hause geschickt worden. Die Leute sahen den Arzt, gefolgt von der schluchzenden Wirtschafterin, aus dem Hause kommen und hielten im Beten inne.

»Geht nach Hause, Ihr Leute,« sagte der Arzt und bestieg seinen Wagen. »Der Herr Vikar hat es überstanden ... Vorwärts, Hansei.«

Der Wagen rasselte mit Windeseile davon. Die Leute erhoben sich von den Knieen und sahen zum Pfarrhof empor.

»Wer wird Nachtwach' halten bei ihm? Wo ist die Leichenfrau?« fragten einige.

»Geht's alle miteinander z'Haus,« sagte die Wirtschafterin. »Der Herr Kopp'ratter hat mir g'sagt, daß er niemanden haben will, ... er wird selber bei sei'm Freund bleiben.«

»Heilige Mutter Anna! Haben die zwoa sich gern g'habt!« bemerkte eine alte Bäuerin.

»Und so schnell hat's kimma müssen! So oan braver Herr!«

»Ich hab's gleich g'wußt,« sagte die Wirtschafterin, sich zum Gehen wendend. »Bei uns halt's koaner lang aus. Und heut' noch hat er davon g'sprochen, daß er morgen furtfahren will, ... der arme Herr!«

Und doch hatte er recht behalten. Er hatte eine Reise angetreten, wenn auch nach einem andern Ort, als er im Sinne gehabt. Er war nach einem Ort gegangen, wo es für ihn wohl besser sein war als überall sonst.


Am Nachmittag vor dem Tage des Begräbnisses, das, wie es auf dem Lande Sitte ist, frühmorgens stattfinden sollte, saß Joachim in der Wohnstube am Tische und ordnete die Briefe und Papiere, die der Verstorbene hinterlassen hatte. Im Nebenzimmer, wo die Leiche aufgebahrt lag, herrschte beständiges Geräusch; Menschen kamen und gingen, flüsterten und beteten, – Joachim warf mehr als einmal einen unruhigen Blick auf die geschlossene Tür. Ihm war, als ob alle diese neugierigen und teilnahmvollen Gaffer den Schlaf des Freundes stören müßten, und er würde es als eine Wohltat empfunden haben, wenn er den Brauch des Leichenanschauens für dieses Mal wenigstens hätte abschaffen können. Am ersten Tag hatte er die Leute ferngehalten. Er selbst war es gewesen, der dem Freunde die letzten Liebesdienste erwiesen, ihn angekleidet und in den Sarg gelegt, ihm ein Kruzifix in die Hände gegeben und die Kerzen um den Sarg herum angezündet hatte ... Entweihung würde es ihm geschienen haben, wenn andere Hände als die seinen den toten Freund berührt hätten. Das Sterbezimmer hatte außer ihm kein Mensch betreten dürfen. Er wollte den Freund ganz allein für sich haben, allein und ungesehen von ihm Abschied nehmen, und die Wirtschafterin hatte strengen Auftrag gehabt, jeden Zudringlichen abzuweisen. Doch heute war das nicht mehr möglich. Er mußte sich dem allgemeinen Brauche fügen, den Freund den Blicken aller, die da kamen, aussetzen lassen und das fiel ihm unsäglich schwer. Auch Teilnehmer an der morgigen Bestattung hatten sich schon eingefunden: Geistliche aus der Nachbarschaft und andere Leute, die Harteck gekannt hatten; ein Mönch war gekommen, der bis zum Eintreffen eines Nachfolgers die Seelsorge bestellen sollte. Alle diese gleichgültigen Menschen empfangen, mit ihnen sprechen, ihre müßigen Fragen: wie der Tote gestorben, ob er viel gelitten, wie lang er krank gewesen, – das alles anhören und beantworten müssen, – das war viel verlangt von einem tödlich verwundeten Herzen, wie es das seine war. Er hatte außerdem allerhand zu tun: Anstalten für das Begräbnis zu treffen, die nötigen Einladungen hierzu ergehen zu lassen, den Dekan und die Familie des Dahingeschiedenen von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen, nach Salzburg zu schreiben, daß ein Nachfolger bestimmt werden möchte, die Partezettel drucken zu lassen und zu versenden, – alle diese unerläßlichen Dinge, die in den Stunden des ersten Schmerzes getan werden müssen und dem Trauernden kaum Zeit gönnen, sich auszuweinen: das alles wird besorgt im frischesten Schmerze, in der lebhaften Erinnerung an Krankheit, Todeskampf und die letzten Augenblicke des geliebten Dahingeschiedenen ... »Und dennoch,« hatte Joachim sich dabei sagen müssen, »ist auch diese traurige Notwendigkeit von Nutzen. Betäubt sie doch das erste Weh, lenkt die Gedanken gewaltsam ab von dem einen ... Wenn er in der Erde ruhen wird, können die Tränen ungehindert fließen. Die Zeit zur schrankenlosen Trauer wird früh genug kommen.«

Gewissenhaft hatte Joachim alle diese Pflichten erfüllt; nun schickte er sich an, den letzten Wünschen des Freundes gerecht zu werden. Georg hatte ihn gebeten, alle Briefe, die er vorfinden würde, zu verbrennen, und Juchei warf sie, ohne ihren Inhalt zu prüfen, in den Ofen. Es waren Briefe von der Familie und Bekannten des Verstorbenen, – jetzt wert- und inhaltlos, da derjenige tot, an den sie gerichtet gewesen. Als Joachim auf mehrere Photographien stieß, zögerte er einige Augenblicke ... Sollte er auch diese vernichten? Es waren die Photographien von Georgs Anverwandten; ferner eine Photographie Jucheis, die dieser dem Freunde gegeben, als sie voneinander schieden, und endlich die Photographie der armen Kathei. »Er hat sie lieb gehabt und mein Bild hielt er in Händen,« dachte Juchei. »Mögen diese beiden denn verschont bleiben.« Er verwahrte sie an der Brust, die drei andern aber schleuderte er mit einer fast zornigen Gebärde in das Feuer. »Brennt zu!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Ihr seid des Aufbewahrtwerdens nicht wert.« Er blätterte weiter in den Papieren und fand eine Anzahl unvollendeter Briefe vor; sie waren von Georgs Hand geschrieben, ohne Datum. Für wen waren sie bestimmt gewesen? Ohne Mühe erriet er's. Sie enthielten größtenteils nur einige Worte und ihr Inhalt war der gleiche, wenn auch die Worte verschieden lauteten. Aus jedem klang der sehnsuchtsvolle Ruf: »Komm! Komm zu mir!« ... Was mochte in dem Herzen des Mannes vorgegangen sein, als er die Worte schrieb? Die Briefe waren nicht vollendet, nicht abgeschickt worden, ... sie lagen da, das beredte Zeugnis der Schlacht, die Pflicht und Leidenschaft in der Brust des nun Stillen geschlagen hatten. Joachim blickte starr auf sie herab. Wenn er sie dem Mädchen brächte? ... »Würdest Du damit einverstanden sein, Georg? Soll ich diese kostbaren letzten Erinnerungen zerstören oder sie derjenigen geben, der sie zugedacht waren? Sprich nur ein Wort, gib mir ein Zeichen, auf daß ich das Rechte finde!« ... In schwerem Kampfe stand Juchei da; dann aber besann er sich. Der Freund hatte ihm aufgetragen, alle Briefe zu verbrennen; er hatte wohl auch diese Zeugen seiner Schwäche ins Grab mitnehmen wollen. »Sein Wille vor allem!« dachte Juchei. »Ihr aber will ich sagen – Oder nein. Ich werde ihr nichts davon sagen. Er hat darüber geschwiegen, folglich wollte er, daß sie nichts davon höre, ... und was für ein Trost wäre es auch für sie, zu wissen, daß er sich so sehr nach ihr gesehnt und sie doch nicht gerufen hat? Dieser traurige Herzenskampf soll ihr verborgen bleiben. Hat er mich doch in seinen letzten Lebensstunden mit aufgehobenen Händen beschworen, ihr niemals zu sagen, wie sehr er gelitten hat, ... er wollte sie schonen, ... fort mit euch!« Seine Hände zitterten, als er die Briefe in das Feuer steckte; in kauernder Stellung verblieb er vor dem Ofen und starrte in die Flammen, die die Papiere beleckten und verzehrten. Damit war diese Arbeit abgetan. Auf dem Tische lagen noch einige Schriften: Georgs Taufschein, seine Schulzeugnisse und endlich das Dekret, das seine Priesterernennung bestätigte. Diese Papiere band Juchei zusammen und legte sie in die Lade. Dann sank er auf einen Stuhl, stützte den Arm auf den Tisch, die Stirn auf die Hand und verharrte lange Zeit in dieser Stellung. Das Öffnen der Tür erweckte ihn aus seiner Versunkenheit, – er fuhr in die Höhe.

»Was gibt es?« fragte er und strich sich das Haar aus der Stirn. Er sah die Wirtschafterin im Zimmer stehen.

»Die Frau Schwester vom Herrn Vikar ist da,« sagte die Frau und brach in Tränen aus, wie es nun einmal ihre Gewohnheit war.

»So! Schön,« sagte Juchei mechanisch. »Sie soll nur hereinkommen.«

Sie trat nach wenigen Momenten ein, ganz in Schwarz gekleidet, ihren sauber frisierten, ebenfalls in Schwarz gekleideten Knaben an der Hand. Sie sah blaß, aber ruhig aus; ihre Augen zeigten nicht die Spur einer Träne. Wer hier der wahrhaft Trauernde – ob die Schwester oder der Freund –, darüber konnte wohl niemand im Zweifel sein. Joachim bot das jammervolle Bild aller jener, die einen teuren Menschen in seiner letzten Krankheit bis zum Ende gepflegt haben. Die letzten schrecklichen Wochen, Tage und Stunden spiegeln sich wider in den verhärmten Zügen, den verschwollenen Lidern, den geröteten Augen, ... sogar in der vernachlässigten Kleidung. Des jungen Priesters Gesicht und Haltung erzählten von durchwachten Nächten und hinabgewürgten Tränen, und man brauchte ihn bloß anzusehen, um zu erraten, was alles er durchgemacht hatte in der letzten Zeit. Der Schwester sah man nichts an.

Sie begrüßte ihn mit Anstand und reichte ihm die fein gantierte Hand. Die junge Frau war sorgfältig gekleidet und frisiert. Ihr gewöhnlich spöttisch-lächelndes Gesicht hatte einen der Gelegenheit angemessenen ernsten Ausdruck angenommen. Sie hatte ihrem Söhnlein zugeflüstert, den Hut abzunehmen und nun befahl sie dem Knaben, zu grüßen. Der Kleine gehorchte. Sein hübsches, altkluges Gesicht verriet Neugier, er blickte in der Stube umher und fragte leise: »Mutter, wo ist der Onkel?«

»Sei still,« sagte Anna. »Die Mutter hat mich nicht begleitet,« sagte sie zu Perkow gewendet. »Sie ist kränklich und schwerfällig und ich drang darauf, daß sie allen diesen Aufregungen fernbleibe ... Sie ist ohnehin ganz desperat und wird ihren Sohn nicht lang überleben, fürchte ich, ... ihr Geist ist wie gestört ... Wer hätte das auch ahnen können! Als der Bruder uns im Frühjahr besuchte, war er noch ganz gesund.«

Sie machte ein Pause. Die sorgfältig gekleidete junge Dame, die so ruhig und zusammenhängend sprach; der neugierige, wohlerzogene Knabe, – sie waren Blut von Georgs Blut. Juchei konnte es kaum glauben.

Anna, der sein Schweigen unbequem war und die in seinen Mienen las, daß sie keinen günstigen Eindruck auf ihn machte, fuhr mit einiger Hast zu sprechen fort: »Ich wäre früher gekommen, wenn Sie mir nicht geschrieben hätten, daß der Bruder mein Fernbleiben wünsche. Der arme Georg war immer ein wenig eigensinnig. Es tut mir wirklich leid, daß Sie alle die Plage allein gehabt haben.«

»Plage!« wiederholte Perkow mit so markiertem Hohn, daß Anna nicht umhin konnte zu fühlen, sie hätte abermals ein falsches Wort gewählt. Ein leises Rot färbte ihre Wangen.

»Wo liegt der Bruder?« fragte sie und zog ihr Taschentuch hervor.

»Nebenan,« antwortete Juchei und wies auf die Tür.

Anna führte das Taschentuch an den Mund und begab sich, also vorbereitet, in das Totenzimmer. Mit Verachtung blickte Perkow ihr nach ...

Beim Anblick des Toten fing Anna zu weinen an. Der Knabe, noch zu jung, um zu verstehen, was der Tod bedeute, starrte die Leiche und die umstehenden fremden Menschen mit halb erschrockenen Augen an. Dem Beispiel der Mutter folgend, hatte auch er sein kleines Taschentuch hervorgeholt und an die Lippen gebracht. Er bemühte sich auch redlich zu weinen wie sie, doch das wollte ihm nicht gelingen. Er flüsterte bloß: »Wie schlecht es hier riecht, Mutter!«

»Schweig,« herrschte diese ihn mit unterdrückter Stimme an, trat an den Sarg heran und blickte in das Gesicht des Toten. Ihn zu küssen, vermochte sie nicht. Nicht jener Scheu wegen, die Leichen einflößen, ... etwas anderes war es, das sie davor zurückhielt; etwas Geheimes, Uneingestandenes, das sie quälte, seit ihr die Kunde seines Todes zugekommen. Jetzt sprach es laut und lauter, und wie sehr sie sich auch bemühte, die lästige Stimme zum Schweigen zu bringen; wie eindringlich sie sich auch vorsagte, daß es nun doch zu spät wäre, daß Vorwürfe nichts mehr nützten, ... die Stimme redete fort und flüsterte ihr zu, daß sie nicht schwesterlich an dem Toten gehandelt, daß sie und die Mutter sein weiches Herz mißbraucht hätten, daß er glücklicher hätte werden können, wenn sie und die Mutter nicht eingegriffen hätten in sein Schicksal. Diese Selbstvorwürfe waren ihr unangenehm; sie verabscheute alles, was ihre heitere Ruhe störte. Ihre Tränen versiegten und kalten Blickes starrte sie in das Antlitz des Toten, auf den schwarzen Talar, in den Juchei ihn gekleidet, auf das Kreuz in seinen Händen, auf das schwarze Barett, das ihm zu Häupten lag ... Warum hatte er nachgegeben? Sie würde sich, der Mutter zuliebe, nicht geopfert haben ...

Perkow trat in das Zimmer und gebot den Leuten in gedämpftem Tone hinauszugehen. Sie grüßten schweigend und entfernten sich.

Der junge Geistliche näherte sich dem Sarge und sah den Toten an.

»Er ist arg verändert,« sagte Anna leise.

»Ja. So hart und fremd sieht er aus, wie mein Georg niemals gewesen ist.« Seine Stimme bebte, und mit sanfter Hand richtete er an den Kleidern des Toten, glättete das Kissen unter seinem Haupt und streichelte sein Haar. Der Blick des jungen Priesters hing dabei so liebevoll an dem starren Gesicht des Freundes, wie etwa eine Mutter ihr totes Kind betrachten würde. »Und doch,« fuhr er fort, »sieht man selbst jetzt noch, wie schön er war, ... das Profil wie rein und edel ... O Georg!« Er neigte sich auf ihn herab und legte die Stirn auf die kalten Hände.

Von tiefstem Unbehagen erfaßt stand Anna da. Ja, der hatte sich keinen Vorwurf zu machen; in dessen Brust erweckte der Anblick des Toten nur lichte, erhebende Erinnerungen; der durfte ihm nahen und ihn berühren sonder Scheu noch Selbstanklage. Er hatte ihn nie gekränkt, ihm nie weh getan, war ihm im Leben und im Sterben treu zur Seite gestanden ... Mit einem furchtsamen Blick streifte Anna die rührende Gruppe, nahm den Knaben bei der Hand und ging aus dem Zimmer.

Perkow folgte ihr nach einer Weile.

»Erzählen Sie mir von ihm,« sagte Anna, setzte sich und zog den Kleinen an ihre Seite.

Joachim machte eine ablehnende Bewegung.

»Jetzt nicht,« erwiderte er. »Ich kann wirklich nicht. Vielleicht später einmal, ... bis ich ruhiger geworden bin.«

»Wie Sie wollen. Lassen Sie uns von anderem sprechen. Was soll mit Georgs Sachen geschehen? Hat er sich diesbezüglich geäußert?«

»Ja. Ein Testament hat er zwar nicht gemacht: es wäre auch kaum der Mühe wert gewesen ... Seine Bücher und Möbel dachte er mir zu, ... als Erinnerung an ihn.«

Anna sah den Sprecher forschend und mißtrauisch zugleich an. Wenigstens kam es ihm so vor. Er schaute ihr mit durchbohrendem Blick in die kalten, hellen Augen.

»Glauben Sie mir etwa nicht?«

»Was fällt Ihnen ein? Wie sollte ich nicht, ... sobald Sie es sagen. Übrigens haben Sie sich diese bescheidene Erbschaft redlich verdient ... Hat er Geld hinterlassen?«

»Geld?« sprach Juchei mit bitterem Lachen nach. »Sie scheinen nicht zu wissen, daß seine Einnahme eine sehr karge war ... Das wenige, was er besaß, ist für die Herbeischaffung des notwendigsten Hausrates aufgegangen. Wir mußten sogar sein Klavier verkaufen, um die Kosten der Krankheit zu decken, ... und der Rest von diesem Verkaufe muß auf die Bestattung und den Grabstein verwendet werden. Was er sonst hinterläßt, wie seine Wäsche und Kleider und die Kücheneinrichtung, steht zu Ihrer Verfügung. Wie gräßlich ist es doch, von alledem sprechen zu müssen,« schloß er und kehrte sich angewidert von ihr ab.

»Wir sind ja schon fertig,« sagte Anna und stand auf. »Kann ich hier im Dorf Unterkunft für die Nacht finden?«

»Im Gasthof sind noch ein oder zwei Zimmer frei. Dort können Sie übernachten.«

»Und das Begräbnis ist ... um wieviel Uhr?«

»Um acht Uhr.«

»Ich will Sie denn nicht länger stören. Sie bedürfen der Ruhe.«

»Der Einsamkeit vor allem,« dachte Juchei.

»Bitte, bemühen Sie sich nicht,« sagte Anna. Er aber begleitete sie bis an die Tür und öffnete dieselbe. Anna verbeugte sich, der kleine Knabe grüßte höflich, und damit gingen sie.

Joachim schüttelte sich und seine Züge überflog ein Ausdruck, der halb Erstaunen, halb Widerwillen war. Daß ein solcher Bruder diese Schwester haben konnte! Aber er wollte nicht nachdenken über sie; die hohle Puppe war es nicht wert.

In der Ruhelosigkeit, die ihn seit Georgs Tode quälte, beschloß er, teils um irgend etwas zu tun, teils um mit Anna nichts weiter besprechen zu müssen, die Hinterlassenschaft des Freundes zu ordnen und zu verpacken. Die Haushälterin war ihm dabei behilflich; mit trübem Blick betrachtete er, als sie fertig waren, die Kisten und verpackten Möbel und die unwohnliche Stube. Wie kahl es hier aussah, wie traurig!

Die Wirtschafterin trat ein, sah den jungen Priester einsam und verlassen in der Mitte des Zimmers stehen und fragte ihn schüchtern, ob er nichts zu essen begehre.

Er schüttelte den Kopf. »Aber Wein können Sie mir bringen.«

»Ja, Hochwürden.«

»Wo ist der Hund?«

»Unten, ... vor dem Hause.«

»Lassen Sie ihn herauf zu mir, ... ich möchte ihn um mich haben.«

Das Tier fühlte wie er, und darum sehnte er sich nach seinem treuherzigen Anblick.


Am nächsten Morgen, eine Viertelstunde vor acht Uhr, waren die Wohnstube und das Totenzimmer von Leuten überfüllt. Alle hielten einen brennenden Wachsstock in der Hand, wie es bei Begräbnissen der Brauch ist in Tirol. Anna brachte ihr Tuch nicht von den Augen, und als das Zimmer, wo der Tote lag, am vollsten war, beugte sie sich auf die Leiche herab und küßte den Bruder auf die Wange. Juchei stand im Nebenzimmer, abseits von den übrigen, starrte vor sich hin und fuhr manchmal mit der Hand nach dem Herzen. Einer der fremden Geistlichen näherte sich ihm.

»Jetzt wird der Sarg geschlossen,« flüsterte er dem jungen Amtsbruder zu. »Wollen Sie den Toten noch einmal ansehen?«

»O nein,« antwortete Juchei. »Ich habe schon Abschied von ihm genommen, heute nacht, als wir allein waren ... Lassen Sie den Sarg schließen.«

Das war bald geschehen. Vier Männer luden die Bahre auf die Schultern; die Anwesenden ordneten sich und folgten dem vorangetragenen Sarge. Die Glocken begannen zu läuten. So hatten sie auch geläutet, als Georg einzog in das Dorf; damals hatten sie ihn willkommen geheißen und heute riefen sie ihm die letzten Grüße zu.

Nach einer Stunde war alles vorüber. Georg ruhte im Grabe, unter derselben Scholle, auf der Paula gekniet hatte, als sie das Grab seines Vorgängers betrachtete. Die Wohnung war jetzt nicht mehr leer.

Achtzehntes Kapitel

Der Dekan hatte das Telegramm, Hartecks Ableben meldend, richtig erhalten und war im ersten Augenblick, obschon die Nachricht nicht unerwartet kam, so bestürzt darüber, daß er nicht wußte, was er mit der fatalen Neuigkeit anfangen sollte. Er hatte das Gefühl, als ob er die Kunde solang wie möglich geheim halten müßte, hätte aber nicht recht erklären können, warum er so dachte. Dann drückte ihn das Geheimnis wieder in so hohem Grade, daß er seine Nichte aufsuchte und ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, was geschehen war.

Das sonst so erregbare Fräulein nahm die Mitteilung mit großer Fassung entgegen.

»Es war vorauszusehen,« bemerkte sie ruhig, »wir alle sind sterblich, und ich begreife nicht, lieber Onkel, wie diese Nachricht Dich so sehr erschüttern kann ... Bist Du denn für das Leben oder Sterben dieses Herrn verantwortlich?«

»Du hast recht,« sagte der Dekan sichtlich erleichtert, und Aurelie, froh etwas zu wissen, was noch nicht aller Welt bekannt war, und hauptsächlich begierig, daß die Nachricht sobald wie möglich zu den Ohren der ihr antipathischen Paula Reinberg gelange, beeilte sich auf die Straße zu gehen und wartete ungeduldig, bis irgend jemand käme, den sie mit dieser Mission betrauen könnte. Zufällig führte den jungen Schullehrer sein Weg am Pfarrhof vorüber; und Aurelie, die wußte, daß der junge Mann kein Freund des Verstorbenen gewesen, redete den Lehrer an und teilte ihm ohne Einleitung die Todeskunde mit. Ihre Worte erzielten jedoch keineswegs die gewünschte Wirkung. Fritz Stettner erblaßte, starrte sie an und machte sich, ohne die Lippen geöffnet zu haben, eiligst davon. Was half ihm des Mannes Tod? Er war nicht rachesüchtig, nicht schadenfroh, wenigstens nicht bis zu dem Grade, um jemandem ernstlich Übles zu wollen. Und Paula war ja doch für ihn verloren. Wie einstens der Lebende, würde jetzt der Tote zwischen ihr und ihm stehen ... Und selbst wenn Paula den Priester niemals kennen gelernt hätte, ... ihn würde sie trotzdem nicht geliebt haben. Lang bevor Harteck kam, hatte er um ihre Liebe geworben und sein Werben war ein vergebliches gewesen. Während des letzten Jahres hatte er, Hartecks wegen, viel gelitten; in früherer, besserer Zeit hatte er immer noch gehofft, – mit Hartecks Kommen hatte das aufgehört. Er hoffte längst nicht mehr; aber er liebte auch nicht mehr. Das Mädchen, zu dem er aufgeblickt wie zu einem hehren Götterbild, war zu einem recht menschlich schwachen Geschöpf herabgesunken. Er sah sie ganz erfüllt von einem Manne, den zu lieben ihr nicht erlaubt war, sah sie ihre heiligsten Pflichten vernachlässigen und allem, was nicht jener Mann war, kalt, trotzig und teilnahmlos gegenüberstehen. Ihr Haupt beugte sich nicht vor dem richtenden Urteil der Welt, unumwunden zeigte sie, daß ihr an allem blutwenig gelegen war, daß sie die Menschen und ihren Richtspruch verachtete und mit ihnen auch seine treue und reine Liebe, und das brachte den jungen Mann allmählich zur Besinnung. Der Heilung war freilich ein schwerer Kampf vorangegangen; endlich aber war sie doch erfolgt. Was er heute für Paula empfand, hätte er selber nicht recht zu sagen vermocht. Eines jedoch war ihm klar: wenn sie ihn jetzt geliebt hätte, würde er sie verworfen haben. Er wollte nicht vorlieb nehmen mit dem, was ein anderer ihm gnädig zurückließ, wo er so ganz, so tief sich hingegeben hatte. Paula flößte ihm heißes Mitleid ein, obschon es mit der hohen Achtung, die er einstens für sie gehegt hatte, vorüber war. Nur mit Widerstreben würde er ihr weh getan haben, ... da er nicht mehr liebte, konnte er verzeihen. Er seufzte, als er jetzt durch das Dorf schritt und das Haus Paulas erreichte. Unwillkürlich stand er da still. Wußte sie schon ...? Er spähete zu den Fenstern empor und sah die kleine Toni hinter einem derselben stehen. Sein braunköpfiger Liebling von ehemals ... Wie schnöde hatte ihn das Kind stets behandelt! Und er hatte alles ertragen, Paula zuliebe, ... ja, mehr noch, er hatte das undankbare Kind wirklich lieb gehabt ... O dieses Haus, die Fenster, der Garten, ... hier war seine Welt gewesen, all sein Glück und Schmerz. Jetzt lag Schnee auf dem Dach und den Bäumen, und auch in sein Herz war der Winter gezogen. Es ist doch etwas unsagbar Trauriges um eine untergegangene Liebe ...

Noch immer sah er traumverloren zu Toni empor, und da auch sie den Blick auf ihn gerichtet hielt, winkte er ihr mit der Hand, zu ihm herab zu kommen. Die Kleine schüttelte zuerst den Kopf, dann aber mochte die Neugier die Oberhand gewinnen; sie verschwand vom Fenster und nach Ablauf einer Minute stand sie neben dem Lehrer. Sie hatte ein Tuch um Kopf und Hals gewickelt und ihre Händchen steckten in einem Muffe. Ihr rotwangiges Gesicht und ihre großen braunen Augen schauten fragend zu dem Manne empor.

»Prr! Es ist kalt,« sagte sie, hin- und hertrippelnd. »Weshalb haben Sie mich gerufen, ... bei dieser Kälte?«

»Ich habe Dir etwas zu sagen,« antwortete er ernst.

Sie begann zu fühlen, daß es mit ihrer Macht über ihn zu Ende war; so fremd und kühl hatte er sonst nicht gesprochen. Ihr Köpfchen beugte sich und, ohne ihn anzusehen, fragte sie mit leiser Stimme: »Was denn?«

»Sag Deinen Leuten, daß der Vikar Harteck gestorben ist,« versetzte er.

»O!« rief sie und wurde purpurrot. »Das ist nicht wahr!«

»Du ungezogenes Kind!« entgegnete er. »Ich werde doch nicht lügen.«

»Ja, ... aber ...« Sie brach in Tränen aus. »Ich will nicht, daß er tot ist ... Paula! Paula!« rief sie dann sehr laut, kehrte blitzschnell um und rannte in das Haus hinein.

Horchend blieb der Lehrer stehen.

»Paula! Paula!« hörte er die verhallende Stimme der Kleinen rufen. Das Herz wurde ihm plötzlich sehr schwer ... Im Hause herrschte Grabesstille. Kein Seufzer, kein Schluchzen, kein Aufschrei drang an sein lauschendes Ohr. Ein Rest der alten Liebe lebte noch einmal in ihm auf ... Sollte er hineingehen und Paula zu trösten versuchen? Ihm bangte vor dieser Lautlosigkeit ... Schon tat er einen Schritt nach der Schwelle hin. Da aber war ihm, als zöge eine unsichtbare Hand ihn zurück. Paula würde ihn ja doch von sich weisen, wie sie es immer getan hatte ... Nein! Sie wollte nichts von ihm, wollte allein sein, – mochte sie's denn allein tragen. Und rasch entschlossen ging er nach Hause. –

Der Geschäftigkeit Aureliens war es mittlerweile gelungen, das gesamte Hausgesinde von dem Geschehenen in Kenntnis zu setzen; wie ein Lauffeuer ging die Nachricht durch das Dorf; indessen regten sich die indolenten Bauern wenig darüber auf. Einer erzählte es dem anderen und dieser sagte: »So!« und »Ah!« und teilte es einem dritten mit und auf diese Weise ging es fort. Der Dekan, der absichtlich einen Gang durch das Dorf unternahm, um die Stimmung der Leute zu prüfen, fand, daß niemand daran dachte, irgendeinen Vorwurf wider ihn zu erheben und daß sich unter den Bewohnern, außer einer gewissen flauen Teilnahme, die die Todeskunde eines schon halb Vergessenen gewöhnlich hervorzurufen pflegt, nichts bemerkbar machte, und er wunderte sich jetzt über sich selbst, daß er etwas anderes hatte voraussetzen können.

Eine lebhaftere Bewegung hingegen entstand, als die Rückkunft Perkows bekannt wurde. Um Zeit zu sparen, hatte Joachim den mühsamen Weg über den Berg zurückgelegt und langte mittels der Eisenbahn in St. Jakob an. Auf dem Bahnhof hatten sich außer dem Dekan, dem jungen Mönch und Aurelien noch viele andere Leute eingefunden, und als sie den jungen Priester, den Hund Hartecks am Halsbande führend, nach dem Perron schreiten sahen, entblößten alle die Köpfe, und ehrerbietiges Schweigen herrschte ringsum.

Etwas wie Grabeshauch lag auf der Gestalt und dem Gesicht des jungen Mannes. Aus seinen Zügen war der frohe Lebensmut gewichen und kein Lächeln trat auf seine Lippen, als der Dekan auf ihn zukam und ihm die Hand entgegenstreckte.

»Sie haben – hm! – einen schweren Verlust erlitten,« redete der Dekan ihn an. »Ich spreche Ihnen mein aufrichtiges Beileid aus.«

»Ich ebenfalls,« lispelte Aurelie.

»Danke,« sagte Juchei und faßte den Hund fester am Halsband. Das Tier stieß ein klägliches Winseln aus und drängte sich zitternd an die Kniee des Geistlichen. »Der Hund ist noch ganz verstört,« fuhr Joachim fort. »Er sucht beständig nach seinem Herrn.«

Der Dekan tätschelte Cäsars Kopf und Aurelie machte sich ebenfalls mit dem Tiere zu schaffen.

»Lassen Sie ihn lieber in Ruhe,« sagte Juchei. »Er ist sehr unzugänglich und bissig geworden.«

Das Fräulein tat einen affektierten Schrei und wich zurück. Joachim schenkte dem keine Beachtung, sondern sagte bloß: »Gehen wir nach Hause.«

Er grüßte die Leute, die ihm achtungsvoll Platz machten, und die kleine Gesellschaft schlug den Weg nach dem Pfarrhof ein.

Überall begegnete Joachim teilnahmvollen Blicken und Grüßen und der Hund erregte große Aufmerksamkeit. »Da ist sein Hund!« sagten viele mit leiser Stimme. Juchei sah weder nach rechts noch nach links und zog bloß mechanisch den Hut ab, wenn ein Gruß an sein Ohr schlug. Nur als sie am Hause des Arztes vorüberkamen, erhob er den Blick vom Boden und schaute auf das Haus. Da jedoch weder am Tor noch hinter den Fenstern jemand zu sehen war, senkte er die Augen wieder und schritt schweigend fürbaß.

Sie erreichten den Pfarrhof, und als Cäsar des ihm wohlbekannten Hauses ansichtig wurde, fing er zu rennen an, stürzte zum Tor hinein, über die Treppe hinauf und kratzte zitternd und heulend an die Tür, die in die ehemalige Wohnung seines Herrn führte. Joachim eilte dem Hunde nach. Mit großer Freude begrüßte ihn Cäsar, zerrte ihn an den Kleidern zur Tür hin, sprang an ihm empor, bellte und keuchte ... O! Diese Tiersprache war beredt genug: Öffne, öffne doch! Er muß ja hier sein ... Armes, treues Tier! ... Juchei tat ihm seinen Willen und schloß die Tür auf, – Cäsar schoß wie ein Pfeil hinein, durchsuchte die Zimmer, schnüffelte in jede Ecke und brach plötzlich in ein lautes, jämmerliches Geheul aus.

»Cäsar! Cäsar!« rief Juchei erschüttert, kniete bei ihm nieder und drückte seinen großen Kopf an die Brust. Der Hund schaute ihn mit blutunterlaufenen Augen an und knurrte zornig ...

»Ich kann Dir Deinen Herrn nicht wiedergeben,« sagte Juchei. »O! Wenn ich's könnte! ...« Er preßte die Hände an die Augen. Wie diese Räume ihn an alles mahnten! War es denn möglich, war es denn wirklich, unwiderruflich wahr?

Eine Magd rief ihn zum Abendessen. Er schloß den Hund in die Stube ein, verfügte sich in das Speisezimmer und setzte sich auf den Platz, den Georg sonst eingenommen. Mechanisch aß und trank er, beantwortete mechanisch die Fragen, die die Tischgesellschaft an ihn richtete, und wunderte sich nur über eines: daß alle Welt ihm sein Betragen gegen den toten Freund so hoch anrechnete, ihn darum belobte ... Was hatte er denn so Besonderes getan? Er hatte den Toten geliebt: verstanden die Menschen denn nicht, was das hieß?

Die Mahlzeit war kaum vorüber, als Juchei sich unter dem Vorwand großer Ermüdung erhob und zurückzog. Er ging jedoch bloß in seine Wohnung, um Cäsar zu holen und verließ dann mit dem Hunde das Haus. Die Leute im Dorfe schliefen bereits, und ohne daß jemand ihn sah, erreichte Joachim das Ziel seiner kurzen Wanderung, ... das Haus des Arztes. Er klingelte und fragte die ihm öffnende Dienstmagd, ob ihr Herr noch zu sprechen wäre. Sie bejahte die Frage, leuchtete ihm über die Treppe hinauf und bat ihn, einzutreten. Er klopfte an und trat in das Zimmer.

Die Familie hatte soeben das Abendbrot eingenommen. Der Arzt saß am Tische und rauchte, Paula ihm gegenüber, mit verschränkten Armen vor sich hinstarrend, und Toni stand neben ihr. Als sie den Geistlichen und Cäsar eintreten sahen, erhob sich der Arzt und warf einen raschen Blick auf seine Tochter. Paula wollte sich erheben, vermochte es aber nicht. Sie sank auf den Stuhl zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Schweigend standen der Arzt und Perkow da und schauten auf das junge Mädchen. Keiner war imstande, zu sprechen. Nur Toni näherte sich dem Hunde und streichelte ihn.

»Cäsar! Armer Cäsar!«

Das Tier schien sie nicht zu erkennen. Es zog den Schwanz ein und zeigte dem Kinde die Zähne.

»Cäsar, was hast Du? Ich bin es ja,« sagte Toni furchtlos und zärtlich. Der Arzt faßte sie am Arm und führte sie aus dem Zimmer.

»Der Hund ist krank; geh Du schlafen,« sagte er, kehrte dann zu den anderen zurück und bot dem Gast einen Stuhl an. Juchei setzte sich; der Arzt blieb stehen.

»Verzeihen Sie mein Eindrängen,« sagte Juchei endlich. »Es soll nicht wieder geschehen. Aber dieses eine Mal mußte es sein ... Ich bin gekommen, um Ihnen die letzten Grüße meines Freundes zu überbringen.«

Niemand antwortete. Paula verharrte unbeweglich in ihrer trostlosen Stellung. Man hätte sie für tot halten können, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein Zittern ihren Leib durchlaufen hätte.

»Bis zu seinem Ende,« fuhr Joachim fort, »hat ihn der Gedanke gequält, daß er Leid über Ihr Haus gebracht ... Lassen Sie mich hoffen, daß seine Reue, sein Tod Sie versöhnen ...«

Die Stimme versagte ihm.

»Alles ist vergeben und vergessen,« sprach der Arzt.

Paula erhob sich und ging aus dem Zimmer.

»Amen,« murmelte Juchei ihr nachblickend. Der Arzt tat dasselbe.

»Hat er viel gelitten?« fragte er dann.

»O!« sprach Joachim mit einer traurigen Bewegung. »Seine Jugend und die mörderische Krankheit kämpften einen fürchterlichen Kampf miteinander, ... aber sein Tod war ein sanfter. Er schlief in meinen Armen ein ...«

Eine neue Pause folgte.

»Sein Gemüt war – bedrückt,« sagte der Arzt hierauf. »Das ist eine siegreiche Waffe für diese Krankheiten. Aber ich will doch nach dem Mädchen sehen, ... Sie verzeihen, ... ich bin so sehr besorgt um sie.«

Er ließ den Gast allein. Nach einer Weile hörte Juchei die Tür gehen. Er blickte auf und sah Paula vor sich. Schweigend nahm das junge Mädchen ihren alten Platz ein. Sie saß nach vorne gebeugt, ihre Hände ruhten im Schoße, ihre Augen stierten ausdruckslos ins Leere. Perkow, der sie betrachtete, fand sie sehr verändert. Eine seltsame Starrheit lag auf ihrem Gesichte, unter ihren Augen liefen dunkle Schatten. Verweint sah sie nicht aus ... Sie hatte noch keine einzige Träne vergossen, seit sie das Unabänderliche erfahren.

Juchei erwartete, daß sie etwas sagen würde. Paula aber blieb stumm; sie blickte ihn nur unverwandt an.

»Sie sind doch zu beneiden,« sprach sie endlich, ohne die Augen von ihm zu wenden.

»Ich?« fragte er mit trübem Lächeln.

»Sie haben um ihn sein dürfen bis zum letzten Augenblick, während ich ...« Sie verstummte. »Ich würde es leichter tragen,« sprach sie dann, »wenn es so hätte kommen müssen. Gegen das Schicksal sind wir machtlos. Wenn aber Menschen eingreifen in das Schicksal anderer und dabei ein solcher Jammer herauskommt, dann gibt es keinen Trost. Die Bitterkeit, der Haß vergiften den Schmerz. Ich kann nicht einmal weinen und trauern um ihn, alles in mir ist tot und versteinert. Sich sagen müssen, daß er noch leben und glücklich leben könnte, wenn nicht seine Mutter und Schwester ... Ich habe nie gewußt, was Haß ist. Jetzt aber weiß ich es.«

»Ich kann Ihnen darauf nur mit dem Ausspruch des Erlösers antworten,« erwiderte der Priester. »Vergeben wir ihnen, sie wußten nicht, was sie taten.«

»Ich bin nicht so mild gesinnt,« entgegnete Paula dumpf. »Ja, wenn es sich bloß um mich, um mein Glück handelte! Wenn aber etwas, das ich liebe, getroffen wird, bin ich unversöhnlich. – Noch eines quält mich,« fuhr sie nach einer augenblicklichen Stille fort und legte die Hand an die Stirn. »Ich kann nicht zusammenhängend sprechen, ... mein Kopf ist so verwirrt ... Was wollte ich nur ...? Ja, das wollte ich sagen. Sie haben vorhin geäußert, daß Sie kein zweites Mal zu uns kommen würden. So muß es auch sein. Nicht meinetwegen. Mein Leben ist abgetan. Aber des Vaters halber. Um Ihnen das zu sagen, habe ich den Vater gebeten, mich mit Ihnen allein zu lassen. Er hat genug gelitten. Ich will von dieser Stunde an versuchen, wieder für ihn und meine Schwester zu leben ... Vielleicht daß auf diese Weise mein Dasein noch einigen Nutzen bringen kann. Aber bevor Sie gehen, muß ich noch eine Frage an Sie richten. Harteck hat mich nie gerufen, ... und dennoch, ... glauben Sie, daß es ihm erwünscht gewesen, wenn ich trotzdem gekommen wäre? Oft, oft hat es mich übermächtig hingezogen zu ihm ... Dann aber sagte ich mir wieder: Wenn er's wollte, brauchte er Dich ja bloß zu rufen; weiß er doch, daß Du darauf wartest ... Und so schwankte und zauderte ich, bis es zu spät war. Und nun hetzt und verfolgt mich der Gedanke, daß er vielleicht auf mich gewartet hat und daß ich nicht gekommen bin ...«

»Beruhigen Sie sich darüber,« sprach Joachim. »Georg verstand so zu lieben, daß er sich selbst zu vergessen vermochte. Er hat Sie – warum sollte ich's Ihnen verschweigen? – sehr geliebt und redete noch im Todeskampf von Ihnen. Aber was er sagte, waren Dankesworte dafür, daß Sie allem diesen Jammer fern geblieben wären. Ihr Anblick würde ihn nur gequält haben; er hätte sehen müssen, wie Sie leiden um seiner Leiden willen und ohne ihm helfen zu können, und dieses Bewußtsein hätte ihn nur noch elender gemacht. Nein, so war es am besten.«

»Gott sei Dank!« sagte Paula. »Das war es, was ich zu wissen begehrte.«

Perkow erhob sich.

»Komm, Cäsar,« sagte er zu dem Hunde, »wir wollen nach Hause gehen.«

Er sprach diese einfachen Worte mit so müder Stimme, daß sogar der Hund, als verstünde er ihn, mitleidig seine Hand leckte.

»Die Toten sind nicht am schlimmsten daran,« sagte Juchei und gab Paula die Hand. »Aber die, die zurückbleiben ...«

»Zurückbleiben,« sprach Paula tonlos nach, »untröstlich, unversöhnlich.«

»Untröstlich gewiß,« sagte der Priester. »Ich würde nicht wert sein, daß er mich Freund nannte, wenn ich ihn jemals vergessen könnte ... Ich werde meinen Georg niemals vergessen. Leben Sie wohl.«

Sie ließ seine Hand fahren und er ging, den Hund mit sich führend. Sie blickte ihm nicht nach, sie starrte in die Luft. Gegenwart und Zukunft flossen ineinander. Sie sah voraus, daß es immer so bleiben würde, ... von jetzt an bis zum Tode. Tränenlos würde sie durchs Leben gehen, die Wunde würde im Verborgenen weiter bluten und langsam vereitern; sie würde bleiben, was sie in dieser Stunde zu sein bekannt hatte: untröstlich, unversöhnlich.

Neunzehntes Kapitel

Zehn Jahre waren verflossen. An einem Oktobernachmittag war es, daß ein kräftig-schlanker Mann, der die schwarze Kleidung eines katholischen Priesters trug, durch die Straßen Salzburgs schritt. Er ging einher in selbstbewußter Haltung und man sah ihm an, daß er gewohnt war, das Haupt hoch zu tragen ... Flüchtig erwiderte er die Grüße der an ihm vorbeieilenden kleinen Buben und Mädchen, sah bald die Häuser an, an denen er vorüberging, bald empor zu den nahen Bergen, und seine männlichen, sonnverbrannten Züge nahmen dabei einen ziemlich ernsten, fast nachdenklichen Ausdruck an. Plötzlich hielt er im Gehen inne und blickte mit einer Bewegung der Überraschung auf ein freundliches, sauber gehaltenes Haus. Ein Name, an dem Haustor angebracht, war es, was seinen Blick getroffen hatte ... »Dr. Reinberg!« murmelte der Priester vor sich hin. »Ist es möglich? Sollte es derselbe Mann sein? So wären wir einander so nahe gewesen und ich hätte nichts davon gewußt?« Kopfschüttelnd wollte er seinen Weg fortsetzen, – da aber war ihm, als tauchte das Bildnis eines Toten vor ihm auf, als flüsterte eine einst geliebte, seit langen Jahren nimmer gehörte Stimme in sein Ohr: So eilst du vorüber an dem Hause, das dasjenige birgt, was mir das Liebste war auf dieser Welt? So eilst du vorüber und gehst nicht hinein und fragst nicht, wie es ihr ergeht und wie sie lebt? Bin ich schon ganz vergessen?

Rasch entschlossen wendete er sich um und lenkte den Schritt hinein in das Haus.

Während er die Treppe emporstieg, überkam ihn eine Art von Beklemmung. Jahre waren hinweggerauscht über alle jene Begebenheiten, die in dem abgeschiedenen und traurigen Dorfe Keßten sich abgespielt, – das Leben und Joachims Jugend hatten ihre natürlichen Rechte geltend gemacht, Ereignisse aller Art waren zwischen ihn und die Vergangenheit getreten und hatten das Bild des toten Freundes gewaltsam in den Hintergrund gedrängt. An Paula Reinberg vollends hatte er jahrelang kaum gedacht. Aber jetzt, wo er sich ihr so nahe wußte, sank die Schranke ein, die die Zeit aufgerichtet hatte, und scharf wie in alten Tagen grub der alte Jammer seine Zähne ein in des Mannes unruhig pochendes Herz.

Zögernd legte er die Hand an die Wohnungsglocke. Wie wird Paula ihn aufnehmen? Wird sein unvermuteter Anblick nicht alte, mühsam vernarbte Wunden aufreißen? Wird sie es ihm danken, daß er, ungerufen, ungebeten, zu ihr gekommen?

Er wußte selbst kaum, daß er an der Glocke gezogen: aber das Geläute, das nun erscholl, belehrte ihn, daß er es getan. Vorwärts denn! Zur Umkehr war es jetzt doch zu spät.

Eine Minute darnach trat er in das Wohnzimmer. Vom Sofa erhob sich eine schlanke, schwarzgekleidete Frauengestalt ... Des Priesters Herz empfand eine schmerzliche Regung. Nach zehn langen Jahren standen die zwei Menschen, die dem, der in Keßten begraben lag, das Teuerste gewesen waren und die auch ihn am innigsten geliebt hatten, einander zum erstenmal wieder gegenüber.

»Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir gekommen sind,« begann Paula und sah ihn mit warmem Blick an: mit einem Blick, wie ihn die Menschen nur für jene haben, die sie an eine gemeinsam verlebte frohe Zeit oder an ein gemeinsam empfundenes Leid erinnern.

»Ich wußte nicht, daß Sie sich in Salzburg aufhalten,« sagte Joachim. Seine Stimme klang bewegt.

»Wir sind erst seit kurzem hier, erst seit ein paar Wochen,« antwortete Paula mit erzwungener Fassung. »Mein Vater ist zum Bezirksarzt von hier ernannt worden ... Wir fühlen uns schon ganz heimisch in Salzburg, nicht anders, als ob wir schon jahrelang hier wohnten.«

Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, sich zu setzen; er folgte ihrer Aufforderung und Paula nahm ihren Platz auf dem Sofa wieder ein.

Er wußte nicht recht, was er ihr sagen sollte. Die Vergangenheit heraufbeschwören? Reden von Dingen, die so viel Leid gebracht? Dazu hatte er keinen Mut.

Aufmerksam hingen seine Augen an dem blassen, ernsten Mädchenbilde. In ihrem schwarzen Kleide, mit dem schlicht gescheitelten Haar sah sie beinahe matronenhaft aus. Es war die alte Paula und war es doch wieder nicht. Ihre Wangen waren hagerer geworden, sie war noch bleicher als ehedem und um ihre festgeschlossenen Lippen lag ein herber Zug. In ihre Stirn hatte die Zeit – wohl auch anderes – die ersten Falten gegraben; ihre Augen aber hatten einen sanften, schwermütigen Blick. »Ich habe entsagt:« stand nicht das in deutlichen Lettern in diesen tiefliegenden grauen Augen geschrieben?

Auch Paula betrachtete ihn mit forschendem Blick. Sie fand ihn wenig verändert; seine Gestalt war kräftiger, seine Züge gereifter geworden. Er sah so selbstbewußt aus wie in alter Zeit. Nur die Sturm- und Drangperiode, der Ungestüm und Überschuß an gärender, felsenfest an sich selbst glaubender Jugendkraft schienen einem gesetzteren Wesen, einer etwas nachsichtigeren Denkungsart gewichen zu sein. Wenigstens glaubte Paula, es aus seinen Zügen herauszulesen.

»Wir haben einander lang nicht gesehen,« sagte sie, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Wie ist es Ihnen ergangen seit dem Tag, wo ...« Sie stockte plötzlich. Die Vergangenheit war heraufbeschworen. Wie konnte es auch anders sein? Seit er das Zimmer betreten, hatten er und sie ja nur an das Eine, gemeinsam Erlittene, längst Begrabene gedacht.

»Seit dem Tag, wo wir in St. Jakob einander zum letztenmal gesprochen,« vollendete Paula nicht ohne Anstrengung.

»Mir ist es ganz gut ergangen,« versetzte Joachim. »Von St. Jakob bin ich, wie Sie wissen, bald abberufen worden ... Eine Zeitlang habe ich für Blätter unserer Partei geschrieben, bin auch Redakteur gewesen und bekleide derzeit die Stelle eines Sekretärs bei seiner Eminenz dem Fürsterzbischof von Salzburg. Er ist mir sehr freundlich gesinnt und ich hatte im verflossenen Jahr das Glück, ihn nach Rom begleiten zu dürfen, wobei mir die Gnade zuteil wurde, seiner Heiligkeit dem Papste vorgestellt zu werden. Übrigens reise ich morgen früh von hier ab.«

»Für immer?« fragte Paula.

»Wahrscheinlich für immer. Der Erzbischof von Wien wünscht, mich um sich zu haben, und ich trete von morgen an in seine Dienste. Das ist mir natürlich sehr angenehm, weil sich mir dadurch die Aussicht eröffnet, rascher vorwärts zu kommen, als es hier möglich wäre. Indessen tut es mir einigermaßen leid, von der Heimat scheiden zu müssen.«

»Sie haben es für Ihre Jugend weit gebracht,« sagte Paula. »Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück zu allem, was Sie bis jetzt erstrebt haben und noch erreichen werden.«

»Besten Dank,« antwortete Joachim. »Es ist wahr, daß man allenthalben sehr wohlwollend gegen mich ist und meinen Fähigkeiten oder, wenn Sie wollen, meinem guten Willen die weitestgehende Anerkennung zollt.«

Paula sah ihn mit einem eigentümlichen Blick an; man hätte sagen können, daß Neid aus ihren Augen sprach. Dann wendete sie das Haupt zur Seite und ließ den Blick hinauf zum grauen Himmel schweifen.

»Es ist doch seltsam,« sagte sie dabei. »Zwei Menschen betreten denselben Weg, gehen weiter auf demselben Wege, haben die gleichen Bestrebungen, die gleichen Ziele, ... und mit einemmal trennen sich ihre Wege: den einen trägt der seine empor zu Ansehen und Ehren und den anderen führt er hinab in das Grab ...«

Sie ließ den Kopf hängen und starrte trübe vor sich hin.

»Wenn er, wie ich, Lust und Liebe zu seinem Beruf gehabt hätte,« sprach Joachim mit einem Anflug von Strenge, »würde er gleichen Schritt mit mir haben halten können.«

Einen Namen zu nennen, war nicht nötig. Sie beide wußten ja, von wem sie sprachen, an wen sie dachten.

»Klagen Sie ihn nicht an,« sagte Paula und ihre Stimme zitterte. »O! Wenn die Menschen ihm überlassen hätten, sich seinen Lebensweg selbst vorzuzeichnen: wie anders wäre dann alles gekommen.«

Joachim sagte nichts darauf. Ihn, den Priester aus Überzeugung, berührte es immer peinlich, wenn er daran erinnert wurde, daß der Freund unglücklich gelebt hatte und unglücklich gestorben war, weil er das priesterliche Kleid getragen.

»Ich habe seine Mutter kennen gelernt,« hob er nach einer bedrückenden Stille wieder an.

Flüchtig sah Paula in sein Gesicht.

»Seine Schwester ließ mir keine Ruhe,« setzte er erläuternd hinzu. »Sie schrieb mir Briefe um Briefe, in denen sie mich immer wieder beschwor, sie und ihre Mutter zu besuchen, damit sie von mir hören könnten, wie Georg die letzten Lebenswochen zugebracht hätte und ob er christlich und ergeben gestorben wäre. Aber diese Schwester hatte einen so widerwärtigen Eindruck auf mich hervorgebracht, daß ich mich wahrscheinlich niemals entschlossen haben würde, ihrer Einladung Folge zu leisten, wenn nicht am Ende die Mutter selber mich brieflich gebeten hätte, sie doch, um Gottes willen, einmal wenigstens aufzusuchen: sie könne nicht ruhig sterben, wenn sie mich nicht vorher gesehen und gesprochen hätte.«

»Nun?« fragte Paula in dumpfem Ton, da er im Sprechen innehielt.

»Ich reiste denn nach Kufstein,« fuhr Joachim fort. »Es war etwa ein halbes Jahr nach Georgs Ableben. Als mich die Schwester vor seine Mutter führte, sah ich eine bejammernswerte, hinfällige Greisin vor mir, die kaum die Kraft hatte, sich von ihrem Lehnstuhl zu erheben. Wie genau erinnere ich mich an jede Einzelheit, ... an die verdrießliche, ungeduldige Miene der Schwester und an das furchtbar blasse, strenge, vom Leid verwüstete Gesicht der alten Frau, – sogar an ihre Worte. ›Hilf mir auf‹, sagte sie zur Tochter. ›Ich bin so mühselig geworden, seit mir die Kunde seines Todes zugekommen ist‹ ... Könnte ich Ihnen nur den Ton wiedergeben, in dem diese Worte gesprochen wurden ... Er drang mir bis ins Mark.« Paula beschattete die Augen mit der Hand. »Unwillig genug leistete ihr die Tochter die gewünschte Hilfe,« erzählte der Priester weiter. »Ich las ihr vom Gesichte ab, daß ihr die gebeugte alte Mutter, der tote Bruder, kurz alles, was sie in ihrer Behaglichkeit störte, unsäglich lästig war ... ›Eine gute Schwester ist sie ihm gewesen,‹ fuhr die alte Frau, zu mir gewendet, fort. ›Warum ist sie nicht rechtzeitig zu ihm geeilt? Hast ihn unter Fremden sterben lassen, Deinen einzigen Bruder,‹ sagte sie zur Tochter. ›Gott vergebe es Dir.‹ – Die Junge zog ein Gesicht und blieb die Antwort darauf schuldig. Ich aber konnte mich nicht enthalten, zu sagen: ›Es war ihm viel lieber so; er hat mit keinem einzigen Wort nach seiner Schwester verlangt.‹ – Das schien doch einigen Eindruck auf das stahlharte Gemüt der Jungen zu machen, ... wenigstens fuhr sie zusammen und ging rasch aus dem Zimmer. Einem Steinbild gleich saß die alte Frau vor mir, ... es wurde mir fast unheimlich sie anzusehen. ›Wie geduldig und liebevoll er im Vergleich zu meiner Tochter gewesen ist,‹ sprach sie mit klangloser Stimme. ›Wenn Gott mir nur sagen möchte, ob ich recht an ihm gehandelt habe. Ich habe meine Pflicht getan und Gott höher gehalten als alles andere, ... und darüber ist mir der Sohn weggestorben; vor mir und nicht in meinen Armen. Und ich fürchte‹, sagte sie flüsternd und umklammerte mit ihrer abgemagerten Hand meinen Arm, ›ich fürchte, daß er in Groll wider mich aus der Welt gegangen ist ... Das nagt an mir, hochwürdiger Herr, ... wie ein Wurm nagt das an mir‹ ...«

Jucheis Stimme war bei diesem Bericht leiser und leiser geworden. Nun seufzte er tief auf und blickte, in Erinnerungen verloren, vor sich hin. Paula hielt die Augen noch immer mit der Hand bedeckt.

»Grauenvoll!« murmelte sie in sich hinein.

»Jawohl, – grauenvoll!« sprach Joachim nach. »Das ist das rechte Wort. Habe ich nicht im Sinn des Toten gehandelt, wenn ich ihr diese Gedanken auszureden, sie zu trösten und zu beruhigen versuchte? Denn das habe ich getan.«

Paula nickte stumm.

»Zwei Monate später erfuhr ich, daß sie gestorben wäre,« sagte Joachim. »Sie hat den Sohn nicht einmal ein Jahr überlebt.«

»Sie ruhe in Frieden,« sprach Paula mit leiser Stimme. »Damals – vor zehn Jahren – hegte ich andere, wildere Gedanken. Heute wiederhole ich die Worte, die Sie einstens zu mir gesprochen: Gott vergebe ihr; sie wußte nicht, was sie tat.«

Eine Zeitlang verharrten sie in Stillschweigen.

»Cäsar,« bemerkte der Priester endlich, »hat seinen Herrn nicht vergessen können. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn an mich zu gewöhnen und habe ihn, da er krank war, Tag und Nacht gepflegt; aber er starb ab, wie eine Lampe erlischt, deren Brennstoff verbraucht ist. Ein paar Monate nach Georgs Tode war auch sein Hund tot.«

»Und die anderen ... Hartecks Feinde ... leben wohl alle noch?« fragte Paula mit bitterem Lächeln. »Wahrscheinlich geht es ihnen auch vortrefflich.«

»Nicht die Menschen waren seine schlimmsten Feinde,« entgegnete Joachim. »Er ist an einem verfehlten Leben zugrunde gegangen. Nichts mehr davon. – Seine Widersacher leben alle noch und leben ganz vergnügt.«

Paula versank in Nachdenken. Die Menschen hatten Georg vergessen und sich getröstet darüber, daß er tot; alle waren ihren Weg gegangen, hatten das Glück oder doch ein Ziel gefunden: sie nicht. Die Lücke, die sein Tod gerissen, war geblieben. Sie hatte keinen Ersatz gesucht, hatte den Gedanken, noch einmal zu lieben, mit Hohn von sich gewiesen. Glücklich sein, sich freuen, während er in seinem Grabe moderte, ... nein! O nein! Sie war ihm treu geblieben und die Jugendzeit war verronnen. Was lag daran? Nicht allen ist beschieden, das Glück zu finden, und die Trauer um einen geliebten Toten ist ja auch ein Schatten von Glück.

»Sie wollen schon fort?« fragte sie den Priester. Dieser hatte sich erhoben.

»Ich muß,« sagte er. »Grüßen Sie die Ihren von mir und leben Sie wohl.«

Paula stand auf und gab ihm die Hand.

»Zum Schlusse noch eine Frage,« sagte Joachim und behielt ihre Hand in der seinen. »Wie leben Sie ...? Davon haben Sie mir noch kein Wort gesagt.«

Mit ruhigem Ernste sah sie ihm in die Augen.

»Wie soll ich leben? Sehr still und friedlich ... Toni ist meine größte Freude. Sie hat gehalten, was sie als Kind versprochen und ist ein blühend schönes, reich begabtes Geschöpf geworden. Vielleicht, daß sie ein wenig zu ehrgeizig, zu hochstrebend ist, ... ich aber liebe sie so wie sie ist und möchte sie nicht anders haben. – Über mich selbst,« fügte sie nach augenblicklicher Stille hinzu, »denke ich wenig nach. Ich bin alt geworden. Wenn ich Vater und Toni glücklich sehe, bleibt mir nichts zu wünschen übrig.«

Ein Seufzer der Beruhigung hob seine Brust. Er hatte die Empfindung, als stünde eine nach schwerer, langer Krankheit Genesene vor ihm. Der wildtobende, verheerende Schmerz hatte diese edle Natur wohl erschüttern, nicht aber zerstören können.

Mit einem Händedruck nahm er Abschied von ihr und ging, – ging hinaus ins volle Leben und sie blieb zurück in ihrer eng begrenzten Welt und schaute ihm nach mit ernstem, ergebenem Blick.

Sie wollte den Ihren nichts sagen von dieser Begegnung. Sie möchten fürchten, daß dies Wiedersehen sie erregt haben könnte, und diese Sorge sollte ihnen erspart bleiben. Sie dachten ja immer an sie, der Vater und Toni. Wie geduldig war der Vater stets gewesen! Jahrelang hatte er gewartet, – immer gleich mild und liebevoll, bis sie endlich ruhiger geworden war. Er und Toni hatten sich bemüht, ihr zu ersetzen, was sie verloren, hatten sie ihrer stillen Traurigkeit halber niemals getadelt, hatten jedes heitere Wort, jedes Lächeln von ihr mit heller Freude begrüßt. Wie eine Schwerkranke hatten sie sie behandelt, ... der Vater, der Vater besonders. In ihrem Hause wurde sie geliebt mit treuer, niemals wankender Zärtlichkeit, ... das tat so wohl und warf einen Sonnenstrahl auf das Grab ihrer armen, einzigen Liebe.

Mit leisem Schritt trat sie vor das Bild der Mutter hin, kniete nieder davor und betete lange. Tränen rollten dabei über ihre Wangen, aber es waren sanfte, erlösende Tränen. Sie konnte wieder beten, sie haderte nicht mehr: es war ihr viel genommen, doch auch viel gegeben, viel gelassen worden. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Obschon Paula wußte, daß sie jenen Toten lieben würde, solang ein Herzschlag in ihr, fühlte sie doch auch, daß sie endlich ruhig geworden war. Mit Georg Harteck war alles geschieden, was wie ein dunkler Fleck an ihrer reinen Seele gehaftet hatte. Mit fast sündiger Leidenschaft hatte sie an dem Manne gehangen, hatte, ihm zuliebe, geschwankt zwischen Recht und Unrecht, ja, sie wäre, ihm zuliebe, besinnungslos abgewichen vom Weg der Pflicht gegen sich selbst und gegen teure Menschen, – der Tod hatte dem traurigen Kampf ein Ende gesetzt. Sie war sich heute bewußt, daß es so hatte kommen müssen, um sie sich selbst zu retten; trotz dem Schiffbruch, den ihre einzige Liebe erlitten, war ihr unsäglich viel geblieben: die Selbstachtung, ein Herd und zwei ihr mit echter Liebe ergebene Menschen. Das war viel, mehr vielleicht, als sie verdiente, – mehr, als es braucht, um mit dem Leben fertig zu werden.

Ende.

Fußnoten

[1] guter.
[2] gehen Sie.
[3] Ursula.
[4] doch.
[5] uns.
[6] können.
[7] weinen.
[8] ihm.
[9] zuwider, ärgerlich.
[10] ihr.
[11] wir.
[12] vielleicht.
[13] lustig.
[14] Postwirtin.
[15] still.
[16] zurückhalten.
[17] Ihr.
[18] Friedhof.
[19] In Tirol für Verwandtschaft.
[20] In Tirol für Joachim; die Betonung liegt auf der ersten Silbe.
[21] Gerannt.
[22] Siehst Du.
[23] Seppei in Tirol für Josef.
[24] Blick.

Hinweise zur Transkription

Im Originalbuch tragen die Kapitelenden jeweils einfachen floralen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.

Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua.

Der Schmutztitel wurde entfernt.

Alle Fußnoten wurden unter der hinzugefügten Überschrift "Fußnoten" am Ende des Buchtextes zusammengefasst.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 1:
im Original "Von diesen Gedanken beseelt. setzte er"
geändert in "Von diesen Gedanken beseelt, setzte er"

Seite 1:
im Original "der Hund ging dicht hinter ihm,"
geändert in "der Hund ging dicht hinter ihm."

Seite 4:
im Original "wohl schon zu Nacht gessen"
geändert in "wohl schon zu Nacht 'gessen"

Seite 26:
im Original "daß das Frühstück berets aufgetragen wäre"
geändert in "daß das Frühstück bereits aufgetragen wäre"

Seite 40:
im Original "wie so vieles, vieles andre"
geändert in "wie so vieles, vieles andere"

Seite 44:
im Original "Er, für seine Persen, würde ja gern"
geändert in "Er, für seine Person, würde ja gern"

Seite 74:
im Original "Er hattte sie abgöttisch geliebt"
geändert in "Er hatte sie abgöttisch geliebt"

Seite 94:
im Original "zwischen uns eintreten, Fräulein Paula Ich komme"
geändert in "zwischen uns eintreten, Fräulein Paula. Ich komme"

Seite 106:
im Original "als ob er gezeichnet wäre, – Alle betrachteten"
geändert in "als ob er gezeichnet wäre. – Alle betrachteten"

Seite 107:
im Original "Die Straßen, auf den halb zerflossener Schnee lag"
geändert in "Die Straßen, auf denen halb zerflossener Schnee lag"

Seite 177:
im Original "hier gewesen sein, ich werde bald sterben.«"
geändert in "hier gewesen sein, ich werde bald sterben.‹«"

Seite 183:
im Original "bloß auf Besuch käme ober ob er"
geändert in "bloß auf Besuch käme oder ob er"

Seite 201:
im Original "eilte zu der Schwester hin – »Paula«,"
geändert in "eilte zu der Schwester hin – »Paula,«"

Seite 228:
im Original "Es ist nicht großmütig einen Menschen"
geändert in "Es ist nicht großmütig, einen Menschen"

Seite 244:
im Original "und welch große Stücke der Dekan"
geändert in "und welch' große Stücke der Dekan"

Seite 245:
im Original "»Mein Freund Harteck –« er, nicht sie"
geändert in "»Mein Freund Harteck –,« er, nicht sie"

Seite 308:
im Original "zum Bezirksarzt von hier ernannt worden .."
geändert in "zum Bezirksarzt von hier ernannt worden ..."

Seite 309:
im Original "seine Züger gereifter geworden"
geändert in "seine Züge gereifter geworden"