The Project Gutenberg eBook of Der Weg ohne Heimkehr: Ein Martyrium in Briefen

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Title: Der Weg ohne Heimkehr: Ein Martyrium in Briefen

Author: Armin T. Wegner

Release date: August 16, 2017 [eBook #55371]
Most recently updated: October 23, 2024

Language: German

Credits: E-text prepared by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net) from page images generously made available by by the Google Books Library Project (https://books.google.com)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WEG OHNE HEIMKEHR: EIN MARTYRIUM IN BRIEFEN ***

The Project Gutenberg eBook, Der Weg ohne Heimkehr, by Armin T. Wegner

 

 

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Der Weg ohne Heimkehr

Zweite Auflage

Armin T. Wegner

Der
Weg ohne Heimkehr

Ein Martyrium in Briefen

Im Sibyllen-Verlag zu Dresden

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten. Copyright 1920 by Sibyllen-Verlag, G. m. b. H., Dresden.

Für ein greises geliebtes Haupt

Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen.

Ich blieb allein zurück.

Aus einem arabischen Liede.

Diese Briefe reden vom Tode, manche sind an Tote gerichtet. Als ich sie schrieb, wußte ich nicht, daß ich sie einmal zu einem Buche vereinen würde. Aber im Angesicht der Vernichtung, unter dem fahlen Horizont einer ausgebrannten Steppe, wurde unwillkürlich der Wunsch in mir wach, in diesen vielleicht letzten Äußerungen des Daseins über die persönlichen Freunde hinaus einer größeren, unsichtbaren Gemeinde etwas von dem zu sagen, das mich bewegte. Dieser Wunsch schlief auch dann nicht ein, als ich in schwerer Stunde aus den Mauern einer auf viele Meilen in die Einsamkeit verbannten Stadt jenen letzten Abschiedsbrief schrieb und nach menschlichen Überzeugungen mit dem Tode rechnen mußte. Damals wurden einige dieser Briefe in Deutschland gedruckt, wo sie leidenschaftliche Erregung erweckten; einer, den die Zensur aufgriff, verursachte später meine Rückberufung aus der Türkei. Dies, sowie die empörte Anteilnahme, die mich zu jenem unglücklichen Volke zog, dessen furchtbaren Untergang ich erleben mußte, waren der Grund, daß man mir nach meiner Rückkehr aus Bagdad die Bitte, auch weiterhin in diesem Lande zu verbleiben, das ich durch die Erhabenheit seiner heroischen Landschaft, die Fülle der erfahrenen Leiden liebgewonnen hatte, versagte. Als sich meine Abreise von Konstantinopel durch die Schwierigkeiten der Behörden verzögerte, wurde ich durch Soldaten der deutschen Militärmission verhaftet und bis zu meiner zwangsweisen Abfahrt auf einem Dampfer im Goldenen Horn interniert.

So blieben diese Briefe nicht nur Angelegenheit der Wenigen, für die sie bestimmt waren, sondern wurden zu dem Bekenntnis eines von Schmerzen erfüllten Weges, bemüht, einen Ausdruck zu finden für die Kämpfe des Menschen dieser Zeit, als noch der Glaube einsamer Seelen war, was viele jetzt laut auf den Lippen tragen. Zwar: die alte Erde umgibt mich wieder. Dennoch sollte auch ich von jener traurigen Straße, auf der ein unbekanntes Schicksal mich verschont hatte, nicht wieder zurückkehren. Ist es das eigene Herz, das ich verwandelt sehe? Ist es der Atem der getöteten Heimat, die mich vergeblich nach Menschen, Gedanken, Zuständen suchen läßt, die ich verlassen habe, um sie nie mehr zu finden?

Berlin, Januar 1919.

A. T. W.

Der Weg ohne Heimkehr

An die Großmutter

Konstantinopel, den 24. Oktober 1915.
In einem Hotelzimmer.

Wie lange liegt nun der letzte Tag wieder hinter mir, ich kann seine Küste nicht mehr schauen. Ich weiß nicht, war ich der Schwimmer, der sich mit einem jähen Ruck von seinem Strande losriß, oder war es das Land selbst, das sich ablöste von mir, das eine unendliche Weite zwischen uns stieß, während ich, die geliebte Küste vor Augen, hinter der Brandung kämpfe, die mich immer weiter hinausträgt. Noch sehe ich das Haar Deiner Schläfe, das sanfte, melancholische Blau Deines Auges. Aber hier ist nur noch Nebel, ich kann es nicht mehr unterscheiden.

Mein alter Kamerad! Denn so darf ich wohl sagen, nun wir zehn Jahre und mehr miteinander geschritten sind. Du freilich schon länger mit mir. Aber erst in späteren Tagen fingst Du an, mir jene tiefe Liebe entgegenzubringen, hinter der mein Dank nur immer zu weit zurückbleibt, vor der alle Hoffnungen und Ergebnisse meines Lebens nur die Früchte Deiner Mühen und Zärtlichkeiten sind. Diese Liebe, die es dazu gebracht hat, daß eine alte Frau, mit den unendlichsten Augen, die ich kenne, weißhaarig und schon einmal vom Tode umfangen, immer das Glück und die Weisheit meiner Jugend gewesen ist.

Ich habe den Vater wiedergesehen. Ich fand ihn, eine alternde Ruine, dem Umfallen nahe. Aber dies war es nicht allein. Zwei Stunden ehe ich reiste, der Wagen war bestellt und wir saßen beim Nachtmahl, schwankte der Vater, von einer plötzlichen Übelkeit befallen, gegen den Tisch. Eine Leichenblässe stieg ihm mit schreckhafter Geschwindigkeit in das Gesicht. Mutter und ich sahen ihn an. Wir saßen ganz ruhig. In der Tiefe meines Herzens war ein Geräusch, als hämmerte jemand unten im Keller. Wir dachten beide dasselbe, wir dachten daran, wie Großvater gestorben ist. Ich fühlte eine grauenhafte Leere durch meinen Körper gehen. Aber es war nur ein Augenblick, dann ging es vorüber, noch einmal vorüber. Wir legten den Vater auf das Sofa und ihm wurde bald besser. Aber wir hatten alles in dieser einen Sekunde gefühlt. Mutter begann unter der Last dieses Schreckens zu weinen. Hatte sie ihn nicht einst geliebt? Ich aber fühlte, was ich immer gewußt habe, daß dieser Tod nur ein Schrecken, kein reiner Schmerz für mich sein wird. Sollte ich die Ursache meines Daseins nicht lieben? Sollte ich die Ursache meines Daseins nicht hassen? Ich sah das Gesicht meiner Mutter, die eine Sekunde lang um dieses Leben gebangt hatte, und eine furchtbare Angst ergriff mich. Der Arzt kam. Aber ich konnte meine Gedanken nicht zusammenhalten, ich verstand nicht, was er sagte, und blickte wie ein Abwesender an ihm vorüber.

Man sagte mir, ich sollte reisen. Erleichtert atmete ich auf. Welch eine furchtbare Marter wäre es mir gewesen, um dieses kranken Vaters willen zu bleiben. Wie gerne hätte ich um eine Stunde an der Seite dieser schmerzzerrissenen Mutter gebettelt. Aller Besinnung beraubt rannte ich durch die Wohnung wie durch die Räume eines brennenden Hauses und schaute mich voll Verzweiflung um, was ich noch aufraffen und mitnehmen könnte. Mein Auge fiel auf das Antlitz meiner Mutter. Aber dies war kein Bild, das ich in die Hand nehmen und forttragen konnte. Jetzt löste es sich ab von mir, schwankte, ein tränenbeladener Kahn, in den Abgrund hinunter. Mein Vater stand neben mir, aber es war nicht, als stände ein Mensch an meiner Seite, ein Turm vielleicht, ein wankender Torbogen, durch dessen Öffnung ich unaufgehalten hindurchschritt. Er hat mir kein Wort der Liebe zum Abschied gesagt, und ich ging doch hinaus, um bei dem Tode zu wohnen. Ich streichelte über seine runzlige Wange, wie man über die Risse eines alten Topfes streicht, ob man sie noch einmal zukitten könne, und fühlte, wie unfähig ich war, diesem alternden Manne noch jemals eine Freude zu bereiten.

Ich fuhr alleine zum Bahnhof. Fuhr in die Nacht hinaus, die grauenvolle Ruine dieses Gesichtes im Gedächtnis und das tränenüberströmte Antlitz meiner Mutter (o du über alles geliebte Landschaft im Regentag!), die in diesem Augenblick zwei Menschen zu verlieren fürchtete. Ich legte meinen Kopf zwischen die Soldaten auf die Holzbank, froh, Deutschland wieder hinter mir zu haben, und auch der Herzschlag des Zuges, der mich sonst noch in den traurigsten Stunden, das Rollen der Räder und die wandernde Landschaft unter mir, mit Freude erfüllt hatte, konnte mir keine Erlösung bringen. Auch in meiner Seele war nichts als Lärm und Räderrollen. Ich war selbst nur ein Rad, mit rasender Geschwindigkeit um seine eigene Achse gedreht, und in diesem trostreichen Bewußtsein ging alles Denken unter.

Die Reise, durch Mühsal und Häßlichkeiten auseinander gezerrt, dehnte sich über viele Tage, und je länger sie währte, um so mehr wuchs der Abgrund, der sich zwischen mich und Deutschland stellte. Erst heute habe ich das Buch geöffnet, das du mir mitgegeben hast, habe die Bezüge für das Kopfkissen gefunden, Deine Zeilen gelesen. Heute nacht werde ich darauf schlafen. Wieder sehe ich Deine großmütterliche Stirn sich auf mich neigen. Wie das Gaslicht auf der schwarzen Seide Deines Kleides glänzt. Fühle die weiche Blüte Deines Mundes an meinem Kinn. Mein alter Kamerad, warum wurdest Du, fünfundsiebzigjährig, nicht nach mir geboren, um an meiner Seite, meine Gefährtin, noch lange über diese Länder zu schreiten? Einmal wirst Du sterben und ich werde nicht bei Dir sein. Einmal werde ich sterben und Du wirst nicht bei mir sein. Ach, der Krieg hat alle Brücken zerbrochen. Zu sterben ist die letzte Freude geblieben, aber auch diese noch ist nicht ungetrübt. Der erste meiner Freunde hat die Stufe des Todes betreten, der zweite den Fuß auf seine Schwelle gesetzt. Ich fühle, wie sich die Wage mit Toten füllt. Werde ich Leben genug in mir haben, um allein in der anderen Schale das Gleichgewicht zu halten? Doch ob ich auch hier an der alten Straße der Glückseligkeit zwischen trojanischen Münzen und türkischen Soldatengräbern verfaulen sollte, ein betrogener Liebhaber des Lebens, glaube nicht, daß ich Dir verloren ginge, bin ich doch nur, Du Gütigste über der Erde, ein Enkel, ein Teilchen, das Ende eines Knöchelchens von Dir.

Dein junger Kamerad.

An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten

Pera, den 7. November 1915.
Mit dem Blick auf das Goldene Horn.

Wenn du diesen Schlüssel wieder in Händen hältst, meine Liebe, so denke daran, daß ich ihn an jenem letzten Tage bei mir getragen habe, als ich mit Dir eine finstere Treppe hinaufstieg, um auf einer kalten Diele die Wärme Deines Leibes zu finden. Durch so viele Länder, durch so viele verschiedenartige Stunden des Tages habe ich ihn bei mir getragen, das Letzte, was ich von Dir besaß, und jedesmal, wenn ich ihn zufällig in meiner Tasche fühlte, weckte er alle heißen, o so greifbar nahen Bilder von neuem in mir auf, daß ich ihn lieb gewonnen habe und mich nur ungern von ihm trenne, als wäre dies nicht nur der Schlüssel zu Deinem Hause, sondern auch Deines Herzens und der Pförtner aller Glückseligkeit. Das erste Mal fühlte ich ihn bei mir, als ich in Budapest in einem Kaffeehaus einer schwarz gekleideten Dame gegenüber saß, die mit ihrem Schoßhund spielte: „O mon Joujou, que veux tu donc? As tu faim? Denn Sie müssen wissen, mein Herr, er ist ein kleiner Franzose. Er ist aus Paris geflohen und hat Lüttich mitgemacht. Ah mon petit, donne moi un baiser ...!“ Und sie reichte ihm ein Stückchen geröstetes, mit Butter bestrichenes Brot. In Bukarest aber legte ich den Schlüssel wie eine Waffe vor mir auf den Nachttisch, ängstlich auf jeden Schritt in den weiten Hotelgängen lauschend, erschrocken wie ein Spion, verhaftet zu werden, aufgespießt von den Blicken der Vorübergehenden, und nach einer Bahnfahrt, auf der ein Franzose ohne Aufhören mit gehässigem Lachen das Bild unseres Kaisers in den Schmutz zog. „Ah, le Kaiser, le fou“, sagte er, sich den Schnurrbart streichend, fett und widerwärtig wie ein Flaubertscher Landpächter.

Schließlich ließ ich den Schlüssel auf der Galatabrücke in der hellen Sonne funkeln, als ich Dein liebes Bild und die ersten Zeilen von Dir in der Hand hielt. Nun, hier ist er, Erinnerung, Glücksbringer, Waffe und Reisebegleiter, ein kleines eisengepanzertes Schiffchen, das liebebeladen in den Hafen zurückschwimmt, das Dir Grüße und Dank bringt für jene von Dir so rührend mit eigener Hand gebundenen portugiesischen Briefe, die ich so sehr liebe und die mich immer von neuem in Erstaunen setzen, daß es in der Tat Frauen gegeben hat, die zu lieben wußten. Ach, ich könnte mir vorstellen, daß Du, des Schlüssels beraubt, die ganze Zeit über gefangen in Deinem Hause gesessen hast, nur mit meinem Schatten lebend, und dieser Gedanke könnte mich fast bewegen, ihn auch jetzt bei mir zu behalten und weiter mit in die Wüste zu nehmen, wohin ich in diesen Tagen reise. Über das schimmernde Wasser blickend, neige ich mich in der heißen Sonne über die Brüstung, und nachdem ich so viele kostbare und unwiderbringliche Schätze in den grundlosen Brunnen des Frauenherzens hinabgeworfen habe, überkommt mich eine warme Verlockung, in stiller Hingegebenheit nichts zu schenken und alles von Dir zu empfangen.

An die Eltern

Konstantinopel, den 2. Nov. 1915.
Geschrieben in der warmen Sonne des Herbstes.

Wenn Euch diese Zeilen erreichen, Ihr Lieben, werde ich schon weit von diesem Lande sein. Ich reise nach Bagdad. Gestern bin ich in die Militärmission eingetreten, man hat mich all meiner Chargen beraubt, und ich bin nichts als ein einfacher Sanitätssoldat, mit einer so niedrigen Löhnung, daß ich nicht weiß, wie ich leben soll. Ich werde zwischen türkischen Soldaten schlafen und mich von Abfällen nähren wie eine Ratte. Dennoch habe ich Glück gehabt. Ich bin dem Stabe des Feldmarschalles von der Goltz als Krankenpfleger zugeteilt. Wie sehr habe ich mich um diese Stelle bemüht. Fünf Tage lang suchte ich meinen beschleunigten Puls durch Pantopon und Tinktura Valeriana zu beruhigen, um tropentauglich befunden zu werden. Dabei jagte ihn meine innere Erregung, die fieberhafte Begierde, den Weg dieses Krieges wenigstens für mich stets aus eigener Kraft und nun wieder neu zu gestalten, jedesmal über achtzig Schläge hinauf, sobald ich die Treppe des Kriegsministeriums betrat.

Dennoch: es ist mir gelungen. So behalte ich das Ruder meines Lebens in der Hand. Ich werde Bagdad, werde den Tigris, Mossul und Babylon sehen. Ich bin mir wohl bewußt, welchen Schritt ich getan. Ich habe aufgehört, ein freiwilliger Pfleger zu sein, bin ein Soldat geworden wie andere, meine Seele ist vogelfrei, man kann mich nach Deutschland und in die Gräben von Soissons schicken, man kann tun mit mir, was man will. Schließlich kann in einem so langen Kriege auch ich nicht ewig dem dunklen Lasso entgehen, der ständig um unser Haupt schwirrt. Denn niemand kann die Wechselfälle des Lebens voraussehen, die mich immer gerüstet finden, wenn es sein muß auch zum Tode.

Aber, wenn es dahin kommen sollte: ich sterbe für mich, nicht für das Vaterland. Wie unsagbar traurig bin ich, daß ich es nicht um der Menschheit willen tun kann. Dennoch habe ich diesen Schritt getan, habe mein Leben eingesetzt für die Schätze meiner Seele. Wie glücklich ich bin. In einer Woche werden wir reisen. Seht ihr jene Kavalkade von Reitern, mit fliegendem Kalpak, mit klirrendem Säbel, schaukelnden Epauletten und goldenen Schnüren über der Brust? Wie sie am Rande der Wüste hinreiten, jetzt durch Wasser, jetzt einen Hügel hinan. Unter ihnen ist einer von schlanker Gestalt, groß, den Kopf ein wenig vornübergebeugt. Wie gut ihm die Uniform sitzt, ist es einer der Offiziere? Nein, er trägt keine Abzeichen, geht nur wie ein Gemeiner. Es ist Euer Sohn. Er ist glücklich, auch hier das Leben als ein Untergebener kennenzulernen; denn nie sehen wir die guten und schlechten Seiten der Menschen so scharf, als wenn sie unsere Vorgesetzten sind. Mit zitternd geöffneten Augen folgt er ihnen, immer gewillt zu verzeihen, der Liebe zu dieser Erde voll, und immer bereit, sich vor dem Leben zu beugen.

Noch gestern bei Euch, jetzt an diesem Tische. Noch eben in dieser Stadt, nein, schon wieder fort, auf anderer Straße. Wo heute? Wo morgen?

Deutsche Militärmission, Sanitätssoldat.

An eine Schwester von Gül-Hane

Marga v. Bonin, ertrunken am 14. Oktober 1917 in der Treskaschlucht.

In einer Bretterkantine zu Ras-el-Ain,
den 26. November 1915.

Meine liebe Diestel und Ihr andern Blumen im Rosenhaus! Noch sehe ich Sie in weißen Hauben durch die Säle schreiten wie durch einen leuchtenden Garten. Aber die Rosen, die unter Ihren Händen aufblühen, sind blutende Wunden. Welch ein trauriger Brief ist das, von einer immer gut gelaunten, lustig zerzausten und höchst garstigen Diestel? Man reichte ihn mir in Bosanti in den Zug, und wieder sah ich Ihre etwas bestürzten Gesichter vor mir, mit denen Sie mich zur Bahn begleiteten.

Heute sind wir über den Amanus gefahren, vor zwei Tagen über den Taurus. Nur von spärlichen Kiefernwäldern bewachsen, erhob sich seine steinerne Masse wie die unter zu kurzer Decke sich dehnende, unendliche Nacktheit eines sonnenverbrannten Bettlers. Als wir im Lastauto bis zur Seekrankheit hin und her geschüttelt, bei fast vollem Mond in die geisterhafte zilizische Ebene hinabflogen, den Staubschweif der Landstraße hinter uns herziehend, deutete jemand über den Rauch nächtlicher Zeltdächer, die einsam in der Ebene standen, auf einen hellen Streifen in der Ferne, wo die Flammen verbrannter Baumwollstauden in die Finsternis leuchteten. Dort mußte das Meer liegen. Und wie ich Abschied nehmend zum letzten Mal seine Wellen in der Ferne erblickte, da schickte ich Ihnen so viele Grüße in Ihr meerumgürtetes Haus und dachte wieder: Sie haben doch das Meer, da kann es Ihnen nie wirklich schlecht gehen! Wie schön, wenn am Abend die schwarzen Winterstürme heraufkommen und die Seelen der abgestorbenen Hunde von Oxia herüberbellen. Sich dann in dieser dunklen Stunde eine Kerze anzuzünden (liebe Kerze, liebe kleine Seele ...), bedarf es mehr, um glücklich zu sein?

Sie sagen, wenn gute Wünsche etwas vermöchten, könnte mir nie ein Unglück zustoßen, und fast will ich glauben, daß Sie recht haben. Ich fühle, daß ich lange nicht so lebendig gewesen bin, wie in diesen Tagen, trotz alles Elends, das mich umgibt. Denn die Ränder aller Straßen sind mit den jammernden und hungernden Gestalten armenischer Flüchtlinge besetzt, durch deren wimmernde, schreiende, bettelnde Hecke, aus der sich tausend flehende Hände recken, unsere Seelen ein schmerzliches Spießrutenlaufen beginnen.

Eben, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich von einem Gang durch das Lager zurückgekehrt. Von allen Seiten schrien Hunger, Tod, Krankheit, Verzweiflung auf mich ein. Geruch von Kot und Verwesung stieg auf. Aus einem Zelte klang das Wimmern einer sterbenden Frau. Eine Mutter, die an den dunkelvioletten Aufschlägen meiner Uniform meine Zugehörigkeit zur Sanitätstruppe erkannte, eilte mit erhobenen Händen auf mich zu. Mich für einen Arzt haltend, klammerte sie sich mit letzter Kraft an mich Ärmsten, der ich weder Verbandmittel noch Arzeneien bei mir trug und dem es verboten war, ihr zu helfen.

Dies alles aber wurde übertroffen durch den furchtbaren Anblick der täglich wachsenden Schar verwaister Kinder. Am Rande der Zeltstadt hatte man ihnen eine Reihe von Löchern in die Erde gegraben, die mit alten Lappen bedeckt waren. Darunter saßen sie, Kopf an Kopf, Knaben und Mädchen in jedem Alter, verwahrlost, vertiert, verhungert, ohne Nahrung und Brot, der niedrigsten menschlichen Hilfe beraubt und vor der Nachtkälte schaudernd aneinander gedrängt, ein kleines Stückchen glimmende Holzasche in der erstarrten Hand haltend, an dem sie vergeblich versuchten, sich zu wärmen. Einige weinten unaufhörlich. Ihr gelbes Haar hing ungeschnitten über die Stirn, ihre Gesichter waren von Schmutz und Tränen verklebt. Andere lagen im Sterben. Ihre Kinderaugen waren unergründlich und von Leiden ausgegraben, und obwohl sie stumm vor sich hinblickten, schienen sie doch den bittersten Vorwurf gegen die Welt im Antlitz zu tragen. Ja, es war, als hätte das Schicksal alle Schrecken der Erde an den Eingang dieser Wüste gestellt, uns noch einmal zu zeigen, was uns erwartet. Entsetzen ergriff mich, daß ich klopfenden Herzens aus dem Lager eilte, und obwohl ich auf flacher Erde dahinschritt, erfaßte mich Schwindel, als bräche der Boden zu beiden Seiten in einen Abgrund zusammen.

Die Täler aller Berge, die Ufer aller Flüsse sind von diesen Lagern des Elends erfüllt. Über die Pässe des Taurus und Amanus zieht sich dieser gewaltige Strom eines vertriebenen Volkes, jener Hunderttausende von Verfluchten, der um den Fuß der Berge brandet, um, schmäler und schmäler werdend, in unabsehbaren Zügen in die Ebene hinabzugleiten und in der Wüste zu versickern. Wohin? Wohin? Dies ist ein Weg, von dem es keine Heimkehr gibt. Und ihnen nach blicke ich auf den Weg, den ich selber beschreiten werde, und denke mit einer mir ungewohnten und merkwürdigen Härte des Gefühls: diese erfüllen ihr Schicksal, erfülle du das deine!

So sitze ich denn in dieser offenen Bretterbaracke, vor der langhaarige Kinder mit wilder Gier die fortgeworfenen Schalen der von uns verzehrten Orangen verschlingen, sitze die langen Abende auf den kleinen Bahnhöfen ohne Licht in den Eisenbahnzügen und führe mit den Kameraden die heitersten Gespräche über den Tod. Da sind alte Farmer aus Südwest unter uns, der Gesandte für Persien, ein Stabsoffizier aus Chile. Männer, die ihr halbes Leben in China oder in den Kolonien verbrachten, deutsche Kaufleute aus Basra und Teheran. Die Nachricht, daß die Schamas die Euphratlinie gesperrt halten, hat sie in die munterste Laune versetzt; sie erzählen denen, die zum ersten Male dieses Land betreten, von seinen vielen und mancherlei merkwürdigen Gefahren. Die reichhaltigste Speisekarte schöner Todesarten wird aufgetischt: Beduinen werden dich, an ihren Roßschweif gefesselt, durch die Steppen schleifen. Nichtsahnend wirst du zu einem Bartscherer gehen und dich mit tödlicher Seuche anstecken. Die schönen Weintrauben, die du verzehrst, lassen dich an Cholera erkranken. Aus der Erde unter deinem Zelt kriechen Tausendfüßler und Skorpione. Eiternde Beulen werden dein Gesicht zerfressen, sie entstellen dir Nase, Stirn und Mund. Kurden werden dir die Eingeweide aufschlitzen, Perser die Ohren abschneiden. Nackt und zerfleischt flüchtest du todkrank nach Bagdad oder dein Leichnam bleibt an der Straße liegen, den Schakalen zum Fraß. Und das alles erzählt man dir mit lächelndem Auge, als wäre der Tod das heiterste Schaustück der Welt. Und auch du lächelst, gehst schlafen und beschließt im stillen bei dir achtsam zu sein, kein ungekochtes Wasser zu trinken, um im nächsten Augenblick zu entdecken, daß man dein Kochgeschirr in einer übelriechenden Lache reinigt, die die Flüchtlinge mit ihren Exkrementen beschmutzt haben.

Ja, liebe Schwester, man muß an das Glück seines Schicksals glauben! Darum fürchten Sie nicht für mich, wenn ich jetzt so fremden und ungewohnten Dingen entgegengehe, und vergessen Sie das ein wenig durchscheinende Gesicht, mit dem ich Abschied von Ihnen nahm. Erinnern Sie sich stets daran, daß es Pflanzen mit blassen Blättern gibt, die, wenn sie auch oben welk aussehen, an der Wurzel noch frische Kräfte haben. Zu diesen gehöre ich.

Daß Sie hier wären! Den Tag über mit mir im Sattel zu sitzen und in die Steppe hinauszureiten, das wäre ein Leben so recht nach Ihrer Lust und ein Gedenken Ihrer nordischen Heide. Ja, hätten Sie es wahrgemacht und wären ein Junge geworden. Aber nun ist es zu spät, und wenn ich Ihnen auch ein paar Männerhosen schickte, so lang, daß sie selbst für eine hagere und ausgewachsene Diestel reichten ... es wäre doch zu nichts nütze.

8 Uhr morgens, drei Stunden vor Aufbruch.

Traum auf dem Kelek

Auf dem Tigris,
den 10. Dezember 1915.

Was meinen Sie nun, daß ich hier bin, an einem so sagenhaft schimmernden Brunnen aller Zeit? Seit zwei Tagen treiben wir den Strom hinab. Unter Schilfdächern, auf dem bewegten Boden luftgefüllter Schläuche, Hütten und Menschen auf einer flachen Hand. Zwischen Hühnern, Kisten und Wachtsoldaten liege ich auf der Matte, die Glieder vom langen Ritt durch die Wüste schmerzend, noch fröstelnd von der Kälte der eisigen Nächte, die das Wasser in unsern Schüsseln gefrieren ließ. Und das Floß dreht sich, ein lose auf den Wellen treibendes Blatt, bald hier, bald dort das Ufer berührend, um langsam weiter den Strom hinabzugleiten.

Hier also sprang die Welt aus dem Mutterschoß. Aber die Brüste sind lange versiegt, die so fruchtbare Milch gaben, und welcher Fluch muß diese Erde getroffen haben, daß sie so voller Erbarmen um Wasser bettelt. Und dennoch: ex oriente lux. Denn hier bin ich und meine Sonne leuchtet. In ungeheurer Stummheit gleitet die Landschaft vorüber. Weite Steinhalden, ausgetrocknete Flußbetten, die Luft mit Schwefel erfüllend, Urweltbilder, Sonnenuntergänge, schwarz, schwarz, blaurot, Berge wie Sarkophage. Und ich warte, warte: wann wird dieses Land seine Lippen öffnen, die der Staub verklebt hat, die welk wurden von Jahrhunderte altem Schweigen, um zu mir zu reden?

Wenn es dunkelt, binden wir das Floß an einen Stein am Ufer, stolpern ein paar Schritte in das finstere Land. Hier sitzen Soldaten um ein Zelt, eine Flamme loht in die Dunkelheit. Und wieder lege ich den Kopf zum Schlafe nieder. Nun aber treten aus dem verlassenen Haus die Gedanken, treten aus der Tür und beginnen ihre Wanderung. Sie entweichen über das Meer. Ich bin zu Hause, ich begrabe meinen Vater (die Vorhänge der Fenster sind herabgelassen). Ich bin bei meiner Geliebten, sie gibt sich mir hin, zitternd besteige ich ihr Lager. Doch welche plötzliche Erregung ergreift mich? Eifersucht verbrennt meine Seele. Bald bin ich in einer Stadt, die vom Feinde erobert wird. Ich werde gefangen genommen, erschossen als Spion. Es ist die letzte Stunde meiner Großmutter, schluchzend schreite ich hinter ihrem Sarge her.

Nun ist es Morgen. Aber wie seltsam blickt dieses Haus der Gedanken; Staub liegt auf der Schwelle seiner Tür. Ich fühle, wie ich müde geworden bin, so endlose Fernen liegen hinter mir. Lautlos gleitet das Floß weiter den Strom hinab. Es ist Tag. Aber sollte ich nicht jetzt erst zu schlafen beginnen?

An Carl Hauptmann

Bagdad, den 25. Januar 1916.
Diesseits des Tigris.

Glauben Sie mir, mein verehrter väterlicher Freund, daß ich es gewiß nicht weniger bedauert habe, diesmal auf die Pilgerfahrt nach dem geliebten Hause verzichten zu müssen und wieder in die Wüste zu ziehen, ohne in Mekka zu beten. Eine Stunde an Ihrer Brust, welche Paradiese trüge der Mund nächtlicher Gespräche in diese fremden und durchaus nicht eintönigen Tage! Ach, ich höre Sie reden, sehe, wie Sie Ihr Gesicht im Schein der hohen Lampe nach vorne beugen, mir aus einem neuen Werke vorzulesen, sehe, wie Sie die Augen schließen, mir zuzuhören, wenn ich selber erzähle. Aber statt dessen floh ich, von dunklen Bedrückungen verfolgt, aus Deutschland. War ich nach Hause gekommen, um neue Schmerzen zu den alten zu tragen? Man will es mir zum Vorwurf machen, daß ich die Güte verkenne, die mir aus so vielen Herzen daheim liebend entgegenkam. Aber vielleicht werden Sie es verstehn, wieviel leichter uns die Heimat verwunden kann als die Fremde.

Ich habe Frau Maria wiedergesehen. Sie ist bei mir in meiner alten Wohnung gewesen, die nun, zusammengewürfelt, bunte Dinge in einem Spielzeugkasten, hinter der verbotenen Tür verschlossen liegt. Ein höchst ernsthaftes, tyrannisches Spielzeug, und vielleicht, wenn Frau Maria das stumme Märchen der Möbel zu deuten weiß, hat sie auch Ihnen davon erzählt. Aber welche Schicksale liegen zwischen gestern und heute! Welche himmlische Heiterkeit erfüllt meine Seele! Jede Krankheit ist eine Brücke, die am Tode vorübergeht. Und so schritt ich durch diese letzte (ich war an Typhus erkrankt), wie ein gepanzerter Erzengel das Fegefeuer teilend, griff unter mir in die Flammen hinab, um auch noch fremde Seelen mit mir gerettet ans Licht zu tragen. Es waren die seltsamsten Fiebernächte, deren ich mich erinnern kann, und verwundert betrachte ich die Schätze, die sie mir zurückließen, ein Schwammtaucher und Perlenfischer, der erst an der Oberfläche erkennt, was ihm die Tiefe gebracht hat. Ich habe einen ganzen Umkreis geschrieben, eine vielstimmige Vision des Leidens, wie ich sie im Herbst des ersten Winters in Polen erlebte. Daneben eine Anzahl Gedichte, die nun schon alle der „Straße mit den tausend Zielen“ angehören. Daß ich ein Buch Erlebnisse aus der Türkei in Arbeit nahm, erzählte ich Ihnen schon, eine Sammlung von Tragik, Buntheit und Ironie, auch eine Frucht dieser Krankheit. Aber das sind kleine Anfänge gegenüber weitliegenden Plänen, die ich nur flüchtig aufzeichnen konnte, Arbeiten für spätere Jahre.

Glauben Sie übrigens nicht, daß diese Dinge alle mit dem Kriege zusammenhängen; was wir ständig vor Augen haben, steht unserm Herzen oft am fernsten. Und wie will ich dann, wenn ich heimgekehrt bin, mir Ihren Fleiß zum Vorbild nehmen! Wie will ich mir ständig jene Unermüdlichkeit und Strenge vor Augen halten, jenen grausamen Fleiß, der das Glück der Schaffenden ist, jene einsame Lampe in der Winternacht Ihres Gartens, hinter der Ihr Haar grau wurde, auf daß das Werk sich gestalte, zu dem wir berufen sind. „Und nur ein Fremdling sitzt mit Euch bei Tische ...“ wie sehr habe ich beim Schreiben dieser Zeilen Ihrer gedenken müssen. Übrigens ertappte ich mich neulich beim Zeichnen an dem Plane eines Bauernhauses, und ich glaube, es sollte in Ihren Wäldern stehen. Auf daß ich immer den Atem Ihrer Emsigkeit fühle! Wie in all den andern Jahren, haben Sie auch in diesem blutigen Herbste Europas die friedliche Kelle nicht aus der Hand gelegt. Schon winkt der Richtkranz, mit bunten Bändern geschmückt, über dem neuen Hause, und gewiß ist das Dach inzwischen lange vollendet. Wo ist Tobias Buntschuh? Er erscheine! Ich habe nach Deutschland geschrieben, daß man mir Ihre Bücher schicken soll, und wenn ich schließlich all die papiernen und weisheitsvollen Freunde, die sich auch hier in meiner Kiste sammeln, nicht mehr mit mir schleppen könnte, nirgends gäbe es so gute Gelegenheit, sie fremden Menschen zu Gefährten zu geben, als hier. Oder meinen Sie nicht, daß des Tobias Seele auch aus der Bibliothek der deutschen Schule in Bagdad zu denen sprechen könnte, die Ohren haben zu hören?

Glauben Sie nicht, daß dieses öde und ausgehungerte Land leer sei an edlen und empfängnisreichen Herzen! So begegnete ich eines Abends in Aleppo im Hause eines deutschen Kaufmanns der wundersamsten Frau, die ich seit Jahren getroffen. Geistreich, liebenswürdig und bestrickend, eine heimliche Herrscherin des Landes, war sie weit über die Grenzen ihrer Stadt bekannt und hielt selbst die türkischen Behörden in ihrem Bann. An dem Tische ihres kleinen, mit den kostbarsten alten Teppichen ausgeschmückten Salons, deren buntgeringeltes Ohr unsere Worte trank, saß Professor Koldewey, der Entdecker des wiederentstandenen Babylon, und der alte Feldmarschall von der Goltz. Und wer, der uns hier versammelt sah, hätte glauben mögen, daß draußen vor den Toren der Stadt armenische Leichen lagen und daß wir in Asien saßen. Mühsam erhob sich der Feldmarschall aus dem tiefen Sessel, um mir die Hand zu reichen. Wie rührte mich seine Bescheidenheit, wie sehr beglückte mich der Wohllaut seiner Stimme, und oft denke ich, so müßte mein Großvater sein, wenn er noch lebte. Ist dies ein altes, unbekanntes Glied der Verwandtschaft, mir durch Blut und Gebärde vertraut, nur daß ich ihm nicht früher begegnet bin? Immer ergreift Verehrung mein Herz, wenn ich einen Menschen schaue und fühle, daß eine starke Seele in diesem Gebäude wohnt. So weiß ich mich auch ihm insgeheim verbunden, durch eine Sprache, die jenseits aller Worte wohnt, obwohl er der greise, immer rüstige und von allen verehrte Feldmarschall ist und ich nur ein einfacher Unterleutnant bei seinem Stabe. Aber ist es nicht immer die Wahlverwandtschaft unserer Seele gewesen, die stärker als alle Bande des Blutes in unserm Leben den Ausschlag gab? Und wird diese Erfahrung Lügen gestraft, weil die Wahl des Blutes oft auch die Wahl der Seele ist? So fand ich auch Sie, mein verehrter Freund, dessen Liebe und Zartheit mich immer wieder beglückt.

Wie gut ist es übrigens, daß ich in Ihrem Hause es so vortrefflich gelernt habe, Orangen zu essen, nun da sie so reichlich auf meinen Tisch regnen. Oh, ich sehe Sie im abendlichen Lichte des Zimmers das Messer schärfen und mit mir über die „Apfelsinen-Seele“ plaudern. Unter einem halben Dutzend bei jeder Mahlzeit lasse ich nicht mehr mit mir rechten, und da ich bei jeder zerschnittenen Schale einmal in Gedanken bei Ihnen bin, können Sie leicht an den zehn Fingern Ihrer Hände zählen, wie oft ich am Tage an Sie denke.

An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten

Bagdad, den 18. Januar 16.
Diesseits des Flusses.

Wie glücklich ich bin, geliebte Frau. Die Post hat mir gestern so gute Briefe gebracht. Und wenn ich jeden abwechselnd in die Hand nähme, so wüßte ich nicht, welcher mir schwerer wiegt. Nun stelle Dir vor, wie ich meine Kerze entzünde, die in einer kleinen, mit Erde gefüllten Büchse steckt, und wie ich in die Kissen gelehnt mit einem alten Federmesser langsam die Umschläge aufschneide. Jetzt falte ich den Bogen auseinander, ein weißes Gesicht. Aber hier ist einer, auf dem laufen die Zeilen Sturm, und wie sie mit Heeresschritten auf mich loseilen, lasse ich mich zum neunzigsten Mal erobern, obwohl ich doch eine längst eingenommene Festung bin.

Draußen ist eine große Unruhe in der Natur. Die hohen Rizinusstauden vor meinem Fenster rascheln mit ihrem dürren Blätterhemd, der Regen rast mit eisernen Hufen auf das Dach, und die Schakale heulen und kämpfen mit den Hunden wie jeden Abend, wenn sie an den Tigris kommen, um Wasser zu trinken. Mein Gesicht aber ist ganz überströmt von Liebe, und ich bin so überwältigt, als hättet Ihr alle zugleich Euer Herz auf meine Brust gelegt. Ich bin richtig ein wenig müde, daß ich mich zurück auf das Krankenbett lehne, um auszuruhen. Nur nichts sagen, nichts reden, dann will ich Dir auch gestehen, daß ich wieder krank gewesen bin. Du wirst nicht klagen, Geliebte. Soll ich Dich um Verzeihung bitten dafür, daß ich krank war? Es ist so wunderbar, wie geduldig ich geworden bin; wo ist mein heißes, unzufriedenes Herz geblieben? Und doch weiß ich nicht, weshalb die Gifte immer von neuem kommen, um in meinem gemarterten Leibe zu wohnen. Oft scheint es mir, als wäre dies eine stille Rache, welche die stumme und leidende Natur an uns nimmt. Es ist die Pflanze, die den Menschen besiegt.

Zwei Tage vor unserer Ankunft lag ich in der Rohrhütte auf dem Kelek und fieberte. Das Floß drehte sich, mein armer Kopf drehte sich, zwei Kreisel, die ineinander gingen, endlich erblickte ich durch die offene Tür in der hellen Morgensonne den gewundenen Turm von Samara. Am Abend waren wir in Bagdad. Als ich aus dem Zuge stieg, fand ich mich unter Palmen. Palmen — dachte ich und daß das Paradies im Schatten ihrer Schwerter ruhte. So elend ich war und obwohl eine kalte Nacht vom Flusse wehte, empfand ich es doch wie eine tiefe Erquickung, als müßte aus ihrem blauen Schatten Kühlung auch auf meine fiebernde Stirne regnen. Ich trat in das Haus des Betriebsleiters der Bagdadbahn und fand eine deutsche Mutter mit ihren Kindern um die Lampe versammelt. War das nicht genug, um allen Schmerz zu vergessen? Wäre ich nicht noch einmal zwanzig Tage durch die Wüste gereist, um das Wunder blonder Haare und blauer Augen zu schauen? Am nächsten Morgen wurde ich in das Krankenhaus der Bahn gebracht. Ich fand ein bereitetes Bett und einen weißgedeckten Tisch mit blühenden Astern. Es war der siebenzehnte Dezember und die Sonne schien durch die offene Tür.

Hier habe ich gelegen. Weihnachten kam, das Fieber hatte nachgelassen, und man sandte mir gebratene Pute, Fisch und blühende Rosen ans Bett. Hier war ein kleines Bäumchen aus Kiefernzweigen, zwei Briefe, eine Flasche Champagner. Jemand hatte mir eine alte Kaschmirdecke geschenkt, die ich auf mein Bett über die Füße breitete, um sie liebevoll immer wieder zu betrachten. Mein Auge verlor sich in den Farben ihrer verschlungenen Muster wie in den Wegen des lieblichsten Gartens. Die Kerzen flammten, ihre kleinen weißen Seelen zitterten mir entgegen, nun entfalteten sie ihre Schmetterlingsflügel, und der Duft verbrannter Tannenzweige führte mich über so viel Jahre in die Zeiten zurück, da noch das Wunder dieser Nacht für mich nicht erloschen war. Dazu aß ich die kleinen Lebkuchen, die Du mir geschickt hattest und die ich so lange Wochen mit mir durch die Wüste trug. „So viel Liebe! So viel Liebe!“ dachte ich, und wieder überströmte es mich. Wie viel hatte doch diese arme und geschändete Erde noch an Güte zu geben, wie reich war ich! Ja, einen Augenblick schien es mir, als wäre die Erde nur darum des Grauens und Blutes voll, weil ich allein alle Liebe der Welt im eifersüchtigen Herzen verschlossen hielte.

Zwei Tage vor Neujahr stand ich das erste Mal auf. Mit zitternden Füßen ging ich um das Haus; aber es war zu viel. In der Nacht überkam mich ein neuer Anfall. Gleich einem abgerissenen Fetzen Leinewand flatterte der Geist aus diesem schmerzenden, von tausend glühenden Hämmern geschlagenen Kopfe davon. Und während nasse Tücher meine Stirn kühlten, während ich von helfenden Händen in das Badewasser gehoben wurde, zog aus meinem Haupte der Schwarm der Gedanken aus wie die Wolke der ungeborenen Geister, die ausbrechend das Haus der Schöpfung verlassen. Bis das Morphium kam und die Welt in Musik erlosch. Nie habe ich mich so reich an Gestalten gefühlt, nie so viel Pläne zugleich leibhaftig in Händen gewogen, wie in den Tagen dieser Krankheit. Ich habe mein Bett das „Fieberschiff“ getauft und über Meere und Länder die abenteuerlichsten Reisen in ihm geführt. Hat schon jemand das Märchen des fliegenden Bettes gedichtet? Dann müßte ich es tun.

Wie merkwürdig war dieser Silvesterabend, die seltsamste Fiebernacht stieg herauf. Während vierzig Grade meinen Körper siedeten, tanzte der Geist lustig auf seinem Seile weiter. Und in aller Klarheit stiegen die blutigen Erinnerungen Polens herauf, begann ich ruhig und unberührt Verse an Verse zu reihen. Wie habe ich in dieser Nacht das Martyrium des Dichters verwünscht! Der Sklave seiner eigenen Gedanken zu sein, die uns zertreten! Und doch, welches Wunder umrauschte mich. Sollte das alles ungeboren vorübergehen? In einer Nacht erschaut und wieder erloschen? Ich zündete die Kerze an, ich stand auf, um mein Tagebuch zu holen, das mir gegenüber auf dem Tische lag. Aber die Kräfte verließen mich, und die Besinnung verlierend sank ich auf die Steine. Ich mußte den Wärter rufen, der mich zurück in die Kissen trug. Frost schüttelte mich, von neuem erbrach sich mein Magen, diese Müllgrube verdorbenen Fleisches und faulender Pflanzen. Ich ließ mir Tee kochen. „Dies ist mein Neujahrs-Punsch,“ sagte ich zu meinem Wärter. Es war zwei Uhr morgens, und ich wurde der Schmerzen müde. Dennoch gelang es mir, im Grauen des Jahres die ersten Zeilen niederzuschreiben. Wachsend hob sich die Gestalt, die Nacht hatte es nicht behalten.

Und so blieb es durch alle Tage einer langen und langsamen Genesung. Es arbeitete in mir am Tag und in den Nächten, ich lag von einer wohligen Musik gewiegt. Und wenn ich aufwachte, begann es von neuem, stellte sich als ein fertiges Gebäude vor mich hin. Sollte man eine Krankheit nicht segnen, die so reiche Schätze in unsern Händen zurückließ? Wie wunderbar sie waren, diese tropischen Träume; hier ist der Vorhof des Todes. Aus ungeahnten Tiefen steigt die geläuterte Seele empor, eine süße Stärke erfüllt uns. Nun ist es die Stunde der Auferstehung.

Noch liege ich, in tausend neuen Gedanken blätternd wie in einem schönen Buch, ehe man es zu lesen beginnt. Deiner gedenkend an den langen Abenden, die uns Regen und Stürme bringen, eingehüllt in das warme Gewand Deiner Liebe. Noch liege ich, diesseits des Tigris, gegenüber der gelobten Küste, im Angesicht von Bagdad, das ich bisher nicht betreten habe, und freue mich, wenn ich morgen aufstehen werde, auf den Strom und die weißen Häuser und auf die tausend Palmen, unter denen ich wandern werde. Wie dankbar bin ich dieser Krankheit, die mich in Ruhe und Schlummer eingesponnen, daß ich erneut das Wunder der Wiedergeburt schaue, um mit heiterer Seele das Bild dieser Stadt zu empfangen, daß nicht ein Körnchen Staubes und nicht die feinste geäderte Zeichnung auf der Wange einer alten arabischen Muhme ihrem gereinigten Spiegel entgeht.

Noch weiß ich nicht, wie die Tage sich gestalten werden. Wie viel jene nächtliche Saat der Träume mir an Früchten zurückließ, wenn ich erst wieder mit blassem Gesicht durch die Lazarette wandern werde, um von Bett zu Bett abgehauene Gliedmaßen und blutige Verbände in meinen Eimer zu sammeln. In diesen Tagen vulkanischer Veränderungen, in denen uns die Aussicht zur nächsten Stunde verhängt bleibt und wir immer mehr der Bestimmung unseres eigenen Willens entzogen werden, bin auch ich zu einem kindlichen Glauben an das Schicksal zurückgekehrt. So sehr ich auch fühle, wie mir das Leben liebend entgegenkommt, so sehr empfinde ich, daß ich aufgehört habe, selbst der Lenker meiner Tage zu sein.

Wie oft muß ich an einen Abend in Tekrit denken, als ich zwei Tage vor unserer Ankunft in den nächtlichen Straßen der Stadt einem lahmen Esel begegnete, dessen linker Hinterfuß gebrochen war und auf dessen schiefgeheiltem Knochen er wie auf einem Schlitten dahinglitt. Hoch oben hing der Mond, eine kühle Lampe, während aus einem Hause leise Musik erklang, wo Araber um die Flamme versammelt saßen, ihre Gebete sagend. Ich wandte mich um und sah das Tier mir einsam zwischen den verlassenen Mauern folgen, auf der staubigen und hartgetretenen Erde vergeblich nach Gräsern suchend. O meine Seele, dachte ich, wie sehr gleichst du diesem Geschöpf. Immer klingt aus einer verschlossenen Tür süßer Gesang. Aber der Weg ist dunkel und niemand weiß, wohin die Straße sich öffnet.

An die Großmutter

Bagdad, den 20. Januar 16.
Im Hause zu den elf Fenstern.

Nun will ich den Stuhl an Deine Seite rücken, Du liebes altes Gesicht. So dicht, daß die großmütterlichen Ohren, die so lange in die Welt gehorcht haben, sich gar nicht zu bemühen brauchen, mich zu verstehen. Nun fühle ich Deine Augen auf meinem Herzen. Sie leuchten mir und wärmen mich auch hier, in diesen Tagen, in denen so bittere Kälte heraufsteigt, daß ich verwundert in die heimatlich verwandelte Welt schaue, durch die der Schnee in schweren Flocken langsam zu Boden flattert, kleine weiße Vögel, die die Erde mit ihrem Gefieder decken.

Palmen in Schnee. Wie lange hat das die Stadt nicht mehr gesehen. Die hohen Rizinusstauden im Garten brechen mit ihren Wurzeln aus der Erde. Der Tigris wirft Wellen wie ein Meer. Die Stadt aber ist ausgestorben; hin und wieder schleicht in langen Röcken, mit den bloßen Füßen in der aufgeweichten Straße versinkend, ein Araber an der Mauer entlang, das Kopftuch um Hals und Wange geschlagen, als litte er an Zahnweh. Der Markt steht still. Wer braucht zu kaufen, zu handeln, Lebensmittel feil zu bieten, wenn es regnet? An solchen Tagen mußt du zufrieden sein, wenn du so viel hast, daß du nicht hungerst.

Die Welt ist hinter den Mauern. Hier sitze auch ich, in einem Hause, dessen Wände mich mit Kälte anhauchen (oh, wie will ich seine Kühle loben, wenn es erst Sommer ist!). In einem Zimmer, in dem elf hohe Fenster mir mit stets gleichem Erfolg die Täuschung vorspiegeln, ich säße im Freien. Neben mir steht ein kupfernes Kohlenbecken, in dem glimmende Holzasche dampft und mir Kopfschmerzen bereitet, und mein arabischer Reitsattel, auf dem ich durch die Wüste nach Mossul geritten bin. Ich habe meine kleine Lampe bei mir, die mir schon in Polen den Unterstand erhellte, und freue mich, daß sie nun zuweilen des Abends wieder meiner Arbeit leuchtet. So sitze ich in Decken und Mäntel gehüllt über dieses Papier gebeugt, während hinter den Scheiben mein arabischer Diener wartet, mir die Schuhe auszuziehen, mit wenig Hausgerät und vielen Teppichen und Schilfmatten unter den Füßen. Denn das Kaufen von Teppichen ist gewiß eine ansteckende Krankheit. Aber schließlich sind wir allein, und der Teppich ist unser einziger Freund: der Tisch, von dem wir speisen, unsere Morgen- und Abendandacht, und das Gedicht, das wir nicht müde werden immer von neuem zu lesen. Vor meinen Fenstern erheben Palmen ihre stachligen Schöpfe, aus denen sich gegen Abend eine Schar von Krähen erhebt, die müde und satt von den Schlachtfeldern von Kut el Amara heimkehrten, um jenseits des Tigris über den breiten Palmenwäldern, rasselnd, mit den Flügeln gegen die glasharten Blätter stoßend, Licht und Sonne verschüttend, eine schwarze Wolke, zusammenzuschlagen.

Es ist Abend, die Stunde, da ich von meinen Spaziergängen heimzukehren pflegte in Dein Haus. Leuchtet dort nicht die Lampe und ein Tisch mit Schinkenbrötchen und Eiern? Heute Mittag war ich traurig, daß keine Briefe da waren, aber bedarf es noch eines Wortes? Du bist in mir. Langsam fühle ich, wie Du in meinem Blute heraufsteigst, mir die Stirne zu streicheln, und neige meinen Kopf über Dich, wie in den Abgrund aller Zärtlichkeit.

Ein Vermächtnis in der Wüste

An Hugo Marcus.

Bagdad, den 1. Febr. 1916.
Im Jenseits.

Welche Sonne Sie in mein Zimmer gebracht haben, lieber Freund, in diesen Tagen, wo Regen täglich sein kummervolles Haupt über die Stadt neigt, endlos in die zerfallenen Mauern verlassener Häuser zu weinen. Sie haben mir so hohe Worte der Liebe und der Bewunderung gesagt, und nach den Tagen des Zweifelns und der Bedenken, die nur ungern aus Ihrer kühlen Stirne aufstiegen, weiß ich, daß es mehr ist als die Anerkennung der Freundschaft. Sie wissen, wie unentbehrlich mir Ihr Urteil geworden ist, als wäre jedes Werk in seinen Zielen verfehlt, das nicht in Ihnen seinen Widerhall fände. Wie glücklich ich bin, nichts konnte mich freudiger stimmen, als was Sie mir über meine Briefe sagen. Sie wissen, daß ich darin immer einen Ausdruck der Seele gesucht habe, daß sie mir als die schönste Offenbarung tiefer Menschlichkeit gelten und daß mir dies nicht immer gelang. Aber Sie sehen auch, wie wenig es mir um Erfolge des Augenblicks zu tun sein kann, wenn ich andere Arbeiten um ihretwillen beiseitelege. Auch diese scheinen mir ein Ausdruck desselben Geistes zu sein, nicht weniger wahr und heilig, als irgendein künstlerisches Gebilde, das unter anderem Namen vor die Augen der Welt geht. Die bürgerliche Seele, stets eifersüchtig ihre Rechte wahrend, immer voll Furcht, daß ihr eigenes kleines Dasein bloßgelegt werden könnte, wird es freilich niemals begreifen, daß unser innerstes Wesen in andern Werken nicht minder nackt zur Schau gestellt ist, als in unsern Briefen.

Aber warum sollten wir nicht stets das Beste geben, daß es denen, die unsere Liebe verdienen, zum Trost und zum Danke wird? Und sollte es einmal dahin kommen, daß ich selbst dazu nicht mehr imstande bin, so möchte ich Sie bitten, dieses für mich zu tun. Dieser Brief ist ein Vermächtnis. Denn so unglaublich es mir auch selber erscheinen mag, nun, da ich zum zweiten Mal in diesem Lande mich von tödlicher Krankheit erhebe, von den Erniedrigungen der Gefangenschaft und einer Summe undenkbarer Zufälle bedroht, täglich in der Luft gifterfüllter Lazarette von unsichtbaren Gefahren umgeben, inmitten einer Wüste, die auf endlose Meilen den Atem ihrer Verwesung erhebt, das Aas von gefallenem Vieh und menschliche Leichen bis vor die Tore der Stadt werfend, muß auch ich daran denken, daß das Schicksal von tausend Hoffnungen immer nur eine zum Ziele führt. Ich habe den Tod eines Schaffenden immer als ein Verbrechen gegen das keimende Leben empfunden, und so oft ich in diesem Kriege davon hörte, ergriff mich jenes widerwärtige Gefühl, das uns stets berührt, wenn wir von der Ermordung schwangerer Frauen hören. Wie? fragte ich mich, als man mir in den Tagen der Wiedergenesung erzählte, daß ich in Gefahr geschwebt hätte, dieses lebendigste Leben wäre das Rauschen des letzten Ufers gewesen? Nie habe ich mich dem Tode so ferne gefühlt, und noch in diesen Wochen, als ich in der Wüste durch die Lager armenischer Flüchtlinge ging und sie ihre Toten begraben sah, war mir, als ginge ich nur hindurch als der Abgesandte einer anderen Welt, um heimgekehrt aus der Hölle des Tages die Botschaft ewiger Liebe zu verkünden.

Aber wie sollte die Zeit, dieses menschenfressende Ungeheuer, an dessen knochenbedecktem Tische ich nun so lange Monate saß, zurückschrecken vor einem Geheimnis, vor dem selbst noch die französische Revolution gezögert hat? Und vielleicht werden Sie doch eines hellen Frühlingstages sich auf die Bahn setzen, um in jene wälderumrauschte Stadt zu fahren, aus der noch einen Monat vor dem Kriege so viele Blätter auf den Schreibtisch Ihres Zimmers regneten. Und Sie werden in das Haus dieser alten Frau treten, von der ich Ihnen oftmals erzählte und deren Augen verklärt sind von dem zartesten Blau, das ich kenne, das auch Sie vielleicht einmal für Sekunden erblickten, wenn im Süden am Abend nach dem Regen eine Wolke sich teilte und das Herz des Himmels uns offen lag. Sie werden den breiten Schreibtisch betrachten, an dem ich gearbeitet habe und der unbebaut liegt, wie der Boden dieses verruchten Landes. Solche Tische haben ihre Geschichte. Auf diesem wurden einst Windeln gelegt und Wäsche gebreitet, und auch ich selbst habe darauf gelegen. Aber wann war es doch? Habe ich nicht schon damals aus einem Winkel dieses Zimmers mir zugeschaut, ehe ich selbst daran saß, um gequält von tausend feurigen Zweifeln und Begierden des Herzens das Unsagbare in Worte zu fassen? Oh, vergessen Sie nie, daß dieses der Tisch ist, dessen Schublade eine eifersüchtige Großmutter mit einem Nagel verschloß, um das Geheimnis ihres Enkels zu wahren, weil sein eigener Vater zwei Nächte in diesem Raume schlief. Und man wird Sie in das Schlafzimmer meiner Großmutter führen, wo neben ihrem Bette jene hochwandige Kiste steht, in der meine Papiere versammelt liegen, und die ich noch selber beim Tischler bestellt habe, ehe ich das letzte Mal hinauszog. Und Sie werden ein wenig verwundert vielleicht zwischen all den Zeitungen und liegen gebliebenen Schriftstücken sitzen, in jenem Zimmer, das in die zerflossenen Blätter eichener Bäume sieht und bei denen die geliebte Frau jeden Tag eine Stunde der Erinnerung verbrachte, sich mit den Resten meiner angefangenen Arbeiten zu schaffen machend, sie glättend, ordnend, überdenkend immer von neuem beiseite zu legen, jeden Abend, seit ich fortging in die Fremde. Sie werden darin meine Tagebücher, eigene und fremde Briefe seit meinen Knabenjahren, französische Zeitungen und Erinnerungen an Algier, Bilder aus der Levante und Sizilien und kleine Andenken aus russischen Schützengräben finden, denn ich bin Zeit meines Lebens ein Hamster gewesen und habe immer gesammelt und gesammelt, weil ich nie genug zu haben glaubte für das Werk, dessen weite Linien ich vor mir sah, als eine Arbeit für spätere Jahre. Dieser Haufen Papier, mit Bleistift und Tinte unleserlich beschrieben, ist alles, was ich hinterlasse. Ihrer liebenden Willkür vermache ich, was Sie immer damit tun wollen, mögen Sie das Beste und Wahrhaftigste der Gunst und dem Hasse der Menge preisgeben und geschähe es auch nur Ihnen zuliebe. Sind doch schließlich in diesen Seiten die Dokumente eines Dichters enthalten, wenn ich mir auch bewußt bin, daß selbst Ihnen viele davon Noten bleiben müssen, die Sie nicht spielen können, weil ich allein den Schlüssel besitze (o wie bedaure ich jetzt das gute Gedächtnis), und die jenen unentzifferten assyrischen Inschriften gleichen, die wir zuweilen auf alten Tonziegeln im Sande des Tigris finden.

Geld habe ich keines zu vergeben. Ich bin immer ein Schuldner der andern gewesen, und jene wenigen Sparpfennige, die meine Mutter für mich mit rührender Geduld seit meiner Kindheit gesammelt hat, sind eine Opfergabe, die ich mich immer gescheut habe, aus ihren Händen zu nehmen. Schließlich bleibt meine Wohnung, dieser Tempel kindlicher Glückseligkeit, die am Rande Berlins wie in einer Totenkammer aufgespeichert liegt und die an meine Eltern und Brüder zurückfallen soll. Nur mein Schlafzimmer, dieser zwiefache Schmuckkasten, möge in die Hände jener ruhelosen Schauspielerin wandern, die wie ein Raffael ohne Arme geboren wurde und deren Namen an dieser Stelle auszusprechen ich mich scheue. Aber wer wird je diese Möbel so lieben und anbeten wie ich? Wer wird so Erinnerungen in sie verweben und ihre Märchen kennen wie ich? Nicht einmal jene kleine dämonische Seele, für die ich sie unter Mühsal und Entbehrungen zusammensuchte und die ich nach so bitteren Erkenntnissen der Einsamkeit und dem Begehren fremder Männer preisgab. Von meinen zahlreichen Büchern endlich sollen Sie, lieber Freund, sich die Werke Charles Louis Philippes nehmen, den ich so sehr geliebt habe. Den Rest aber möchte ich so verteilt sehen, daß jeder meiner Freunde etwas davon erhält.

Wenn Sie mit liebender Hand diese Dinge aus ihrer Verborgenheit heben, werde ich freilich nicht mehr dabei sein, und ich möchte wohl, daß man mich auf ihrem Scheiterhaufen verbrennt, denn diese Bücher sind mir allezeit gute Freunde gewesen, immer bereite Pferde, auf denen ich in das Land unerfüllter Hoffnungen ritt, und diese Möbel, heroische Schicksalsgenossen, verdienten es wohl, daß man sie wie treue Frauen am Holzstoß der gefallenen Helden an meinem Sarge verbrennt. Es wäre meinem Leben gewiß nicht unangemessen, so auf der Wanderung zu verscheiden, und ich möchte wohl, daß man meine Asche in alle Winde streute, daß sie ruhe auf den vier Straßen des Lebens, auf denen ich so viele Jahre meiner Jugend verbrachte. Nur mein Herz möge man in eine Kapsel schließen, es noch einmal in Eure Nähe zu bringen, die ich so sehr geliebt habe. Dieses Herz, das immer der Kompaß meines Geistes gewesen ist, vielleicht, daß es in Euren Händen noch einmal zu schlagen begänne, wie zuweilen der erstarrte Vogel in der Hand des Gärtners warm wird und zu singen anhebt.

Übrigens glauben Sie nicht, daß ich aus Ihrer Mitte verschwinden werde. Eines Tages, wenn Sie sich die Schnürsenkel binden, will ich aus der Spitze Ihrer abgetragenen Schuhe hervorsehen. Vielleicht finden Sie mich auf dem Pflaster des Nollendorfplatzes in einem verlorenen Hausschlüssel wieder, der zwischen Pferdedung und von den Rädern der Wagen verbogen auf die Steine fiel. In einem Warenhause werde ich aus dem Wassersturze der Dinge über Sie herfallen. Vielleicht leuchte ich Ihnen in zehn Jahren aus den Augen eines Jünglings wider, der in irgendeinem Saale dieser maßlosen Stadt ewige Verse in eine unberührte Menge hinabwirft; denn wie könnte ich je glauben, daß das Werk, für das ich glühte, um dessentwillen ich Heimat und Geliebte verließ, unvollendet verloren ginge — oh, dann lieben Sie ihn, wie Sie mich geliebt haben, mit dem Ernst und den Erfahrungen Ihres Alters! Wie könnte ich glauben, daß ich, ein kosmopolitisches Känguruh, in der Wüste mit dem vollen Beutel verfaulen sollte, in den ich so fremdartige und kostbare Schätze häufte, daß die Sendung unerfüllt bliebe, für die auch ich nur ein Sendling war und die der Zufall nur in eine ebenso herrische wie demütige Seele warf. Denn ich habe immer die tiefe Überzeugung gefühlt, daß der Tod, so oft und gern ich ihm Freund und Gefährte war, mich erst treffen würde, wenn das Werk in sichtbarer Vollendung sich von mir gelöst hat, wenn ich nach so langen Jahren des drohnenhaften Umherirrens, am Glücke und am Elend des Menschen saugend, endlich das Fegefeuer dieser brennenden Zeit durchflogen hätte, sei es auch, um aus dem Taumel seligster Schaffenslust mit zerschmettertem Haupt auf die Erde zu stürzen, nachdem ich den Keim in die ewige Seele der Menschheit gelegt hätte, die das kostbare Gut in ihrem Innern bergend aus den Kampflüften der Geister heimkehrte in das Haus des Fleißes, zu den fiebernden Brücken der Begierde, in den schwermütigen Gesang der Arbeit.

Aber wohin verliere ich mich, Geliebter? Noch brennt die Sonne, noch breiten vor meinem Fenster Palmen ihre stachligen Schöpfe, die, wie grüne Raketen auseinanderfallend, in der blauen Luft erstarrt sind. Noch zieht, von Frühlingswassern umspült, die Wüste einen blühenden Teppich um ihre alternden Füße. Noch lebe ich, am Nabel der Welt, in die Rätsel buntester Völker geworfen, grüßt unendliche Auferstehung den gemarterten Leib, noch höre ich Ihre Stimme an meinem Ohr, fühle, von heiterstem Glücke durchströmt, Ihre Hände auf meinem Herzen.

Ihre Drohne, die Lieblingsdrohne der Königin.

An eine Freundin

Bagdad, Abdul Achad,
den 25. Februar 1916.

Man merkt kaum, daß die Zeit weitergeht, meine Liebe, so lautlos streicht jedes Gesicht an uns vorüber. Gestern erhielt ich Deinen Brief vom zwanzigsten Dezember. Habe ich denn damals schon gelebt? Ich begann ihn zu lesen, als ich in das Boot stieg, um über den Tigris zu fahren, wenn ich im Kahn nicht damit fertig wurde, wollte ich ihn am Ufer zu Ende lesen. Aber wir hatten kaum die Mitte des Stromes erreicht, da war der Brief aus, und ich fragte mich: war Dein Schreiben so kurz (es hatte doch sechs Seiten), war der Tigris so breit, oder hatte ich zu schnell gelesen? ... So verhungert sind wir hier draußen.

Dabei lächelt der Himmel warm durch die Glaswände meines Hauses. Ich blicke über den Zaun in die Palmen und auf den Hof einer arabischen Wagenhalterei. Auf den Dächern der Pferdeställe wird jeden Tag der frische Dung ausgebreitet, um in der Sonne gedörrt als Brennstoff verkauft zu werden. Ein junger Araber hat den Tag über nichts zu tun, als mit den nackten Füßen langsam durch diese Materie zu laufen und sie umzuwenden. Wenn ich am Schreibtisch sitze, schaue ich ihm bei seiner Arbeit zu.

An den Ufern des Flusses liegen die Hospitäler, Konsulate, Hotels, in denen man die hölzernen Betten der Verwundeten aufgestellt hat. Luftige Terrassen, auf deren weißen Fähnchen der rote Halbmond, ein blutiger Fleck, leuchtet. Hier kommen die Dampfer von Kut el Amara herab, ihre traurige Last an das Ufer zu werfen. Glitzernd hebt sich der Strom, eine weiße Straße des Todes. Hier liegt Abdul Achad, das Lazarett, in dem wir arbeiten, ein arabisches Hotel mit zweihundert verwundeten Soldaten. Unsere Krankenpfleger sind Eseltreiber und Lastträger der Straße. In unserem Operationssaal fanden wir nicht mehr als eine rostige Schere, zwei Klemmen und eine Sonde. Die durchgeeiterten Binden müssen stets von neuem verwandt werden, und wir sind glücklich, genug ungereinigte Baumwolle zu haben, die im Lande wächst. Die Wunden sind fast alle verschmutzt oder vernachlässigt, und viele sterben an Blutvergiftung dahin. Der Dienst ist anstrengend; aber unser Stabsarzt ist der liebenswerteste Vorgesetzte und Kamerad. Ich habe darin ein so großes Glück gehabt.

Die Luft ist milde, und es wird täglich wärmer, doch jedermann spricht mit Schrecken vom Sommer, den wir hier an einem der heißesten Teile der Erde am Tag in den Kellern und des Nachts auf den Dächern verleben werden. Fast immer finde ich am Abend eine Stunde Zeit, in der Dämmerung in das bunte Gewühl arabischer Stadtviertel und Basare zu tauchen. Stets erfüllen heitere Pläne meine Seele, fremde Geheimnisse verführen und reizen mich. Dazu verdanke ich der Güte des Feldmarschalls ein höheres Abzeichen der Uniform; ich trage den Rang eines Sanitätsunterleutnants und bin dem Stabe der sechsten Armee zugeteilt. Du solltest mich nur sehen in meinem moosgrünen Waffenrock, mit violettem Sammetaufschlag und Silberborten, wenn ich mit einem „Grüß Gott, Soldat“ am Morgen in das Lazarett trete.

Leb wohl — müßte ich nicht täglich zehn Liter Eiter riechen und den Pestgeruch der bis zum Skelett abgemagerten ruhrkranken Soldaten, so wäre das Leben fast vollkommen zu nennen.

Frühling, ach wie du mich rührst ....

Brief an die Mütter

Bagdad, am Nabel der Welt,
den 29. März 1916.

Daß ich noch bin, Ihr geliebten Mütter, daß diese Erde noch unter mir ist und meinen Füßen nicht nachgibt, daß diese Zeilen den Herzschlag meines Atmens zu Euch hinübertragen, wie kann ich es ausdrücken, daß es mich so stark bewegt! Nie habe ich das Rauschen des Todes, seine Stille, sein kaltes Lächeln so vernehmbar gefühlt wie in diesen Tagen, und oft frage ich mich: darf ich noch leben? habe ich noch ein Recht zu atmen, Pläne zu tragen für ferne, fabelhaft unwirkliche Jahre, wenn so viele tote Augen um mich wie ein Abgrund gestellt sind?

Am 10. März starb unser Stabsarzt plötzlich am Fleckfieber, und noch jetzt, Wochen später, erfüllt mich oft eine minutenlange Erregung, die mir Ruhe und Besinnung nimmt, zu erzählen. Seit vielen Monaten durchzieht eine verheerende Krankheit dieses maßlose, selbstvergessene Land. Die türkischen Soldaten haben sie aus den Städten Syriens und Kleinasiens durch die Steppe herübergetragen, und die Rache des armenischen Volkes, dessen faulende Leiber jeden Weg der Wüste bedecken, streckt ihre würgende Hand immer tiefer in die Häuser, in die Hospitäler, in die Zeltlager der Lebenden hinein. Noch sehe ich diesen völlig mit kleinen blauroten Punkten bedeckten Körper vor mir, den der Stabsarzt nichts ahnend wegen einer ungefährlichen Verwundung an meiner Seite entkleidete, um kurze Zeit darauf selber an einer eitrigen Halsentzündung zu erkranken. Schon nach wenigen Tagen fand ich ihn abgemagert und durch eine hinzugetretene Ruhr so entkräftet, daß er nicht mehr fähig war, alleine den Kopf zu heben.

Ich ließ mein Bett in seinem Zimmer aufschlagen, und nun begannen jene ruhelosen Tage und Nächte, die mich bis zu seinem Tode nicht mehr von seiner Seite ließen. Nie werde ich diese einsamen Nächte vergessen, in denen alle Sehnsucht des südlichen Frühlings mit den Schmerzen des Todes und der Bitterkeit der Fremde gemischt war. Vor mir zu Füßen des Krankenbettes stand die abgeblendete Laterne, einen schwachen Lichtkreis über die Steinfliesen verbreitend, der sich leise in dem künstlichen Himmel der Decke spiegelte, die mit persischer Glasarbeit ausgelegt war und deren Achtecke sich glitzernd ineinander verschoben. Ich starrte auf den niedrig geschraubten Docht und hörte auf das röchelnde Atmen des Kranken, der einen Schleimkloß im Munde wälzte, von dem er vergeblich versuchte, sich zu befreien. Raschelnd jagten die Ratten über mir durch die hölzerne Täfelung der Decke. Dann stand ich auf, um den Kranken aus dem Bett zu heben, der infolge einer nervösen Störung nicht fähig war, im Liegen Wasser zu lassen. Und in der einen Hand das Geschirr haltend, in der andern seinen schweren, völlig willenlosen Körper, schwankte ich atemlos, bis wir beide völlig erschöpft waren und auf unsern Stirnen der Schweiß ausbrach.

Wenn der Kranke zu schlafen schien, trat ich einen Augenblick auf die Terrasse des Hofes, in dem ein weitästiger Baum seine ersten Knospen entfaltete und an dessen Rande eine Reihe verschlossener Zimmer lag, die einst die Frauengemächer eines reichen Muhammedaners gewesen waren. Der Sternenhimmel blickte durch den viereckigen Ausschnitt des Hofes, ich stieg auf das Dach, den umgekehrten Wagen, den Sirius und den Mars zu betrachten, der einen rötlichen Schimmer trug. Plötzlich trat ich auf etwas Weiches, ich bückte mich und sah ein paar dunkle, von den Sternen schwach beleuchtete Grasbüschel, und merkwürdig, ich dachte: von allen Erlebnissen dieser Tage wird vielleicht einst nur diese kleine Grasnarbe auf dem lehmgehärteten Dach des zerfallenen Frauenhauses greifbar in deinem Gedächtnis zurückbleiben, aber dieser eine Blick wird auch alle bittere Wehmut der Stunden enthalten.

Als ich wieder in das Zimmer trat, war dem Kranken, der mich rufen wollte, die kleine Kamelglocke aus den Fingern geglitten, und mit schwacher Stimme versuchte er mir zu erzählen, daß eine Ratte von der Decke ins Zimmer gefallen wäre. Wieder setzte ich mich an seine Seite. Eine Katze trat lautlos in das Zimmer, erschrak, als sie mich erblickte, ging wieder hinaus. So kam der Morgen, der das Abbild der Nächte war. Ich wußte nicht mehr, daß draußen ein Tag und die Geschäftigkeit fremden Lebens war. Atemlos ging ich hinter diesem Bette her, Umschläge erneuernd, Arzeneien, Milch und Suppe reichend, die der Kranke mit dem Geräusch der Erstickung über die Kissen ausbrach, waschend, die Bettlaken zurechtlegend, und mir war, als entfernte sich dieses Bett mit immer größerer Schnelligkeit von mir, mich zu immer schnellerem Laufe anspornend.

Einmal bat mich der Stabsarzt, ihm etwas vorzulesen. Ich hatte Hauffs Märchen mitgebracht, die er sehr liebte, und las ihm die Geschichte vom Kalifen Storch vor; aber bald war er so schwach, daß er die Lippen kaum noch bewegen konnte. Am vierten Tage traten an den Weichen die kleinen blauroten Flecken auf. Vergeblich versuchte der Kranke immer wieder, etwas zu sagen; es war nicht mehr möglich, ihn zu verstehen. Die trockenen, schorfbedeckten Lippen blieben tonlos, während er verzweiflungsvoll den Kopf zur Seite schüttelte, und nur seine schönen blauen Augen glänzten noch zu mir auf. Am siebenten Tage begann der Puls plötzlich zu fallen, und er fiel in der kurzen Zeit, während wir im Nebenzimmer zu Mittag speisten, mit einer solchen Geschwindigkeit, daß es den Ärzten, die ihm noch eine Einspritzung in die Venen geben wollten, nicht mehr möglich war, diese zu finden. Drei Stunden später fuhr der letzte Atem mit einem widerlichen Geräusch, glucksend wie Spülwasser, aus dem Munde des Sterbenden aus. Die Ärzte standen schweigend. Schmerz würgte mich an der Kehle. Ich hatte ihn geliebt, der mir mehr Freund als Gebieter gewesen, glücklich, einem Berater zur Seite zu stehen, dessen geistige Sehweite, dessen künstlerisches und wissenschaftliches Vermögen das der anderen Offiziere so weit übertraf. Ich drückte ihm die Augen zu, zog ihm das Laken über das Gesicht.

Wir traten hinaus. Im Hofe stand eine prächtige Stute, die mit dem Fuß in ein Loch der Wasserleitung getreten war und sich verletzt hatte. „Das schöne Pferd!“ sagte der Stabsarzt der Marine, ärgerlich mit dem Fuße aufstampfend; aber wie merkwürdig erschien mir in diesem Augenblick sein Wort, das doch gewiß nicht weniger von Sorgfalt um ein lebendes Wesen erfüllt war. Die bunte Menge des Basars umdrängte uns. Der herrlichste Frühlingsnachmittag stand über der Stadt. Hatte ich je gelebt? Wieviel Jahre hatte ich im Gefängnis gesessen? Wir nahmen ein Boot und fuhren den Tigris hinunter, um dem Konsul den Tod des Arztes zu melden. Helle Sonne traf die bewegten Wellen des Flusses am Ufer. Mitten auf der Straße blieb ich stehen, betäubt von Licht und dem Gefühl des Lebens: daß ich noch bin! daß die Erde noch mein ist!

Als wir heimkehrten, erschrak ich vor der plötzlichen Dunkelheit des Zimmers, in dem jede Nacht die Laterne gebrannt hatte. Mit trostbedürftigen Seelen, an die Härte eines unerbittlichen Daseins gewöhnt, leerten wir die Flasche Wein, die ich noch am Morgen für den Kranken geöffnet hatte. Spät in der Nacht kamen die Juden, alte Männer mit weißen Bärten, um in einer hölzernen Kiste den Leichnam zu holen, der nach dem Ritus begraben werden sollte. Murmelnd, von einer Laterne begleitet, den Sarg auf dem Rücken, verschwanden sie in der finsteren Gasse. In der Nacht konnte ich nicht schlafen, und schweißbedeckt, bis zum Äußersten erregt, wälzte ich mich in den heißen Decken, während widerwillig ohne Aufhören die Frage an mein Ohr brandete: wann du? wann du?

Am nächsten Morgen ging ich in die israelitische Schule. In einem Kellergewölbe, völlig entkleidet, lag auf der bloßen Erde der Leichnam. Ein Schweißtuch war um die Stirn gebunden, und zwei Steine lagen zu beiden Seiten des Kopfes. Mitten auf die Brust des Toten aber, die mit einem langen Leinentuch bedeckt war, hatte man zur Wegzehrung ein abgebrochenes Stück arabischen Brotes gelegt. Ein zerlumpter Jude, in die Fetzen seines Gewandes gehüllt, kauerte die Wache haltend neben dem Leichnam, und im Winkel des Raumes lag ein zusammengekehrtes Häufchen Schmutz. Rührung ergriff mich vor der erschütternden Schlichtheit des Bildes, und immer wieder blickte ich auf diesen kümmerlichen Bissen Brot, der mir das Sinnbild alles menschlichen Jammers und Elends zu sein schien.

Zwei Stunden nach Sonnenuntergang begann das Begräbnis. Im Hof der Synagoge stand der Sarg aufgebahrt. Zwanzig alte Juden sangen mit klagender Stimme einen hebräischen Psalm. Dahinter standen die deutschen Offiziere, Rabbiner und Würdenträger der Stadt, brennende Kerzen in der Hand haltend. Die Kawassen eröffneten den Zug, ihnen folgten die Schulen und die hohe Gemeinschaft der Rabbiner. Der Sarg wurde von den Schultern jüdischer Bürger getragen, dahinter schritten der Großrabbiner, die Vertreter des Stabes des Feldmarschalls, der Wali, die geistlichen und weltlichen muhammedanischen Behörden, deutsche und türkische Offiziere und Soldaten mit zur Erde gekehrten Waffen. Zwanzigtausend Juden begleiteten den Zug, während hochgeschwungene Fackeln die Finsternis erleuchteten, von denen der Wind Funken und brennendes Werg über die Köpfe des Trauergefolges hinwegwehte. Unmittelbar hinter dem Sarge schritt ich selber, das Kissen mit den Orden des Toten tragend, und ich dachte die ganze Strecke des Weges: wenn Ihr mich so schauen könntet, wie ich, übernächtigt, die hohe Lammfellmütze auf dem Kopf und von dem gelben Licht der Fackeln beleuchtet, hinter dem Sarge hinschreite, welchen Trost würde der warme Herzschlag Eurer Liebe mir bereiten!

Die Fenster aller Häuser waren von Menschen erfüllt, in den Seitenstraßen und auf den Dächern drängte sich die Menge. Sobald der Sarg vor ihren Blicken erschien, durchzog ein ungeheures Klagen die Luft. Die Männer schlugen sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, die Frauen begannen jammernd und heulend an ihren Haaren zu raufen, schlugen sich gegen die Brüste, zerfetzten die Kleider, und von den Dächern wogte ihr Klagegesang in die Nacht hinab. Dicht vor meinen Füßen aber riß, bis zum Wahnsinn erregt, sich die wütende Menge unter den Kolbenschlägen der Soldaten darum, ein Stück des Weges den Sarg zu tragen, der, von dem Lichte der Fackeln umflossen, hoch über den Häuptern des Volkes erhoben die unendlich schmale Gasse dahinschwebte. Endlich öffnete sich das Feld, die Menge flutete auseinander, und ein kühler Wind strich aus der Wüste her. Halsbrecherisch stolperten wir im Dunkel über Hügel und Gräben. In Grabtücher gehüllt, versank der Leichnam, von den verlöschenden Lichtern beleuchtet, und während ich an der offenen Grube dem Toten einige Worte nachrief, wurde er in der Tiefe mit gebrannten Tonziegeln übermauert. Sturm wehte und ein heftiger Regen begann zu stürzen, als wir endlich im Dunkel aus der Wüste nach Hause tappten. —

Wieviel Tage seitdem verflossen sind, ich weiß es nicht mehr. Ich ging in einem Traume dahin. Denn mag es auch nicht unrühmlicher sein, wie ein kranker Baum an Händen und Füßen mit Schutzringen umgeben, im Dunkel fiebererfüllter Hospitäler von Ungeziefer gebissen zu werden und daran zu sterben, als an der Wut unvernünftigen Eisens zu verbluten, so würde es doch meiner Aufgabe wenig entsprechen. Und während der widerliche süße Geruch der Medikamente und faulenden Wunden alle Räume des Lazarettes erfüllt, während ich auf dem Dampfer den Tigris von Kut el Amara hinauffahre, um zu sehen, wie an jeder Landungsstelle neue Tote an das Ufer gebracht werden, während ich immer wieder erlebe, wie an meiner Seite die Sterbenden die Maske des Todes auf ihr Gesicht setzen, überkommt mich zuweilen eine stumme und wilde Verzweiflung: genug! genug! einmal auch etwas anderes zu sehen als Schmerz, Eiter und Wunden! Lohnt es denn zu leben in einer Welt, die von nichts als dem Atem der Verwesung erfüllt ist? Lohnt es denn noch zu sterben in einer Zeit, wo selbst der Tod unwichtig oder billig geworden ist wie eine geringe Münze?

Draußen steht der Frühling und hat noch den Staub der Wüste mit einem grünen Mantel bedeckt. Die Schwalben flattern bis in unseren Operationssaal, so dicht über unseren Köpfen, daß ihr Flügel zuweilen den entblößten Leib der Gemarterten streift. Das Hochwasser hat alle Palmengärten mit plätschernden Bächen erfüllt. Zitronen und Mandarinen duften schwermütig und berauschend, Wiesenschaumkraut und Sumpfdotter blühen. Und zuweilen, wenn der Südsturm über die Palmengärten fährt, die langen Blätter der Schöpfe wie aufgelöstes Frauenhaar über ihren Nacken werfend, setze ich mich an den Fuß der alten Lehmmauern und schließe die Augen. Dann ist mir, als hörte ich das Rauschen der deutschen Wälder wieder und sehe das Laub der Eichenbäume in der Sonne erzittern. Die Frösche quaken, und das Heimchen zirpt in der Wüste, und mir ist, als sähe ich Euch, Ihr geliebten Mütter, den Weg heraufkommen, ein altes und ein alterndes Gesicht. Ich küsse das weiße Haar Eurer Schläfen und schaue in die blaue Güte Eurer Augen, die mich beschützt hat in allem Unheil dieser Tage, und die mir hilft, das Werk zu Ende zu tragen, das mir alleine zu schwer ist.

Letzter Brief an die Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und Geliebten[1]

Bagdad, den 18. April 1916.

Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, Ihr Geliebten, fragte ich mich erstaunt: wie? du lebst noch? Und ich fühlte es stündlich, daß auch über meinem Wege eine gefällte Palme lag.

Seit zehn Tagen ist der Feldmarschall an Fleckfieber erkrankt. Eine Woche pflegte ich ihn, fühlte seine zitternden Arme in den meinen, sah in jenem kartenbehängten Zimmer, in dem sie sein Bett aufgeschlagen haben, aus den Kissen die rührenden Blicke seiner Geduld und Güte leuchten, die noch immer die Welt mit Wissen und alter Liebe zu umfangen schienen. Am siebenten Tage fand ich bei der Heimkehr in meiner Wäsche jenes kleine blutgefüllte Tier, das nun seit Monaten schon für uns das Sinnbild des Todes bedeutet, und das der bekannte Überträger des Fleckfiebers ist. Seit jenem Tage wußte ich, wie es um mich stand, und während mich noch die Angst um dieses greise Leben mit Bangen erfüllte, sah ich die eigene Jugend an den Rand der Vernichtung gestellt. Wenn ich des Abends den Tigris hinunterblickte, an dessen Ufern Fischer eine Seffineh stromaufwärts treidelten, immer dachte ich: wie schön ist es, ihren Gesang noch einmal zu hören! Und ich sah den Arabern zu, die in einer Kuffe über den Strom fuhren, und dachte: betrachte es recht — so setzen sie ihre kleinen Ruder ins Wasser, so wirbelt die Flut hinter ihnen her. Gestern stieg ich in der Finsternis auf das Dach, den Mond zu betrachten, und zu jeder Stunde sagte ich mir: nimm noch zwei Augen voll Schönheit mit in die Dunkelheit.

Heute mittag, nachdem ich die Nacht unter Erbrechen und grauenvollem Kopfschmerz zubrachte, trat das erste Fieber bei mir auf, das schnell zu steigen beginnt. Seitdem kann für mich kein Zweifel mehr gelten, mein durch so viele Krankheiten geschwächter Körper, mein allzu beflügeltes Herz wird diesem neuen Ansturm nicht widerstehen. Aber seitdem ich diese feste Gewißheit habe, nach all den nächtelangen Zweifeln der vergangenen Tage, kommt fast eine stille Heiterkeit über mich. Auch der Tod ist nur eine Gedankenüberlegung, eine andere Art zu leben. Wer ihn erst geistig überwand, den kann er nicht mehr erschrecken. Der Reiz des Daseins hat für mich immer darin bestanden, daß es einmal mit dem Tode endet. Nicht an dieser Stelle habe ich ihn erwartet, aber auch hier soll er willkommen sein.

Hinter mir steht mein arabischer Diener, er hat Blumen in mein Zimmer gestellt und erwartet ein Lob, aber ich achte nicht auf ihn und seinen schüchternen Versuch, mir Gutes zu tun, so sehr bin ich von dem Gedanken des Sterbens erfüllt. Es ist vier Uhr nachmittags, draußen blühen die Palmen in gelben Dolden, der hellste Sommer steht über dem Land, und ich beeile mich, die letzten Stunden, da ich noch klar bin, Abschied von Euch zu nehmen. Denn bald werde auch ich daliegen, wie ich so viele gesehen habe, meiner selbst nicht mächtig, von furchtbaren Zuckungen erschüttert, der Sprache beraubt, und mit blicklosen Augen, die ihre Welt nicht mehr kennen. Losgerissen wird meine Seele durch alle Räume der Erde flattern, als triebe ich im Südsturm, der die Wellen des Tigris auftürmt, auf einer führerlosen Kuffe, inmitten des wütenden Stromes ganz alleine durch die unendliche Verlassenheit dieses Landes dem Meere zu, dessen Rauschen mich mit Gesang begrüßt.

Aber vom Tode umschattet, hebe ich noch einmal aus den Tiefen meiner Seele das Bild Eurer Gesichter, langsam wie man aus dem Grunde verschütteter Städte die Reste alter Tempelmauern und Wohnstätten emporhebt. Und ich frage mich: seid Ihr das wirklich? In welchen fabelhaften Zeiten habt Ihr gelebt? Wer wart Ihr, die Ihr durch mein Leben schrittet, fremd und liebend zugleich? Wie könnte ich Euch beim Namen nennen? Seid Ihr mir in dieser Stunde nicht alle gleich nah, Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und Geliebte? Ihr kleinen Knaben, mit denen ich in meiner Jugend befreundet war. Ihr weichen Wangen der Mädchen, blaß und hinreißend schön wie der Glanz des aufgehenden Mondes. Und Du, alterndes Gesicht einer schneeweißen Frau, weise und mit rätselhaften Falten bedeckt — wenn es einen Schmerz für mich in dieser Stunde gibt, so ist es der, Dich verlassen zu müssen, Dir Leid zu bereiten. O nicht die kleinste Geste Eures Lebens bleibt mir in dieser Minute fern. Euch, die ich liebte, denen ich mit Zärtlichkeit weh tat. Und doch, wann war es, daß ich durch Eure Mitte ging? In so verschüttete Tiefen sankt Ihr hinab, daß ich Euch nicht wiedererkenne. Welcher Teil meines Leibes, meiner Seele blieb an Euch haften? Ach, wenn ich eines bedaure, so ist es, ohne Kinder sterben zu müssen, ohne Sohn, ohne Mädchen, das die Mutter kommender Geschlechter würde. Wie schön, wie unsagbar reich war dieses Leben, das ich mir baute, und doch soviel Samen der Liebe vergeblich verschwendet. Wie fremd war Euch meine Bitte — ach, ich begreife, daß Ihr es höher schätzen mußtet, frei zu sein, als die namenlose Mutter meiner Kinder zu werden!

Aber verzeiht, wenn meine letzten Gedanken nicht Euch gewidmet sind, wenn sie sich auf jene dämmernde Zukunft der Menschheit richten, für die ich die Verpflichtung fühlte, zu sein, der mein künftiges Leben geopfert wurde. Und vielleicht liegt nur darin die Schwere des Abschieds dieser Stunde, daß ich der Erde den Dank nicht zeigen kann, den ich ihr schulde. Jener tiefste Schmerz des Mannes, der Welt nicht mehr beweisen zu können, was wir vermochten. Für Dich, Du vielgestaltete unendliche Masse der Völker, die Du, im Elend und im Glücke leidend, an Deinen Herrschern zugrunde gehst, Dich in Deinen Kriegen verblutest.

Das Vaterland schuldet mir keinen Dank. Aber auch in mir stirbt die Menschheit ihren traurigen und namenlosen Tod. Auch ich litt für sie, auch ich konnte sie nicht erlösen, so inbrünstig dieser Wille in mir war. Vielleicht bleibt es dabei ein geringer Trost, immerhin an den Mühen gestorben zu sein, schmerzleidenden Menschen Linderung zu bereiten, wenn ich mir auch in keiner Stunde verhehlt habe, daß die Sehnsucht, die mich in diese Länder trieb, die Erde in allen Weiten und Tiefen zu erschöpfen, nicht geringer in mir gewesen ist.

Und so lebt denn wohl, lebt wohl, Ihr Geliebten! Zum letzten Male grüßt Euch Euer Sohn, Bruder, Freund und Mitmensch

Armin Wegner,

im Dienste der Menschheit sterbend an der Unersättlichkeit des Lebens.

Lebt wohl! lebt wohl! Ihr Geliebten!


[1] Dieser Brief wurde zu Beginn einer schweren Erkrankung geschrieben, als der Verfasser nach menschlichem Ermessen damit rechnen mußte, nicht wieder zu gesunden.

An eine Freundin

Bagdad, den 25. Mai 16.
Am Tage der Auferstehung.

Nach so viel stummen und verschwiegenen Grüßen, so viel liebend gefalteten Büchern und Päckchen mit Süßigkeiten, halte ich endlich den Brief meiner teuren Freundin in der Hand. Es ist seltsam mit diesen Briefen in der Fremde. Wir haben eine Liebschaft mit ihnen, wie mit einer zärtlichen Frau, als wollten wir ohne Ende sagen: „Küß mich noch einmal! So, Dein Gesicht an meine Seite.“ Und obwohl wir sie siebenmal gelesen haben und lange auswendig wissen, werden wir doch nicht müde, immer von neuem ihre Züge zu betrachten.

Nun aber blickt ein Auferstandener in diese Augen, einer, der von zwiefachem Tode heraufkommt und, aus ohnmächtigem Schlaf erwachend, sich mit der Hand über die Stirn streicht: ja, es ist die Erde, es ist das Wort geliebter Seelen, das an dein Ohr tönt. Noch schwankt der Boden unter meinen Füßen, noch begreife ich nicht, daß diese Fülle des Glückes mir geschenkt war. Noch zweifle ich am Tag und der Stunde der Heimkehr, der langen, mühseligen Reise durch eine lieblose und sonnendurchglühte Wüste gedenkend. Aber vielleicht habe ich hier die Wendung jener rasenden Laufbahn erreicht, die bestimmt scheint, mich durch alle Schrecken und Finsternisse zu treiben! Oft frage ich mich erstaunt, wie ist es möglich, daß das Leben in dir noch neben dem Tode Raum hat? Und muß ich der Erde nicht dankbar sein, wenn sie mich Wiedergewonnenen so immer von neuem liebend an ihre Brust reißt? Muß ich nicht heiter sein, obwohl ein Leben bitterster Enttäuschungen mich im Mutterlande erwartet?

Ich rüste zur Heimkehr. Kein Wort, kein Gefühl klammert sich an mich, das stark genug wäre, mich in diesen Mauern zu halten. Vereinsamt schaue ich mich unter der Schar dieser Männer um, unter denen ich fast alleine zurückblieb. Die Herzen haben mich verlassen, um derentwillen ich durch diese Wüste reiste, und mir blieb nichts als die traurige Pflicht, ihnen das Bett des Sterbens zu bereiten. Noch sehe ich die Augen des greisen Feldmarschalls auf mich gerichtet, höre das Wunder seiner Stimme, die, schon vom ewigen Schlafe befangen, in dem Dunkel ferner Schlachten umherging, und zur selben Stunde, da der geliebte Leichnam, auf die Lafette einer Kanone gebunden, in eine Wolke von Musik gehüllt, seinem letzten Hause unter den Mauern uralter Kalifen entgegenschwebte, trug mich selber das Boot über den Kühle atmenden Fluß, schwankte ich fieberdurchglüht dem Ufer zu, mich selber zum Sterben zu bereiten. An dem Geländer des Hospitals stand ein anatolischer Soldat, den ich vor Monaten in schwerer Krankheit gepflegt hatte, dessen volle Gestalt ich kaum wiedererkannte. Und nicht ohne Verbitterung dachte ich: du hast deine Gesundheit aus mir getrunken, dein schwerer Leib zieht mich selber hinab. Aber die Wage stieg von neuem, und nicht ohne Wehmut bekenne ich: also auch hier solltest du hindurch! Die Sonne des Sommers öffnet ihren weißen Himmel. Ich habe meine Toten begraben. Der Weg ist frei. Das Band ist zerrissen, das mich an ihre Tage gefesselt hat, das mich glücklich machte, in ihrem Schatten zu leben.

Aber je mehr ich so der Stunde gedenke, da unter meinen Füßen die Meile des Weges wieder kleiner wird, um so stärker erkenne ich, wie von Tag zu Tag die Mühe unsäglicher wurde, die meinem geschwächten Leibe bereitet ist. Und schon ruft eine sieche Steppe, rufen die Blätter verbrannter Palmen mir entgegen: es ist zu spät! Die gelbe Glut einer böse blickenden Sonne hat eine unsichtbare Mauer um unser Haus gezogen. Das Thermometer in unseren Brusttaschen steigt auf einundvierzig Grade, als wollte es sagen: sieh, auch die Mutter Erde atmet im Fieber. Wir leben in den Kellern. Vor unseren Fenstern hängen breite Rahmen aus Palmblättern, die mit Kameldorn gefüllt sind und mit Wasser begossen werden. Die Hunde vor unsern Türen liegen in einer Pfütze von Schweiß. Wir warten, bis es Abend wird, dann kriechen wir aus unseren Verstecken, steigen auf die Dächer, wo wir unsere Betten ausbreiten, und liegen schlaflos und warten auf den Nachtwind. Über uns wachsen die Sterne, die goldenen Früchte eines riesenhaften Baumes, und ich brauchte nur die Hand auszustrecken, so griffe ich in ihre Krone und pflückte sie alle in Deinen Schoß. Zuweilen erhebt sich urplötzlich aus der Ebene ein Sandsturm. Dunkle Wolken wirbeln aus der Tiefe herauf, der feine Sand fällt über Gesicht und Hände, das Mückennetz bläht sich, ein gefülltes Segel, und plötzlich rollt unser ganzes Bett über das flache Dach dahin. Die Leinentücher flattern nach allen Seiten, die Schlafschuhe wandern, und der mit Wasser gefüllte Tonkrug, an dem unsere Lippen Tag und Nacht verdurstend hängen, bricht in Scherben.

Wenn aber der Mond scheint, füllt sich die Ebene mit einem zarten Licht. Blaue Dämmerung steigt aus den Palmenhainen, zerfließt weich in die Steppe. Wie klein wird die Erde unter uns. Dann ist mir, als wüchse mein Leib unendlich in die nächtliche Landschaft hinaus. Mein Haupt ruht in Mossul, meine Füße rühren an die Trümmer von Babylon. Meine rechte Hand liegt auf den Dächern von Damaskus, und mit der linken greife ich in die Schneeberge von Luristan. Durch mich rinnt eine unendliche Ader, der Tigris. Zu ihm kommen die Verwundeten, die Kranken, die Gefangenen, die Sterbenden, Wasser zu schöpfen. Bin ich ein Strom, an dessen Ufern die Regimenter des Todes lagern, um zu trinken? Ich habe kein Blut mehr in mir. Dies Land hat mich zu seiner Scholle gemacht, in deren Tiefen die Flut versiegt ist, und auch mein Leib ist zur Wüste geworden, von verdorrenden Gräsern bedeckt und von heißen Winden geschlagen.

An die Mutter[2]

Bagdad, im Mai 16.

Auch Du, meine Mutter, hast Deine Söhne der Vernichtung geboren. Auch Du hast gedarbt, um Erkenntnis gerungen, schlaflos gelitten, daß Deine Kinder reif würden für die Stunde des Todes. Und auch Deinem alternden Leib ruft eine barbarische Zeit entgegen: gebäre noch einmal. Werde noch einmal Mutter, daß neues Blut da sei, das auf den Schlachtfeldern und in den Laufgräben fließe!

O die große Lüge, die wir niemals vergessen werden, die falsche Sonne, die über der vorgeschichtlichen Zeit unserer Kindheit leuchtete. Denn wofür haben wir gekämpft? Wofür trugen wir Arbeit und Hoffnung so viele Jahre hindurch? Wofür bauten wir Eisenbahnen und Dampfschiffe, errichteten Schulen, Fabriken und Krankenhäuser, lehrten unsere Kinder weise, kräftig und pflichttreu zu sein? Glaubten wir wirklich, daß wir die Menschen näher aneinander rückten, Völker an Völker, Herzen an Herzen zu binden, die Güter der Erde dorthin zu tragen, wo ihrer Mangel wäre, und die Armut zu töten? O die große Lüge, die große Lüge! So viel Wunder des Geistes und der Hände, nur daß wir Mittel hätten, Soldaten schneller dorthin zu werfen, wo sie Menschen fänden, zu töten; bewaffnete Mörder noch über die weitesten Meere zu tragen, Männer, weise und klug und tapfer für die Geschäfte des Mordens, und Werkzeuge und Folterkammern des Todes. Dreitausend Jahre haben wir die Sehnsucht in uns getragen, in die Lüfte zu steigen, und da sie endlich in Erfüllung ging und wir fliegen lernten, da hoben wir uns in die Lüfte und warfen den Tod vom Himmel auf die Erde herab.

So viele Reisen über Gebirge und fremde Länder, so viele Wanderungen durch Städte, durch blühende Ortschaften, wir vollführten sie nicht, daß wir die Erde lieben lernten. Wir suchten nur nach den Schwächen unserer Brüder, daß wir besser wüßten, wo ihre Wunde schmerzhaft ist. Und immer noch wird jeder Tag zum Laufbrett einer neuen schändlichen Handlung, immer noch rollt diese Kugel, deren knöchernes Klappern uns aus halbem Schlummer emporweckt. Glaubten wir nicht, erblindet zu sein vor dem Schmerz dieser Zeit, gewappnet gegen die Gefühle in unserer Brust? Ach, es gibt Falten in dem Gesicht dieses Elends, die sich so unauslöschbar einprägen, daß wir sie niemals vergessen werden.

Gestern kamen die gefangenen Engländer aus Kut-el-Amara an. In langen, staubigen Zügen trieb man sie durch die Gänge des Basars, durch die gaffende Menge der Händler und Straßenverkäufer, daß sie unter dem Hohn der Handwerker, unter dem Zischen der Wechsler doppelt empfänden, wie tief sie gedemütigt sind. An ihrem Ende erhob sich eine unübersehbare Reihe grauer Kamele, nur mit den Stricken ihrer Halfter aneinandergefesselt, auf ihrem Rücken die traurige Last jener Gestalten schleppend, die, von Hunger und Krankheit geschwächt, ihre Füße nicht mehr tragen konnten, die fast aufgehört hatten zu atmen und in leblosen Bündeln an den hölzernen Lastsattel der Kamele geklammert hingen. Aus ihren lehmfarbenen Hosen ragten die von der Sonne geröteten und geschwollenen Knie, deren Haut sich in Fetzen zu schälen begann, und mit langen, dürren Fingern griffen sie nach den Gurken, die mitleidige Hände ihnen reichten, und bissen gierig in das grüne Fleisch. Hier wankten Gestalten, die, barfuß und halb entkleidet, den letzten Rock, ihre Stiefel für ein Stück Brot, für eine Handvoll Datteln gegeben hatten. Auf ihren spitzen Schultern hing, wie über einen Stock gezogen, das am Rande ausgerissene Hemde, bei jedem Schritt ihre Scham entblößend, und zitternd erhob sich aus der Menge ihr grauenvoll ausgehungertes, noch immer mit dem Tropenhut bedecktes Haupt, das auf dem langen Hals wie der klappernde Kopf einer Mohnstaude schwankte. Araber hatten mit Wasser gefüllte Tonkrüge vor die Haustüren gestellt, aber die türkischen Soldaten drängten die schmachtenden Inder beiseite. Ab und zu blieb eines der Kamele stehen, um beim Weiterschreiten das nachfolgende an seiner Leine mit einem jähen Ruck aus der Ruhe zu reißen, daß die schlaffen Glieder ihrer traurigen, immer noch atmenden Last schmerzhaft zusammenschlugen. Zuweilen schien es, als müßten, durcheinandergeschüttelt, diese Augen aus ihren vertrockneten Höhlen fallen, um im Staub unter den Füßen der Tiere zu sterben, die wiederkäuend mit schaumtropfender Lippe, bald vor- bald rückwärts gerissen, eine jammervolle Kette des Elends aus dem Dunkel des Basars von neuem in die glühende Sonne der Wüste tauchten.

Am Abend ging ich durch das Lager der Gefangenen. In der grauen Asche des Staubes lagen ihre Leiber gleich verkohlten Knochen umher. Kleine schlitzäugige Gurkhas und die zarten Glieder der Sikhs, deren fremdartige Augen leidend zu mir aufblickten, aus deren Tiefe die Flamme uralter Gottesverehrung brach. Dazwischen blonde Gestalten, noch knabenhaft und kaum der Mutter entwachsen, mit einem unsagbaren Ausdruck des Nicht-dafür-Könnens, armselige Gestelle von Lumpen. Und wie ich sie so liegen sah, halbnackt, fassungslos aufgelöst, ganz der steigenden Kühle des Nachtwindes hingegeben, da mußte ich mir unwillkürlich sagen: wie merkwürdig, daß es noch eine Erde unter den Füßen dieser Verdammten gibt, um darauf zu schlafen, daß nicht auch unter ihnen eine Sonne glüht, daß ihre Füße nicht auf zwei spitzen Pfählen stehen oder auf einem brennenden Rost, statt auf sonnendurchglühter Wüste ... ja, die Erde ist barmherziger als wir.

Und doch ist dieses nur der Ausschnitt einer Stunde, der millionste Teil des Elends, das von allen Seiten der Erde aufbrüllt und um Erlösung schreit. Ich brauche nur die Zeitung aufzuschlagen, so finde ich eine endlose Liste versunkener Schiffe, die die Ernte dieses einen Monats bedeutet. „Den ersten Mai ein bewaffneter englischer Bewachungsdampfer, zwei französische Hilfskreuzer vor Le Havre, ein französischer Kreuzer La Provence mit 4000 Mann wovon 3300 ertranken ....“ Das sind die bluttriefenden Trophäen, die ein über alles geliebtes Deutschland gleich den zahllosen Kopfhäuten eines skalpierenden Indianers triumphierend an die Schnalle seines Gürtels hängt! Hat je ein Mensch so viel Kraft der Vorstellung besessen, daß er sich ausmalte, wie Tausende von Männern in wahnsinniger Todesangst auf dem Deck eines sinkenden Schiffes durcheinanderrennen in einem einzigen tierhaften Schrei der Empörung, hat je eine Mutter es vor sich gesehen, wie die Not menschlicher Arme durch einen Brei von Blut und zerstückelten Leibern zu schwimmen begann — und ging nicht hin und riß sich das Haupt von den Schultern, dies nicht zu Ende zu denken?

O meine Mutter, wie arm und schwach sind wir geworden. Wir sterben vor Scham, in einer Welt leben zu müssen, die so wenig dem Abbild unseres Herzens gleicht. Auch Du mußtest einem Gotte opfern, den Du nicht verehrst. Auch Deine Söhne hängen in den Speichen eines Rades, das sie zu zerreißen droht. Glaubten wir nicht unverwundbar zu sein? Hatten unsere Seelen nicht in dem Drachenblute dieser furchtbaren Zeit gebadet? Aber Mitleid und Liebe ängstigt und foltert uns. Auch uns blieb wie Siegfried eine verwundbare Stelle in der Hornhaut der Seelen, und durch die schmale Öffnung zittert der grausame Speer, uns bis in die letzten Tiefen zerfleischend.

Dein gefesselter Sohn.


[2] Dieser Brief wurde von der Zensur festgehalten und veranlaßte die Rückberufung des Verfassers aus der Türkei.

An die Mutter

Babel, den 18. Juni 1916.

Meine arme Mutter, als ich Dir das letztemal schrieb, wußte ich noch nichts von dem Tode unseres Bruders, und doch ist mir, als müßte eine Stimme aus einer Ecke des Weltalls zu mir gesprochen haben, daß ich Dir dieses sagte: auch Du hast Deine Söhne der Vernichtung geboren. Als könnte ich Dir heute nur all jene Worte wiederholen, die ich Dir damals schrieb.

Vor zwei Tagen ging ich auf das Armee-Oberkommando, um einen Urlaub nach Babylon zu erbitten. Jemand gab mir einen versiegelten Brief in die Hand, ich lief die Treppe zum Fluß hinunter, um das Boot zu besteigen, und im Hinabschreiten öffnete ich den Umschlag. Als ich den schwarzen Rand erblickte, dachte ich gleich: es ist der Vater. Dann las ich von dem Tode unseres armen Ikarus, der so früh seine Flügel gebrochen hat. Eine Weile später stand ich in dem Hof des deutschen Etappenoffiziers und hörte, wie eine Stimme zu mir sagte: „Was machen Sie für ein Gesicht? ...“ Da fühlte ich, von Krankheit und Hitze geschwächt, wie mir die Tränen aufstiegen, und konnte nicht sprechen.

Ich fuhr den Fluß zurück über das opalfarbene Wasser, badende Knaben scherzten am Ufer, der volle Mond erblühte am Himmel. In dieser Nacht schlief ich wenig. Immer sah ich die Gestalt meiner Mutter vor mir, sah eine unendlich zarte, pergamentene Hand, unter der sich die blauen Adern abzeichnen, wie sie inmitten fremder Menschen und der kalten Geschäftigkeit eines ungerührten Soldatenlebens an dem Sarge ihres Kindes stand, mit einer schüchternen Bewegung ihrer weißen Finger über seine blonde Stirne streichend, als wollte sie noch einmal sagen: mein Junge. Und ich sehe uns ältere Brüder mit einem bunten schottischen Kleidchen zwischen uns durch den Garten unseres Hauses rennen, daß uns die kleinen Beine kaum folgen können, blonde Härchen, über denen eine weiße Pudelmütze hing mit einem Ponpon daran. Und ich sehe unsern Bruder nach Hause kommen mit seinem zerbrochenen Ärmchen, dem der Knochen aus dem Gelenk gerissen war, weil er schon so früh seine Seiltänzer- und Fliegerkünste auf den regenglatten Barrieren des Viehmarktes übte, und ich denke, daß er eigentlich immer unglücklich in seinen Unternehmungen gewesen ist. Armer Ikarus! Vielleicht findet meine Mutter heimkehrend zwei braungewichste Schuhe in einem Winkel des Zimmers, blank wie eine Kastanie, einen seidenen Schlips, auf den er stolz war, und ich bin nicht bei ihr, ihr die Tränen von den Wangen zu küssen.

Im Dunkel gehe ich noch einmal an den Fluß hinab. Unter den Palmen haben türkische Soldaten ihre Zelte aufgeschlagen. Sie liegen, ihrer Uniform ledig, in ihren zerrissenen Hemden auf der bloßen, noch warmen Erde, ihre Lämmer, die sie morgen schlachten werden, in ihrem weißen, wolligen Fell am Boden ruhend, zwischen sich; und ich denke, daß auch sie alle nur geopferte Menschen sind. Aber da sehe ich die Gestalt meiner Mutter von neuem zwischen den Zelten auftauchen, blaß vom Mondlicht beleuchtet, und wieder sehe ich diese schmale, blaugeäderte Hand vor mir, die zärtlich nach der Stirne ihres Kindes greift. Ich steige auf das Dach unseres Hauses und werfe mich auf die Decken. Aber ich kann nicht schlafen. Ruhelos liege ich, bis der Mond untergeht.

Gestern bin ich nach Babylon gefahren. Wir reisten die Nacht durch. Ich saß mit Arabern in einem ungefederten Pilgerwagen, der von vier Maultieren gezogen wurde. So rasten wir, von Gendarmen begleitet, durch die Wüste. Einmal an einer Wasserstelle traten einige hinaus, breiteten ihren Teppich auf den Boden und standen zwischen Sonne und Mond über dem ungeheuren Zifferblatt dieser Ebene, das Gesicht gegen den Himmel gerichtet. Wie nahe empfand ich sie mir in dieser Stunde, als sie niederknieten, voll Anbetung diese ewige Erde mit der Stirn zu berühren, und als ich den Wagen bestieg, stolperte ich absichtlich, mit der Hand in den Staub greifend, erschüttert von der Erhabenheit dieser Natur. Um Mitternacht hielten wir an einer Karawanserei. Ich ließ mein Bett auf dem Dache des Hauses ausbreiten, aß etwas Brot und Käse und öffnete meine Kleider dem Nachtwind. Unten bewegten sich Araber phantastisch im Mondlicht, ein kleiner Junge verkaufte Buttermilch aus einem Ziegenschlauch. „Libben, Libben,“ sagte seine schläfrige Stimme.

Um zwei Uhr weckte mich mein Diener. Wieder rasten wir im Galopp durch die Wüste, und wie glücklich war ich, die Erde von neuem unter mir gleiten zu fühlen. Kamel- und Ziegenkarawanen schwammen im Zwielicht mit wunderlichen Köpfen an uns vorbei. In der hellen Sonne hob sich die Staubkrone von Babylon aus der Ebene. Wieder dringt eine neue Welt auf mich ein, und zwischen Palmenhainen, Dorfhütten und Ziegelruinen versunkener Riesenpaläste fühle ich zwischen den vielen Unbegreiflichkeiten, die mich unter einem heißen Himmel in ausgebrannter Seele bewegen, auch diese, daß mein Bruder gestorben ist. Vielleicht empfinde ich weniger als ihr den Schmerz dieser Stunde, von den Gesichtern fremder Menschen und Landschaften umstellt, den Schmerz, der vielfach gestaltet in den Straßen der Heimat auf mich wartet, um in der Stunde der Heimkehr über mich herzufallen. Vielleicht hat eigenes Leiden mich müde gemacht, in jenen Stunden, da auch ich abgeschlossen hatte mit meinem Leben, dessen Tagebuchblätter mit vielfachen Zungen zu mir reden, auf deren leergebliebenen Seiten jener Zeit ich nichts geschrieben finde als die Worte: „Meine arme Mutter.“ Wann werden meine Augen, die so viel Blut getrunken haben, noch einmal die Tage der Schönheit und des Friedens schauen? Wann werde ich wieder den Duft blühender Veilchen riechen? Fortzugehen aus dieser Welt des Jammers und der Verbrechen, nichts zu sein als ein Baum, ein Stein am Wege, eine Blume im Wind ... o meine Mutter, wer das könnte! Aber glaube mir, daß auch auf Deine Lippen noch einmal ein Lächeln treten wird, wenn aus den Händen Deiner Söhne die starken Früchte erwachsen, die Du ersehntest. Sieh, noch aus den tiefsten Abgründen der Erde wollen wir das Glück der Kommenden in die Höhe bauen, daß Sonne auch um Deine alternde Schläfe spielt, die ich mich zärtlich neige zu küssen. Ach, möchtest Du im Elend so glücklich sein, wie Dein trotz aller Leiden des Körpers und der Seele von tausend starken, unerschöpflichen Gedanken verfolgter Sohn, dessen Liebe bei Dir sein wird immer, immer.

An einen Freund

Hans Feige, gestorben den 2. Februar 1917 zu Sipote in rumänischer Gefangenschaft.

Babel, den 24. Juni 16.

Mein lieber Hans, es scheint, als wenn eine unsagbare Macht mich abhält, meinen Freunden zu schreiben, die im Felde stehen. So erging es mir mit Fritz v. Z., bis er gefallen war, da bereute ich mein langes Schweigen zu spät. Was ist es, das mir die Brücken zerbricht, die zu jenen hinüberführen? Ist es die Unmöglichkeit der Vorstellung, daß Menschen, die das Leben meiner Gemeinschaft führten, in das Rad einer Maschine gespannt sind, die Betätigung eines Handwerks verrichten, das meinem innersten Gefühl so sehr widerspricht? Ist es die Erkenntnis, trotz aller Jahre der Freundschaft, aus Knabentagen heraufgewachsen, trotz aller Gleichartigkeit der Gesinnung irdische und seelische Weiten zwischen sich zu fühlen, die zur Stunde noch unüberbrückbar sind? Ich habe mit stiller Genugtuung Deine Briefe gelesen. Nein, Du bist Dir treu geblieben. Noch zwischen Bajonetten und dem kalten Regen der Schüsse sehe ich Deine Seele tanzen. Noch in Laufgräben und Unterständen sind süße Frauen an Deine Seite gebettet.

Vielleicht schmerzt es mich, daß Du meine letzten Worte so wenig verstanden hast, daß Du Gefühle an Dich gerichtet empfinden konntest, die so sehr anderen Menschen galten. Aber ich will jenes Briefes, auf Krankenbetten, in Bitternissen geschrieben, nicht wieder gedenken. Hier liegen Monate, die der gefolterten Seele Jahrtausende sind. Nur zu lieben, zu schaffen ist meine Seele bereit, zwei Berufe, für die diese Zeit sie schwach und untüchtig gemacht hat. Was soll ich Dir sagen? Wenn ich ein Land wüßte, dem Krieg zu entfliehen, eine Scholle oder die Schroffe eines Berges, noch seinem leisesten Echo fern zu sein oder dem unüberwindlichen Geruch des Blutes, den der Wind über die Erde hinträgt, würde ich, ein Soldat, mit den heiligsten Eiden berufen, Wunden zu heilen und Trost zu sprechen, nicht diese Stätten des Unheils und der vermodernden Schädel verlassen, wortbrüchig, aber treu der heiligsten Pflicht der Seele? Würde ich nicht schwach genug sein, dem Drange nicht länger zu widerstehen in der Unerreichbarkeit der Fremde, sollte ich auch Mutter, Freunde und Geliebte für immer verlassen, für mich, ein Einzelner, das Gebäude des Friedens und der Arbeit neu zu errichten? Und wenn es dennoch einen Ort gab, an dem ich Ruhe fand, eine Stätte, an der ich glücklich wurde, so war es unter dem Dache dieses Hauses, das aus den Trümmern Jahrtausende alter Ziegel erbaut ist, bei dem melancholischen Gesang der Wasserheber, im Schatten uralter Palmen und Maulbeerbäume, den vergessenen Resten des Paradieses, in der Gemeinschaft einfacher und sinnhafter Menschen, Tagediebe und räuberischer Seelen (ja, auch diese noch wage ich zu lieben).

Freilich erschien mir auch hier das Rätsel das gleiche, von dem wir umlauert sind, und nie empfand ich die dunkle Antwort der Erde auf die Nichtigkeit alles menschlichen Tuns so stark, wie auf den zerbrochenen Mauern dieser aus ewigem Schlafe erstandenen Stadt, wenn ich im Abendschatten auf der Höhe dunkelgebreiteter Schutthügel wie auf den Spitzen verlassener Berge zu stehen glaubte und aus den Spalten der silberne Ton einer Blaurake sich hob. Denn auch wir waren bestrebt, höher zu bauen als unsere Väter. Auch wir bauten an einem Turme zu Babel. Auch wir Völker dieser noch atmenden Erde redeten in vielerlei Zungen, waren in Wirrnis geworfen und verstanden uns nicht. Und auch unsere Kinder werden einst einen hohlen Abgrund finden, einen See voll Wasser, über den der klagende Ton einsamer Vögel hinstreicht, wo wir einst gewaltige Mauern errichteten, ragende Türme und unendliche Treppen, in den Himmel zu steigen. Ach, daß wir nicht reif wurden, einen andern Stern zu betreten, da die Erde nicht Raum hat, uns Erlösung zu bringen.

Wo bist Du? In welchem Winkel der Schlachten soll ich Dich suchen, geliebter Gefährte so vieler unwiederbringlicher Jahre? Soll ich auch Dich unter den Toten wiederfinden? Ich fühle, wie es einsam um mich wird. Einsam, da ich noch immer von jugendlichem Stürmen erfüllt bin, da ich erst angefangen habe, zu leben, da ich endlich die Straße fand, nach der ich so lange suchte. Möchte mir die schmerzliche Stunde erspart bleiben, als letzter der Freunde zu sterben.

Vor meinem Fenster, im Uferrasen des Euphrat, gehen junge Araberfrauen, Schößlinge von Palmen im Arm, und wie sie im Schatten der Dorfmauer hinschreiten, gleichen sie sanftfüßigen Boten des Friedens. Möchten die zartfingrigen Zweige ihrer Triebe, ehe sie Wurzel schlagen, seine ersten Tage beschatten. Doch nun sehe ich Dich im Staube der Landstraße dahinziehen, von Sonne und der fröhlichen Schar der Kameraden umgeben, das furchtbare Mordgewehr auf dem Rücken, ein Lied singend. „Der Sohn des Leichtsinns ist immer glücklich!“ — rief mir gestern ein arabischer Eseltreiber zu, der sich lachend auf das mit blutigen Striemen bedeckte Tier schwang, und wenn Kummer und Not und die pedantische Hand des Todes um Dein Haupt sein sollten: bleib mir erhalten, alter Junge!

Brief an die Eltern

Im Palmengarten der Karmelitermönche.
Bagdad, den 21. August 1916.

Welches gerechte Erstaunen, welcher Schmerz, Ihr einsamen Seelen, wird Euch erfaßt haben, als Ihr saht, daß ich fast zwei Monate geschwiegen habe. Daß ich von Zwiespältigkeiten, Demütigungen und einer Menge nur halb gelebter Stunden umhergeworfen, mich fast selber vergaß, seit ich Bagdad, dieses verlogene Gebäude von Schmutz, Staub, glühenden Backsteinen, schlechtem Essen und knechtischem Soldatenton von neuem betrat. Denn wir waren kaum aus der „Pfanne von Babel“ heraus, als uns schon auf der Straße nach Mauhanil das Unheil mit verbogenen Federn in den Staub warf. Als unser Wagen plötzlich zusammenknickte wie ein Kamel, das sich in die Knie wirft, während die zerlumpten Kutscher unter den Kolbenstößen der Gendarmen mit einem arabischen „das tut nichts“ die verbogenen Federn mit Bindfaden wieder aneinanderflickten. Ja, ich glaube, ich verdanke es nur der Güte des Bruders Ägidius, wenn ich im Schatten seiner Feigenbäume noch einmal dazu kam, mich auf mich selbst zu besinnen, wenn ich für Augenblicke zurückschauen kann auf Leiden, Hindernisse und Fallstricke, die ich, ein gehetztes Wild, überspringen mußte, um endlich zur Ruhe zu kommen. Zur Ruhe zu kommen? ... ach, um aufgescheucht, atemlos von neuem durch Gestrüpp und über Abgründe zu stürzen. Denn während ich halb krank durch die Straßen von Bagdad irrte, wie ein persischer Bettelmönch in einem hauslosen Stande lebend, während ich jeden Morgen meine Wohnung wechselte, mit der Last meiner Teppiche und dem zu einem Hausrat angewachsenen Gepäck, während ich in halbzerfallenen Häusern nächtigte, jeden Tag der Stunde der Heimkehr gedenkend, erreichte mich eines Abends der Tagesbefehl vom 26. Juli 1916: „Der Sanitätssoldat Wegner wird in die Cholerabaracken kommandiert.“

Da stand ich im Schein meiner Handlaterne in der Finsternis unseres kleinen Hofes, faltete das Papier zusammen, und mir war, als hielte ich mein Todesurteil in der Hand. Von Fieber und innerem Leiden geschwächt, soeben von den Ärzten eines dreimonatlichen Urlaubs versichert, dennoch von täglichen Verlockungen bewegt und noch gestern bereit, nach Persien oder Ägypten zu wandern, erkannte ich an der Unterschrift dieses Befehls, daß alle Pläne, die ich in den letzten Tagen erwog, mir für immer zerbrochen waren. Niedertracht und Verleumdung, die mit gespreizten Beinen auf den Dächern der Stadt reiten, hatten sich an die Spuren meines Weges geheftet. Der böse Wille eines preußischen Offiziers, der es nicht duldete, daß meine geringe Verachtung vor seiner nur mit einer Schlafhose bekleideten Körperlichkeit sich zu verneigen wagte, statt stramm zu stehen. Denn nach meiner Rückkehr aus Babylon hatte man mich für kurze Zeit in ein fremdes Haus einquartiert, dessen Räume ich kaum betreten hatte, als ein mir unbekannter Deutscher im Türrahmen des Zimmers erschien. An einen vertrauten Umgang gewöhnt, machte ich eine leichte Verbeugung, da er auf seinen nackten, von Schweiß geröteten Schulterblättern die Abzeichen seines Hauptmannsranges in der Tat nicht eintätowiert trug. „Wer sind Sie?“ Ich nannte meinen Namen. Er fragte nach meinem militärischen Rang. Ich würde mich schämen, Euch die Worte zu wiederholen, die darauf folgten. Am Abend fand ich das Feldbett, das mein Diener auf dem obersten Dach aufgeschlagen hatte, eine Stufe tiefer aus dem Wind gestellt. Wenige Tage darauf wollte es das Unglück, daß ich, noch immer auf die Ausfertigung meines Urlaubsscheines wartend, mit einer schönen Frau durch den öffentlichen Palmengarten von Bagdad ging, während der deutsche Etappenmajor vor der Kapelle seinen Kaffee einnahm. Schon am nächsten Abend hielt ich diesen Befehl in Händen, der geeignet schien, die Hoffnung auf Heimkehr für immer in mir zu töten.

Mit wie bitteren Gefühlen, wie schmerzlicher Sehnsucht ging ich in dieser Nacht auf der Terrasse unseres Daches umher, wo Pater Joseph, mit dem ich das einsame Haus teilte, sich neben mir auf das von Palmenzweigen geflochtene Bett warf. „Schlafen Sie ruhig,“ sprach seine Stimme durch das Dunkel, „ich habe es immer gefühlt, daß über Ihnen eine schützende Hand schwebt.“ Ich aber blickte in den nächtlichen Himmel, an dem violett schimmernde Sterne ihr ewiges Spiel begannen. Ich konnte mich nicht losreißen davon, daß dies nicht der Wille der Notwendigkeit war, der mich von neuem auf die Straße des Verderbens stürzte und meinen kaum wiederhergestellten Körper, den ich nicht ohne Mühe auf den Beinen hielt, bald wieder auf das Lager werfen mußte. Mein immer bereiter Wunsch, den Leidenden zu helfen, sah sich gegen eine Mauer haßerfüllter Blicke gestellt, die gerüstet schienen, mich zu vernichten. Aus den weißen Laken der Betten sah ich von neuem die Gebärde der Hilflosigkeit gegen mich Hilflosen gerichtet, die Gesichter des Entsetzens vor mich hingestellt, vielfach und schmerzlich aneinandergereiht, wie ich sie so oft in diesen Jahren gesehen.

Da gedachte ich Eurer und Eurer Liebe, die bei mir war, Ihr einsamen Seelen. Zum ersten Male in meinem Leben, seit vielen Jahren, sah ich Euch beide vereint wie in den Tagen der Kindheit. Eure Augen trugen den alten Glanz, aber Kummer und Sorgen hatten Eure Gesichter gezeichnet. Und von Sehnsucht überwältigt, griff ich zum zehnten Male nach Euren Briefen, aber es waren die alten, tränenbeladenen Seiten, die von dem Tode unseres Bruders kündeten. Wieder sah ich Euch abschiednehmend vor mir stehen, wie Ihr die väterliche und mütterliche Rechte zum letztenmal dem Sohn auf das tote Herz legtet, wie Ihr beide, ein alterndes Zwiegespann, müde an dem verwaisten Herde zurückbliebt.

Mit einer bitteren Verzweiflung ging ich in diesen Tagen von neuem an die Arbeit, bereit, das Letzte zu geben, das in mir war, bemüht um die Schmerzen neuer Menschen, als hätte es irgendwo dort hinten nie ein anderes Dasein gegeben als dieses, das mit bolus alber und trockenem Brot zwischen den Betten umherlief, die mit dem Schmutz der Kranken bedeckt waren. Eines Morgens fand ich in der Schreibstube zwischen den Papieren einen geheimen Befehl an den leitenden Arzt des Lazarettes, der den Vermerk trug: „W. ist so zu beschäftigen, daß ihm jede Lust, in Bagdad spazieren zu gehen, vergeht.“ Man stellte mir also nach dem Leben, beraubte mich des höheren Ranges, den mir der Feldmarschall verliehen hatte, zwang mich zu einer Tätigkeit, der ich bei meinem Zustand nicht mehr gewachsen war, und übertrug mir in schändlicher Absicht bei täglich zwölfstündigem Dienst noch drei Nachtwachen in einer Woche. Nur einem Wunder verdanke ich es, daß die Cholera in diesen Tagen nachließ. Ein an Leiden Erblindeter, irrte ich in den gedeckten Kellern dahin, lief mit arabischen Handwerkern durch die heiße Sonne, einen Leichnam in seinen Sarg zu löten, oder stahl mich im Dunkel zwischen den Palmen hinaus, einem Toten drei Handvoll Erde in die Grube zu werfen, mit dem ich noch gestern bei Tische saß. In diesen Tagen lernte ich den Schlaf über alles lieben. Wenn es zuweilen geschah, daß ich des Nachts emporfuhr, schloß ich erschreckt von neuem die Augen: nicht einen Gedanken länger in einer Welt leben zu müssen, die schamlos die Wurzeln aller Taten entblößte, eine Welt zu schauen, die so sehr das Abbild der Selbstsucht und der Zwistigkeit war, von harten Herzen gesteinigt, unter dem niederen Himmel böse blickender Augen, die nicht gewillt schienen, mich mit Liebe zu lohnen. Voll Wehmut gedachte ich der Tage, da ich mit dem Feldmarschall, mit Sven Hedin und dem erfahrenen Herzoge von Mecklenburg zu Tische gesessen, da ich ihnen im abendlichen Lichte des Tigris vorgelesen, gedachte der achtungsvollen Worte ihrer Freundschaft, der liebenden Geste, mit der sie mir die Hand reichten. Es war weder Ehrgeiz noch Beschämung, die mich erfaßten, daß ich mich plötzlich so herabgesetzt sah und in den Kreis der Enttäuschung geführt (bin ich nicht immer der Gast der Armut gewesen?), aber es schmerzte mich, Verleumdung und niedriger Vergeltung zu begegnen, wo ich zu halbem Erstaunen oft Liebe und herzliche Erkenntnis fand. Der Strom der Bosheit hatte auch mich ergriffen. Ich sah, wie er immer weitere Kreise zog, mich immer weiter hinwegführte von meinen Freunden.

Ach, ich wußte es wohl, die mich liebten, lagen unter den Toten draußen oder kehrten enttäuscht und ungläubig in die Heimat zurück. Und eines Mittags, nachdem ich die Nacht Wache gehalten, lief ich in die Wüste hinaus, das Grab meines Stabsarztes zu suchen. Aber ich irrte vergeblich in glühenden Winden zwischen Aas und zerfallenen Hügeln umher, bis ich im Staube kauernd den blinden Wärter des Friedhofes fand, der, mit greisen Händen über den Buckel der Gräber tastend, lange zwischen den zerfallenen Steinen umherlief, mich endlich vor eine kahle Stelle zu führen. Enttäuscht blickte ich auf die entblößte Stätte dessen, den ich geliebt hatte, die so Unvergeßliches für mich barg, von denen betrogen, die mir während meiner langen Krankheit oft ihr Wort gegeben, dafür Sorge zu tragen. Nicht ein Zeichen der Erinnerung war mir geblieben, als der traurige Schatz meines Herzens, mit dem ich Trostloser zurücklief in die Stadt.

Und ich ging durch den schlafenden Bazar, dessen hundert Augen geschlossen lagen, denn es war Feiertag, und dessen schmale Gänge sich in finsterer Einsamkeit dehnten, bis der Zufall mich in eine verlassene Karawanserei führte, wo alte Teppiche, Möbel und Waffen vergangener Jahrhunderte aufgespeichert lagen. Und wie ich mich so einsam und bekümmert zwischen ihnen stehen sah, von Krankheit und Heimweh geschwächt, in meinem abgerissenen Waffenrock und meinen staubigen Soldatenstiefeln, da fühlte ich, daß auch ich nichts anderes war, als ein wertloser Gegenstand, noch eben gut, um als Hemmschuh für das gleitende Rad des Todes zu dienen, alt, abgebraucht und um sechzig Piaster verhandelt.

Euer Sohn, der Freund der Toten.

Der Triumph der Mutter

Bagdad, Mesnil Schah Bender,
den 30. August 1916.

Am vergangenen Sonntag ging ich in die lateinische Kirche. Sie feierten das Fest der heiligen Jungfrau Maria. Chaldäische Christinnen in ihren weiten seidenen Gewändern füllten das Schiff, arabische Kaufleute, über denen der Priester, schwarzbärtig, die weihrauchgefüllte Kugel schwang. Ich setzte mich unter sie, ich blickte auf das mit Palmenzweigen geschmückte Bild der Gottesmutter, die auf ihren Armen den Sohn trug, und mir war, als schaute ich in Deine Züge, Mutter, die in unendlicher Liebe auf mich herabsahen. Waren nicht auch mir die Worte gesprochen worden: „Beatus venter, qui te portavit, et ubera quae suxisti?“ Ging nicht von diesem Lächeln aller Friede der Erde aus, stand es nicht wie die aufgehende Sonne über den Tagen der Kindheit, an deren Ende jene Wildnis der Seele beginnt, in die wir alle hinausgetrieben werden, verirrte Tiere? War nicht auch Dein Leid ein Meer? Hattest Du nicht die sieben Schmerzen Marias getragen, den Sohn in Kummer geboren, mit ihm die Kämpfe und Enttäuschungen einer langen Jugend erlitten, ihn dargebracht auf dem Opfersteine der Menschheit, daß verblute, was mit soviel Mühen Deinem Leibe, Deinem Herzen entwachsen war? Als Du ihn wiederfandest in seinem zerrissenen Fliegerrock, von dem Schmutz dieser Erde bespritzt, gekreuzigt an die zerbrochenen Flügel seiner Maschine, waren da nicht auch Dir aus den unbarmherzigen Tiefen der Finsternis die Worte gesprochen worden: „Siehe da, Deinen Sohn!“ Glitt nicht in jener Stunde vervielfacht und geläutert die namenlose Liebe auf uns Brüder herab, die von unendlicher Trauer verklärt vor uns die Flamme Deines Hauptes emporhob?

Inventa es Mater Salvatoris Virgo Dei Genetrix, quem totus non capit orbis in tua se clausit viscera, factus homo.

Ich neigte den Kopf, alle Bekenntnisse der Trennung und dieser schmerzlichen Zeit im aufgewühlten Herzen bewegend, und dachte: „Ich kann Dein Gesicht nicht zu mir hertragen, Mutter, so viele Jahre liegen zwischen gestern und heute; aber aus jeder Landschaft noch, die ich beschreite, blickt Deine Güte, aus jedem Sturme spricht Deine Stimme zu mir. Mein Geist ist dem Deinen nahe. Meine Seele bettet sich in das Tal Deiner Wangen, sie wandert in den Falten Deines Gesichtes einher wie der Wanderer, der in den Schluchten der Berge verirrt ist, und findet nie ein Ende. Ich bin ertrunken in Deinen Augen. Wie die Welle über den Schlummernden am Grunde der Wasser, so gleitet über mich Deiner Liebe Lächeln.“

Arabische Knaben erhoben die helle Stimme zum Gesang. Die Seele, des schwebenden Schrittes entwöhnt, stürzte in sich zusammen. Neben mir knieten zwei gefangene Engländer in ihrem lehmfarbenen, sauber gebürsteten Waffenrock; ich blickte auf die Leidenslinie ihrer jungen Gesichter, und wie ich sie so an meiner Seite sah, die Kette des Skapuliers über die Schultern gehängt, die sie beschützt hatte vor Krankheit und Tod, vor den Gefahren der Schlacht, in dunkler Gefangenschaft, wie sie fern von der Heimat, die liebliche Heiterkeit englischer Dörfer vor Augen, die Gesichter betend hinter der mageren Hand verbargen, wurde die Stimme des Brudertums so laut in mir, daß es mir Mühe machte, die Tränen zurückzuhalten.

Laudemus omnes in Domino diem festum celebrantes sub honore beatae Mariae Virginis.

Als ich wieder aufsah zu dem palmengeschmückten Bilde, fand ich ihr Gesicht zum zweitenmale verändert, als blickten alle, die in dieser Kirche versammelt waren, arabische, armenische und chaldäische Christen, griechische Kaufleute, deutsche Offiziere, verwundete, kranke und gefangene Soldaten, Frauen, Kinder und Greise mit mir empor zu der Mutter des Menschengeschlechts, die die gesegnete Frucht ihres Leibes umklammert hielt, sie liebevoll hinter dem schützenden Mantel zu bergen. Und ich sah Leid, Kummer, Zorn und Verzweiflung in den Lichtern ihrer Augen stehen, zwei spitze, schwertheiße Flammen. Da erkannte ich die Menschheit, die von Schmerzen zerrissen und fluchbeladen mit mir in diesem Raume kniete, eine stumme, untröstliche Gemeinde, die gekommen war, an ihrem Bilde um Vergebung zu bitten.

Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!

Dumpf tönte das Aufschlagen der Hände gegen die Brust.

Da aber klang in unendlicher Versöhnung ihre erlösende Stimme aus der Höhe herab: „Ich habe Frucht getragen wie ein Weinstock, ich gab von mir süßen Geruch. Ich bin die Mutter der schönen Liebe, der Furcht, der Erkenntnis und heiliger Hoffnung. In mir ist Gnade jeglichen Weges, jeglicher Wahrheit. Kommt zu mir alle, die ihr mein begehrt, an meinen Brüsten werdet ihr gesättigt werden. Mein Geist ist süßer denn Honig, meine Erbschaft köstlicher denn Honig und Honigseim. Mein Andenken bleibt in ewige Geschlechter. Die mich essen, werden noch hungern, und die mich trinken, werden nach mir durstig sein.“

Alleluia, alleluia. Per te, Dei Genetrix, nobis est vita perdita data: quae de coelo suscepisti prolem et mundo genuisti Salvatorem. Alleluia.

Die silbernen Schellen erklangen, der Priester küßte das goldgeschmückte Buch, Weihrauchwolken erhoben sich zum Gewölbe der Kirche. Eine süße Wehmut stieg auf in meiner Brust, und aus ewigen Gründen hörte ich eine Stimme sagen: „Lege von Dir den Rock, der mit Schmutz und Eiter bedeckt ist. Laß liegen den Kranken auf seinem Bett, auf seiner Bahre den Verwundeten, den Sterbenden in seinem Blut. Auch Du bist berufen, ein Jünger zu sein, auf Erden das Reich Deiner Mutter aufzurichten, ein Baumeister der Liebe unter den Völkern und eine leise Stimme der Zukunft. Hatte ich nicht in Dein Herz die Gabe der Liebe gelegt, die Gewalt der Rede, die ich Dir geschenkt hatte? Hättest Du nicht aufstehen sollen, Deine Hände gegen den Mund zu legen, sei es auch gegen eine Welt kalter Gerechtigkeit, um zu sterben unter dem Hasse der Menge, ein Narr des Edelmutes, eine Heldenstimme der Unvernunft? Du aber gingst hin, verschlossest den lebendigen Strom des Gewissens, weigertest Speise und Trank Deinen Worten, die hinter dem Gehege Deiner Zähne dahinstarben wie gefangene Tiere. Du Knecht der Stummheit! Du Verbrecher des Schweigens! Du Dieb der Wahrhaftigkeit!“

Regina mundi dignissima et mater perpetua intercede pro nostra pace et salute.

Aber zum dritten Male aufschauend erblickte ich hinter dem palmengeschmückten Bilde den Leib des Gekreuzigten, mit Blut bedeckt, die Hände von Nägeln zerschlagen, und erkannte in ihm das Bild dieser Erde, die, in Kriegen verstümmelt und von grenzenlosem Elend verzerrt, sich einen Leichnam zum Sinnbild ihrer höchsten Verehrung gemacht hat. Sie drängten hinzu mit gierig geöffneten Lippen, ich sah, daß ihre Seele ein reißendes Tier war, die verschlang das Kind Deiner Liebe, das Du geboren hast, die trank von dem heiligen Blute des Bruders und wurde trunken davon. Ihre Nahrung war der Leib eines Toten.

Accipite et manducate, hoc est enim corpus meum, quod pro vobis tradetur.

Und von grenzenlosem Schmerze erfaßt, drängte ich hinaus, ein Betäubter, den ein Stein vor den Kopf getroffen. Noch auf der Straße, inmitten der Menge, die um die Tische der Bazare war, unter Handwerkern, Kaufleuten, unter Juden und Mohammedanern, Christen, Bettlern und Soldaten, während durch die offene Tür die Orgel in den Lärm des Marktes klang, schrie es auf in mir: „O Du erhabene Mutter des Menschengeschlechts — sie beten Dich an, aber sie durchbohren Dir das Herz! Wer soll uns erlösen, wenn Du es nicht bist, Mutter? Aus Deinem Schoße wachsen die Kinder der Welt. Stehe auf aus den tausend Müttern der Erde, erhebe Dich aus den Millionen Herzen, die gelitten haben! Verschließe den Schoß, der so viele Leben geboren hat, laß versiegen den Quell Deiner Brüste! Stehe auf aus den volkreichen Städten Deutschlands; aus den Kathedralen von Frankreich, aus der Finsternis englischer Fabriken erhebe Deine Stimme! Aus den Wäldern Indiens, aus den Zelten arabischer Wüsten, den verschneiten Hütten russischer Dörfer beginne den Klagegesang. Aus der toten Verlassenheit anatolischer Felsenhöhlen, aus dem traurigen Wohnzimmer der Witwe, die in ihrem hölzernen Käfig dahinsiecht, aus der steinernen Klippe am Hang sizilianischer Felsen, wo die Stimme des Meeres in das Singen der Wiege klingt, laß Deinen Ruf laut werden, halte nicht länger zurück das Gewitter Deines Zorns und der Verzweiflung! Hebe Dich auf aus den Tiefen der Trauer und Einsamkeit, lege Deine Hände vor das Antlitz des Todes, und laß den Lärm der Schlachten verstummen, daß die Welt rein werde von den Greueln des Blutes. Denn Deine Kinder sind schwach und untreu ihres Gelübdes. Sie lernten es wohl, das eiserne Rohr zu führen, aus dem die teuflische Kugel fliegt, aber untüchtig sind sie und feige für die Arbeit des Brudertums. Sie achteten Deiner nicht, gingen hin und verrieten das Wort Deiner Liebe. O gib Brot und Speise denen, die hungern, gib einen Vater den Kindern wieder, nicht länger laß einsam sein den Schlaf des Weibes. Aus ihren weißen Betten steigen die Gebete der Kinder zu Dir auf, und aus den Gräbern noch blühen die Hände der Toten. Denn Dir gehört alle Herrlichkeit der Erde, Mutter, alle Kraft der Liebe, alle Barmherzigkeit!

Qui audit te non confitetur et qui operantur in te non peccabunt. Qui elucidant te, vitam aeternam habebunt. Ave Maria!

An Carl Hauptmann

Kriegslazarett Kasim Pascha,
den 3. September 1916.

Welchen Balsam haben Ihre Worte in meine Wunden getan! Wohl weiß ich, daß jeder Brief ein Pfeil ist, der in das Ungewisse fliegt, von dem wir nicht ahnen, in welchem Lande, zu welcher Stunde er niederfällt; der Ihre aber traf mich mitten im Herzen. Mir ist, als erwachte ich für Augenblicke aus tiefem Schlaf. Daß es noch eine lichtere Landschaft gibt, als die flache Ebene dieses Daches, wo ich meinen Tisch zwischen die Betten gestellt habe, und die flackernde Kerze, die von dem Atem der Kranken bewegt scheint, um Ihnen zu schreiben; wo ich im Schlafkleid unter dem hellen Mond seltsame Wache vor dem Tode halte, der unsichtbar in den Adern der Menschen umhergeht, der jeden Tag mit weißem Gesicht glühend am Himmel heraufsteigt und seine seltsamen Inseln, Kamel-, Pferde- und Stierleichen, die aufgelösten Leiber toter Soldaten mitten durch den Strom der Stadt treibt, daß wir nie vergessen, daß wir auch hier in den Laufgräben des Krieges schlafen.

Wenn ich zurückdenke an das Leben, das ich einstmals geführt habe, an die stille Tafelrunde der Geister, die diese Zeit so lange hungernd von ihrer Mahlzeit scheuchte, so befällt mich oft eine stille Angst, daß dies alles nur ein merkwürdiger Traum war, der niemals Wahrheit besessen. Daß ich nie ein anderes Zimmer bewohnte als diesen einäugigen Raum, dessen Scheiben mit Papier verklebt sind, in dessen Winkel an einer aufgespannten Schnur meine Wäsche und meine Kleider hängen, in der die Koffer geschlossen und die Teppiche in Ballen gepackt liegen, als gelte es, jede Stunde des Aufbruchs gewärtig zu sein. Hat es auch für mich Wandernden einmal Heimat gegeben? Wann geschah es, daß ich auf etwas anderes blickte als gleißende Backsteinbauten oder in das sandige Auge der Wüste? Der stille Gleichmut des Landes hat seine tröstende Hand auch auf mich gelegt. Die Flamme des Zornes ist herabgebrannt, ich habe lächeln gelernt, was mich noch gestern in Empörung versetzte, begreife ich mit ergebener Anmut. Wie oft muß ich an meinen arabischen Diener denken, der jede Frage mit einem „Warum“ beantwortet. „Ist das Essen fertig?“ — „Warum soll es nicht fertig sein?“ — „Hast du meine Stiefel geputzt? Ist Reis, sind Tomaten da?“ — „Warum nicht, Sahib?“ Und wenn ich ihn darnach fragte, würde er nicht antworten: „Warum sollst du in Deutschland sein? Kannst du mir sagen, weshalb diese Erde besser sein sollte, als sie es ist? ...“ Aluan wird 17 Jahre alt, ist zum zweiten Male verheiratet und hat zwei Kinder auf dem Friedhof liegen. Seit ich in den Tagen meiner Krankheit an seinem feindlichen Unbegreifen so oft in hilflose Verzweiflung geriet, hatte ich nie geglaubt, daß wir einander menschlich so nahe kämen. Wir beide haben manches von einander gelernt.

Einmal besuchte ich ihn im Hause seines Schwiegervaters in Kazimen, lag die heißen Stunden des Mittags in seiner ländlichen Hütte auf der besten buntgedruckten Matratze, die er auf dem Erdboden ausgebreitet hatte, und deren Muster ich noch immer auf der Rückseite meines Hemdes trage. An der Wand hingen die kostbaren Frauenkleider aus grüner und roter Seide, und während ich schlief, kamen Kälber und Eselinnen, mit kauenden Mäulern, und berochen mit großen Augen den Gast. Bei dieser Gelegenheit sah ich auch Aluans starke und wohlgebaute Frau, zu der er jede Nacht eine Stunde weit von Bagdad nach Kazimen läuft, um erst im Morgengrauen wiederzukehren.

Zuweilen fahre ich mit ihm nach der Insel hinaus, um zu baden. Hinter der Stadt bildet der Strom eine breite Sandbank, auf der Fellachen ihr Gemüse bauen. In meinem zeltüberdachten Boote versteckt, die persische Mütze auf dem Kopf, gleite ich heimlich aus der Stadt, denn ich bin ein scheuer Fremdling unter den Leuten des eigenen Volkes geworden. Dann breite ich meinen Teppich auf den Sand der Insel, ziehe mein baumwollenes arabisches Überkleid an, lese im Homer, im Herodot, im Goethe oder der Bibel, die meine nie versagenden Tröster sind; denn ich bin nun ganz zurückgekehrt zu den ewigen Menschheitswerken, die jenseits alles Ruhmes und Streites dieser Zeit liegen. Neben mir, auf den Fersen sitzend, hockt Aluan, und nachdem er lange geschwiegen hat, lächelt er nachdenklich. „Ja, siehst du, Sahib,“ sagt er zu mir, „das ist der Unterschied. Ich habe eine Frau und kein Essen. Du hast Essen und keine Frau.“ Auch hier spricht die Stimme des Menschlichen zu mir, und mit leiser Rührung betrachte ich die sanfte Neigung seines Kopfes, wenn er mir zuhört, oder die zärtliche Geste, mit der er nach einem Zipfel meines Kleides hascht, seine Lippen darauf zu drücken und mir für eine Kupfermünze zu danken.

Aber ich habe noch andere Brüder, die heimkehrend in den Stunden des Abends auf mich warten. Hinter der Brücke am Wasser liegt die kleine Moschee. In den Nächten des Ramadan bin ich der Gast der alten Mollahs. Hier ist Munir, der Erleuchtete, ich sitze zu seinen Füßen und lausche auf seine Stimme. Einmal fragen sie mich nach meinem Namen. Ich sage ihnen, wie ich heiße; seitdem rufen sie mich „Tarik“. Wir lesen einander Gedichte in arabischer und deutscher Sprache vor, und obwohl keiner des anderen Worte versteht, hören wir doch einander zu und sind voll Andacht.

Mein arabischer Diener, die alten Gelehrten im Schatten der Moschee und Pater Joseph, mit dem ich das Dach meines Hauses teile, sind nun meine einzigen Freunde geblieben, vielleicht noch ein sterbender Hund, den ich am Wasser, krank und mit Wunden bedeckt, zwischen dem Lärm der Bootsführer und Wasserträger ganz in sich versunken, die geheimnisvolle Arbeit des Todes verrichten sehe. Aber die Stunden sind selten, da ich in ihrer Mitte bin. Ich habe aufgehört, mir selbst zu gehören, in eine Reihe inhaltsloser Tage gedrängt, ein bodenloses Gefäß, das leer wurde, noch ehe wir es zu füllen begannen. Nicht immer ohne Bitterkeit trage ich diese Stunden und die Demütigungen, die mit meiner Arbeit verbunden sind; denn auch hier gilt nur, wer zu töten berufen ist, und ein liebender Menschenpfleger ist im Grunde eine verächtliche Gestalt. Möchte mir nur die Liebe derer bewahrt bleiben, denen ich, meiner selbst kaum mächtig, die letzte Kraft meiner Hände reiche.

Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich vom Dach in den Hof auf die lange Reihe ihrer Betten hinab, wo sie, ihrer Decken entblößt, nebeneinander liegen, das eine Knie in die Höhe gezogen, als stiegen sie noch im Schlaf eine unendlich mühsame Treppe hinauf. Und ich höre wieder die Stimmen der deutschen Soldaten, die, heimgekehrt aus der Wüste, mir von den bitteren Mühen ihres Lebens erzählen, wie sie hier, am „Hintern der Erde“, von Hunger, Krankheit und Heimweh zernagt, der letzten Hilfe, des Beistandes ihrer Offiziere beraubt, die sie ohne Grund in der Glut der Mittagsstunden in der sommerlichen Wüste Schanzen werfen ließen, in einer „türkischen Fremdenlegion“ dienten. Noch gestern saß ich an dem Bett eines sterbenden Offiziers, in dessen letzten Träumen das bittere Gefühl versagter Freundschaft umging, die Scham und der Vorwurf gegen die Kameraden, die, Verbrecher aus Ehrgeiz und Niedertracht, ihren Untergebenen die Liebe verweigerten, die sie ihnen schuldig waren. Nun tönt aus dem Schatten der Mauer die Stimme eines jungen Soldaten, der seinen türkischen Wärter ruft: „Mustapha, Musta — pha!“ leise und kläglich, als riefe er seine Mutter. Ich blicke auf und schaue den schwarzen Strom hinunter, in dem die letzten Lichter der Stadt sich spiegeln, blicke in das Wunder der fallenden Sterne, die wie glühende Geißeln über den nächtlichen Himmel peitschen, die herabsickern, langsam fallende Schneeflocken, silberne Tränen. Jetzt blitzen sie auf, gewaltige lichthelle Kugeln, die eine unsichtbare Hand über die Erde hinabwirft, zu schauen, ob der Krieg noch immer nicht das verwüstete Lager entweihter Unschuld verließ. Sie verlöschen, und wieder wird Nacht. Aus dem Dunkel des Flusses aber tönt die leise Stimme eines arabischen Fischers, der in seinem Boote schlafend den Strom hinabtreibt:

Die große Palme und der kleine Schößling sind dahingegangen,

Ich blieb allein zurück.

Mitten in all das kommt Ihr Brief, und ich fahre empor wie ein Schlafwandelnder. Freude! Freude! Aber auch Kummer erfaßt mich. Ich sehe die frischgelöschte Tinte Ihres Namens darunter, als wäre ich eben in der Winterstille durch den Schnee der Berge herabgekommen, trete in das abendliche Zimmer und sehe, wie Sie vom Tische aufstehen und aufhören zu schreiben. Wie ich zu lesen anfange, erkenne ich verwundert, daß ich selber es bin, an den diese Worte gerichtet wurden. Werde ich wirklich noch einmal diese Stube schauen? Wann wird der Tag kommen, da mir und Euch allen die Worte geschenkt sind: „Hier gebe ich Dir Armin Wegner zurück.“ Wie anders wird die Gestalt sein und die Seele, die wieder unter die Augen der Freunde tritt. Ihr werdet die ersten weißen Haare auf dem Haupte der Jugend schauen. Denn es ist ein Weg ohne Heimkehr, den wir beschreiten, an dem wir wohnen wie die abgeschiedenen Seelen der Babylonier, deren Nahrung der Staub ist, und die von ihm zurückkehren, tun es nicht ungestraft. Andere Augen sind es, mit denen sie schauen; sie bleiben gezeichnet für den kommenden Tag.

Dennoch glühen unter der Asche dieser Tage purpurne Flammen, die zuweilen urplötzlich hervorbrechen, vor deren geheimer Gewalt ich erschrecke, als wenn sie mich selber vernichten müßten! Ein unbändiges Verlangen ergreift mich, die Schritte hinaus zu setzen, in welche Höhen und Abgründe sie auch führen mögen, fort! fort! verkleidet in das Gewand eines Beduinen, bettelnd, mit Aussatz bedeckt, und sei es auch, um in der Wüste zu sterben. Aber schon höre ich die Schritte der Häscher im Hof, die mir das Blut in den Adern erkalten lassen. Wohin? Wohin? ... Einst sagte mir ein arabischer Wahrsager, den ich im Staub der Straße um meine Zukunft befragte, indem er die Würfel auf eine messingne Schale legte, in die das Zeichen des Widders und des Steinbocks gegraben war: „Was du im Herzen trägst, wird in Erfüllung gehen.“ Aber was ist es, das ich im Herzen trage: Tod, Leben, Ruhm oder Untergang, Glück oder Verbrechen? Auch der Gram ist nur eine Stufe der Lust; hinter den härtesten Leiden noch gilt es zu jubilieren wie eine Lerche. Nur eines weiß ich, daß mit mir die Liebe ist, daß sie mich weiter begleiten wird, und sei es auch zu den Abenteuern und Ländern, die jenseits dieses Lebens liegen. „Friede sei mit Dir!“ rufen mir die Araber zu, denen ich des Nachts in den dunklen Gassen begegne; mit mir aber geht der Unfriede, mit meinem friedlichen Herzen die Unrast, die mich durch alle Schmerzen der Erde von der Hölle bis zu den Sternen treibt, immer duldend und immer voll Neugier.

Ihr Armin, genannt Tarik, das ist „der des Weges Schreitende“.

Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr

An Pater Joseph

Hadit, den 30. September.
Früh ½7, im Schatten eines alten Wasserrades.

Bester Pater! Ihnen den ersten Gruß. Daß es weiter geht. Daß die Erde sich wieder rundet. Als Sie mich bei meiner Abreise baten, Ihnen zu schreiben, schien mir dies freilich ein Wunsch, dessen Erfüllung fern in einer heimatlichen Schreibstube lag. Aber nun ich die ersten Tage durch die Wüste gereist bin, sehe ich, wie sehr meine Gefühle bei Ihnen blieben, wie fremd mir die Heimat noch ist. Dabei denke ich nicht ohne Genugtuung daran, daß ich dieser letzten kurzen Erkrankung, die mich nach den Anstrengungen der vergangenen Wochen zum drittenmal auf das Lager warf, den Aufbruch zur Heimkehr verdanke, die fast noch in der Stunde des Abschieds an dem Mangel an Wagen gescheitert wäre. Dieser Heimkehr, die keine Heimkehr ist; denn auch meine verblutete Seele liegt bei den Toten in der Steppe begraben und wird nie wieder in das Land zurückkehren, das ich vor kaum zwei Jahren verließ. Wie oft muß ich mich unserer erregten Gespräche in den verdeckten Kellern von Mesnil Schah Bender erinnern und jener tröstlichen Worte, die ich Ihnen zurückließ: „Meine Irrtümer sind mir lieber als Ihre Wahrheiten.“ Aber ich fühle auch, daß hinter allen Widersprüchen etwas Menschliches lag, das wieder zu zittern anhebt. Ja, jetzt erkenne ich, wie schwer mir der Abschied wurde, seit das letzte Wahrzeichen der Stadt verschwand, jene einsame Grabpyramide, die halb zerfallen hinter Kazimen in der Wüste steht. Zwei Tage sahen wir sie in der Sonne leuchten, dann löste sie sich in Rauch auf.

Heute werden wir zum erstenmal einen Tag rasten. Die Kutscher haben die Splinte aus den Wagen gezogen und sind in das Dorf gegangen; so habe ich Zeit, in Geduld zu warten. Ja, das Menschliche. Wie es mich auch hier auf allen Dörfern und Wegen der Wüste begleitet! Jener oft wiederholte Gruß der Fellachen, jenes „Bruder, Bruder“, mit dem uns die Beduinen die Früchte ihrer Felder reichen, der Bettler die Hand nach uns ausstreckt, scheint mir ein tägliches Gleichnis meiner Gedanken. Oft, wenn ich in die Gasse ihrer lehmgehärteten Hütten trete, gesellt sich ein arabischer Junge zu mir. „Eier! Eier!“ ertönt unsere Stimme vor den Türen, dann kommen die Mädchen und Frauen aus den Höfen heraus. Ich bleibe bei den Männern an ihren Webstühlen stehen, mit ihnen zu plaudern (sie hocken in einem Loch in der Erde). Zutraulich legen sie mir die Hand auf die Schulter. Ich sitze bei den Frauen auf ihren Matten, und sie verschleiern sich nicht.

Während aus den tönernen Schaufeln des Wasserrades ein feiner Sprühregen über mich herabfällt, blicke ich nach der schmalen Insel des Euphrat hinüber, auf der zwischen Palmen die Hütten aneinandergedrängt stehen, eine graue Feste. Bronzene Gestalten treten zögernd in das Wasser, das Bündel ihrer Kleider wie einen wunderlichen Turban um den Kopf geschlungen. Und wie ich dem Spiel ihrer Leiber zuschaue, die sich schwer gegen die Strömung beugen, wie sie, ihre Kinder auf dem Rücken tragend, das Ufer hinaufklettern, über das die warme Morgensonne streicht, fühle ich wieder, wie ich trotz Tod und Tränen in dieses Land verliebt gewesen bin.

Täglich streifen wir viele Stunden weit durch seine hungrige Weite. Schon vor Sonnenaufgang, wenn die Pferde noch ungeschirrt an den Wagen stehen, wandere ich zu Fuß hinter der Karawane her. Blaß hebt sich die Staubwolke unter den Tritten der keuchenden Tiere, bis der Tag kommt, und der Schatten ihrer spitzen Ohren deutet auf unseren Weg. Dabei bin ich von einer so überquellenden Heiterkeit und Fülle der Gesichte bewegt, daß es mir kaum gelingt, im Weiterschreiten auf ein zerflattertes Papier ein paar kurze Aufzeichnungen zu machen. Welche Veränderung ist mit mir vorgegangen! Selbst meine Uhr, die seit Monaten still stand, begann drei Tagereisen hinter Bagdad wieder zu gehen. Oder ich lehne in den heißen Mittagstunden im Winkel unseres schaukelnden Pilgerwagens und träume zwischen Wachen und Dämmern von einem großen Manifest des Friedens. Ist es Europa, dem ich mich nähere, das mich so froh macht? Ich glaube, wenn es nach Indien oder Ägypten ginge, ich könnte nicht glücklicher sein.

Gestern, schon in der Dunkelheit, wir waren den ganzen Tag durch löchrigen Boden gefahren, blieb unser Wagen allein in der Steppe zurück. Ich war auf den Bock gestiegen und hatte selbst die Zügel unserer vier Pferde in die Hand genommen, aber die hartgewordene Krume einer ausgetrockneten Wassermulde zersplitterte unter unseren Rädern wie Glas. Die Pferde zogen an, zerrissen die Stränge, zitterten und blieben stehen. Und während der Kutscher mit tränenverzerrtem Gesicht und einem „Hilf Allah“ immer wieder vergeblich auf die Pferde einschlug, ging ich im offenen Hemd und meinen weichen Schlafschuhen allein eine Stunde weit unter dem sternenbeglänzten Himmel, das nächste Dorf zu suchen. Wie nahe wart Ihr mir alle, während ich still vor mich hinschritt, einsame Worte mit Euch tauschend. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um das Schlagen Eurer Herzen zu fühlen. O beglückende Müdigkeit, als endlich auch unser Wagen in den finsteren Hof der Karawanserei rollte, spät unter dem offenen Wind zu schlafen, unter den Kaugeräuschen der Tiere, die zwischen unsern Lagern umhergehen. Dann tönt das Donnern der Wasserräder lauter vom Fluß, und die Glocke des Leithengstes klingt noch lange in unsern Traum ...

Grüßen Sie Aluan, Dschafar und Achmed und die andern kleinen Bootsjungen, mit denen wir hinab nach der Insel fuhren. Gedenken Sie der Lebendigen und der Toten. Und wenn Sie durch jene trümmerbesäte Straße gehen, durch die wir oft im Dunkeln stolperten, so vergessen Sie nicht, daß ich auch diesen Staub unter Ihren Füßen noch liebte.

Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr

Aus dem Tagebuche

Rahije, den 2. Oktober,
abends ½6.

Eben im Euphrat gebadet, Grund sehr steinig. Die ersten stärkeren Wolkenzüge treten auf und beschatten die Sonne. Die letzten Palmen sind verschwunden. Vor Ana habe ich mir für zehn Piaster ein schwarzes Lämmchen gekauft. Schon drei Tage schleppe ich es mit mir und habe die größte Freude, es während der Fahrt auf dem Schoß zu halten und zu streicheln.

Gestern nachmittag, wir fuhren, Wagen und Karawane, in enggeschlossenem Zug, uns vor Überfällen der Beduinen zu schützen (am Vorabend waren deutsche Schahturs überfallen worden, und es gab acht tote Araber), ein wenig schweigsam, denn es war spät geworden, stand plötzlich in der Abenddämmerung ein seltsames Zeichen am Himmel. Ein langer, geschwänzter Strich wie die helle Schnur einer Peitsche. War es der rauchende Schweif einer Sternschnuppe oder spiegelte sich der leuchtende Lauf des Euphrat in den Wolken wider? Alle Blicke waren auf den blassen Himmel gerichtet, wo es unverändert fast zehn Minuten verweilte. „Das ist ein Zeichen des Friedens,“ sagte eine Stimme. Mir aber schien es eine feurige Geißel, die über der Erde stand. Unwillkürlich neigte ich den Kopf, als müßte ihr sausender Schlag auch über mich und unsere kleine Karawane herabfallen, die mühsam und gedrückt über den steinigen Grund dahinzog.

Abu Kemal. Dreizehnter Tag.
Abends 5 Uhr.

Heute nur acht Kilometer zurückgelegt. Kahle, steinige Uferhöhen, die wir nur langsam hinaufklimmen, verwahrloste Wege. Weite violettschimmernde Hochebene, durch die der Fluß stahlgrau dahinzieht. Überall liegen lose Brocken zerstreut, als wäre ein ungeheurer Steinregen herabgefallen. Gegen Mittag raste Hassan, der Führer der Kutscher, mit seinem Wagen in das ausgetrocknete Bett eines Flusses. Alle Pferde bluteten. Zwei Räder waren völlig zerbrochen, und der Wagen schleppte sich, auf den Speichen rumpelnd, mühsam bis in den Chan. Gestern ging ein Maultier mit allem Gepäck in den Fluß, konnte aber gerettet werden. Ein Pferd, das beim Tränken über die Uferböschung stürzte, wurde abgetrieben. So gibt es täglich Verzögerungen. Wir werden zwei Tage hierbleiben.

El Gahsim, den 6. Oktober.

Bei Sonnenuntergang unter dem Dach einer weidengeflochtenen Hütte. Neben mir vor einem Feuer von Eselsmist hockt ein blinder Araber. Über mir an den Zweigen hängt in einem leinenen Beutel der Koran. Ein ungeheurer Staubsturm hat die Ebene mit einem schwarzen Mantel bedeckt. Wir hatten eben abgekocht, als die Wolke plötzlich über den Horizont sprang, Blitze wie feurige Flammen. Von den hohen Wellen des Euphrat wurde der Schaum so weit durch die Luft gewirbelt, daß wir glaubten, es begänne zu regnen. Zu meinen Füßen liegt alles durcheinander, das noch fettige Geschirr, die Beutel mit Reis und getrockneten Aprikosen, das rote Fleisch der angeschnittenen Melone, alles mit einer Schicht von grauem Staub bedeckt. Ich fühle ihn zwischen Lippen und Zähnen. Heute wurde unser Lämmchen geschlachtet. Ich hatte es Mona Lisa getauft, und es sprang und meckerte lustig auf unsern Halteplätzen umher. In meinen Mantel gehüllt, versuche ich auf einer Reihe von Kisten zu schlafen. Als ich wieder aufwache, ist klare Nacht. Der blinde Araber steht draußen im Mondschein auf seiner Matte und betet. Die toten Augen sind in das geisterhafte Licht gerichtet, unbeweglich, als schaute er in eine wunderbare Landschaft. Nun sehe ich es auch. Da beugt er den Kopf und fällt in die Kniee.

Salichie, den 7. Oktober.
Nachts 12 Uhr.

Einsame Herberge in der Wüste. Ich lehne, die Wache haltend, am Tor der verlassenen Karawanserei. Draußen dämmert die endlose Ebene. Der volle Mond steht am Himmel. Es ist so hell, daß ich ohne Mühe schreiben kann. Vom Hof tönt das Husten der brustkranken Pferde, nur unterbrochen von dem Heulen Hassans. Sie haben ihm den Rücken und die Sohlen blutig geschlagen, weil er im Basar von Ana die eisernen Ersatzteile der Wagen verkauft hat, die die türkische Kommandantur für uns requiriert hatte. Von Fußtritten verfolgt, schleppt er sich von einem Winkel in den andern.

Ich trete in einen fensterlosen Raum der Karawanserei. Als ich Licht mache, leuchten mir von der berußten Gipswand in großen deutschen Buchstaben die Worte entgegen: „Wo waren wir gestern?“ Betroffen bleibe ich stehen, leuchte mit dem Streichholz die Wand ab. Ich zähle acht verschiedene Sprachen. Hier ist eine Trommel mit gekreuzten Schlägern an die Mauer gezeichnet. Deutsche Namen darunter und das Datum: den 28. August 1914. Daneben: Ankunft dritter Zug von Ekbatana, den 2. Januar 1915. Reise von Teheran nach Bagdad und Stambul, Baruch Josephsberg, 77. Reg. Lemberg. Marga Imre, 5 Magyarka, honvéd 13. IV. 16. Marie Stirting, Erna Erickson de Bender Abas le 23. Julliet 15 en route pour Beirut. Dann die Inschrift eines englischen Gefangenen: Happy he, who return. London, Holting-street. Die Unterschrift ist nicht zu entziffern. Namen, Namen. Deutsche, englische, französische, ungarische, türkische, arabische, hebräische, schwedische Inschriften. Es nimmt kein Ende. Wie seltsam berührt es mich, viele Tagereisen weit in der Wüste all jene mit zahlreichen Zungen zu mir reden zu hören, die gleich mir diese tote Stille durchwandert haben, die vom Golf oder aus russischer Gefangenschaft die endlose Reise über die persischen Berge und durch die Wüste machten, von Hitze und Kälte gepeinigt, eine Nacht in diesem fensterlosen Raume zu schlafen. Wo sind sie, die mit verrostetem Nagel dieses in den Mörtel der Wand gruben? Hier hat einer sein Vaterhaus, von Bäumen beschattet, an die Wand gezeichnet. Neben manchem Namen ist ein kleines Kreuz gemalt, heimkehrende Kameraden haben es hinzugesetzt, dreimal sind sie den Weg durch die Wüste gezogen. An der gegenüberliegenden Wand steht eine arabische Inschrift: „O Ali, Sohn des Hassan, ich habe Wasserrinnen nach dir vollgeweint.“ Darunter auf Türkisch: „In Bagdad und Umgegend habe ich drei Monate im Elend gelebt. O Allah, gib uns Barmherzigkeit und Frieden. Osman Hakki Tefik, Hauptmann im Generalstab. Salichie, den 4. Tamus 1333[3].“

Als ich wieder hinaustrete, schlägt mir die Nacht kalt entgegen. Ich gehe vorsichtig zwischen den schlafenden Menschen und Tieren hindurch, die zusammengekauert am Boden liegen. Ermüdet setze ich mich auf den Leib des toten Esels, der am Nachmittag gestorben ist. Bis hierher schleppte er die blutgeschwollenen Glieder, aber als die Maultiere, von ihrer Traglast befreit, den wunden Rücken im Staube wälzten, erhob er sich nicht wieder. Und ich denke an den Weg zurück, den wir alle gewandert sind, denke an meine Toten und wie sie mich ständig begleiten. Wenn ich am Tage in der hellen Sonne hinter der Karawane herschreite, winkt mir ihr Gepäck vom Rücken der Maultiere herab. Dunkel leuchtet ihr Name auf den hellen Kisten, dem traurigen Rest ihrer Habe, den ich mit mir zurück in die Heimat trage, als ginge ich wie der Gläubige hinter dem Leichnam her, den er in heiliger Erde bestatten will, ihren geliebten Schatten in Deutschland zu begraben. Des Abends am Feuerloch ist mir, als müßte ich wie in früheren Tagen mit ihnen die Mahlzeit teilen. Ich blicke in ihr Gesicht: „Bist du es, alter Freund und Wüstengefährte? Willst du Brot? Magst du Tee?“ ... Ich fühle ihre Nähe, die mich umgibt, die stille Gemeinschaft derer, denen wir nicht mehr weh tun können. Ich schlafe in ihrem Schatten.

Fröstelnd lehne ich mich über den aufgetriebenen Leib des toten Tieres, mit der Hand seinen Hals liebkosend, der noch eine leichte Wärme trägt. Wieder steigt jener freundliche Gedanke des Friedens vor mir herauf, und während ich einsam in der unergründlichen Weite sitze, ist mir, als könnte ich deutlich auf das künftige Europa hinabsehen, wie auf ein heiteres Gebäude, das sich mit freundlichen Zimmern und Gärten vor mir ausbreitet. —

Zwei Uhr nachts. Es ist Zeit zum Wecken. Ich reiße den Kutschern die Mäntel fort, die sich zitternd zwischen ihren Futtersäcken erheben. Nun habe ich noch eine Stunde Ruhe, aber die Fledermäuse, die im Gebälk flattern, lassen mich nicht einschlafen. Bald gehe ich hinter der Karawane her. Vor mir raucht die unabsehbare Ebene. Und wieder denke ich: o sie liebten dich nicht, du grauer einsamer Boden, alle, die ihren flüchtigen Namen an die zerbröckelnde Wand dieser Herberge schrieben. Sie dachten: Deutschland, oder England, oder Schweden ... irgendwo dort hinten an eine geliebte und menschenbelebte Scholle, zogen vorüber und fluchten dir. Ich aber fühle deine grenzenlose Weite in meinem Herzen. Fühle in mir deine Sonne, deinen Wind, deine Sterne. Fühle, wie mit jedem Schritt meine Seele lebendiger und froher wird, als wanderte ich vom Tode zurück in das Leben.

Abu Herera, den 11. Oktober.

Der letzte Leichnam? Als wir in die verlassene Karawanserei treten, die von Unrat und üblen Gerüchen erfüllt ist, liegt er in der offenen Tür. Die ausgehungerte Gestalt eines zwölfjährigen armenischen Knaben. Mit strohblondem Haar, den Leib bis auf die Knochen abgemagert, Hände und Füße wie Keulen. Nur der linke Arm steckt noch in Lumpen. Als ich an den Fluß trete, finde ich viele Gräber, zahllose alte Feuerstellen. Ist dieses das Ende einer furchtbaren und grausamen Jagd?

Wieder tritt jener Auszug eines vertriebenen Volkes vor meine Augen, durch dessen schmerzliche Lager ich im vergangenen Jahr mit erschrockener Seele geirrt bin. Bald begegnen wir den ersten Flüchtlingen. Die Ränder aller Wege sind mit ihren Knochen besät, die grell in der Sonne bleichen. In Maden treffen wir das erste Lager. Kinder und Frauen umdrängen unsern Wagen, schlagen sich wund um ein Stück Brot oder eine leere Melonenschale. In Tibini haben sie einen kleinen Basar errichtet. Bäcker, Fleischer und Schuster sitzen in der grellen Sonne unter den ausgespannten Lumpen eines zerrissenen Tuches auf dem nackten Steinboden und bieten ihre Ware aus. Einen türkischen Offizier sah ich beim Garkoch ein gebratenes Stück Fleisch kaufen, und nicht ohne Bewunderung dachte ich: sie haben dich in den Tod getrieben, du aber bietest deinem Mörder für einen Metalik noch in der Wüste ein Stück Fleisch an!

Bei Rakka, in einem völlig verwahrlosten schmutzigen Lager, traf ich einen dreizehnjährigen Knaben. Er hatte seine Mutter und seinen Bruder verloren, nur sein Vater lebte. Er hieß Manuel. Einen weißen Lappen gegen die Sonne um den Kopf gebunden, lief er, auf auf einem Kuhhorn blasend, lachend zwischen den Haufen der Hungernden, Kranken und Sterbenden umher, die reglos dalagen oder, dem Wahnsinn nahe, ihren Kot als Speise verzehrten. Seine wohlgebaute, noch kräftige Gestalt, sein offenes Gesicht gefielen mir. Ich wollte ihn in unsern Wagen nehmen, um ihn mit nach Deutschland zu bringen. Seine geraden Augen leuchteten dunkel zu mir auf. (Meine Mutter, dachte ich einen Augenblick, ich will dir einen neuen Sohn schenken!) Ich ließ mich zu seinem Vater führen, einem Händler aus Alexandrette, den sie zum Wächter des Lagers gemacht hatten, weil er lesen und schreiben konnte. Aber obwohl sein Gesicht sich vor Freude verklärte, war er so müde und abgestumpft, und seine Angst vor den Gendarmen, die Furcht um das eigene Leben waren so groß, daß er keinen Ausweg finden konnte.

Da ging ich selbst zu dem arabischen Aufseher. Ich saß zwei Stunden auf seiner Matte und bot ihm den Rest meiner Barschaft an. Aber sie wollten ihn nicht freigeben. Ich versprach, in Aleppo bei Hakki Bey, dem Leiter der Ansiedlungen, für ihn zu bitten. Wieder und wieder drückte ich ihre Hände, ich sagte: ich werde in Deutschland an Euch denken. Manuel begleitete mich bis an den Ausgang des Lagers. Er wollte versuchen, in der kommenden Nacht unserer Karawane nachzulaufen. Aber ich glaube nicht, daß es ihm gelingen wird, unter den Flintenschüssen der Gendarmen zu entfliehen.

Mes kene, den 15. Oktober.

Als es Abend wird, sitze ich mit dem Priester Père Arslan Dadschad in der offenen Tür seines Zeltes, und sie erzählen mir von ihren Leiden. Von den 800 Familien der Stadt, mit denen sie auszogen, von den vielen Tausenden, die er in der Wüste begraben hat, darunter dreiundzwanzig Priester und einen Bischof. Ihre Blicke schreien mich an. „Du bist doch ein Deutscher“, sagen sie, „und mit den Türken verbündet ... so ist es also wahr, daß ihr selbst es gewollt habt!“ Ich schlage die Augen herab. Was kann ich ihnen erwidern, um sie Lügen zu strafen? Aus einer Tasche seines Gewandes, in einen zerlumpten Fetzen gehüllt, holt der Priester sein Christuskreuz, und als er es andächtig mit Küssen bedeckt, kann ich, von Rührung ergriffen, mich nicht enthalten, es gleichfalls an die Lippen zu führen, dieses Kreuz, das der Zeuge so vielen menschlichen Kummers und Leidens gewesen ist.

Ich sehe nach den abendlich rauchenden Zelten und dem hellen Mond, der über der dämmerigen Ebene aufsteigt. Das alles ist so anheimelnd, daß ich mir einen Augenblick ein friedliches Bild vortäuschen könnte. Frauen in geschürzten Unterröcken und offenen Blusen machen einen kleinen Abendspaziergang. Das Geschrei spielender Kinder tönt herüber. Da höre ich wieder ihre ängstlich forschende Stimme: ob ich Armenier in den Städten am Euphrat getroffen habe? „... Wir werden sterben, wir wissen es.“ Er deutet auf sein zerlumptes Gewand: „Une fois j’étais un prètre, maintenant je suis un mouton, qui va à mourir.

Ich gehe im Dunkel an den Fluß hinunter. In einer Schlucht finde ich einen Haufen übereinandergetürmter Menschengerippe. Weiße Schädel, die noch mit Haaren bedeckt sind, ein Becken, die Brustrippe eines Kindes, zierlich gebogen wie eine Spange. Einen Augenblick überkommt mich eine dumpfe Verzweiflung, die mir die Tränen in die Augen treibt, als müßte ich alle Hoffnungen, alle Keime der Liebe vernichten, die mich je an das Lebendige banden. Unendlich märchenhaft aber fließt der Fluß in die weite Einsamkeit hinaus, in den unterspülte Erdschollen zuweilen donnernd hinabfallen, und an dessen Ufern ich verlassen dahinschreite, als wäre ich der letzte Mensch.

Der Hafir, den 16. Oktober.

Eine grüne Oase, Weide mit Lämmerherden. Ich liege, o Wunder, unter einem Baum und sehe das Licht durch die schmalen Blätter scheinen. Heute ist mein dreißigster Geburtstag. Zum dritten Male, seit ich von Hause fortzog, sehe ich diesen Tag sich wenden. Seit dem frühen Morgen wandere ich in der hellen Sonne dahin, den Blick nach dem hohen Himmel gerichtet, dort hinten, wo die Stadt aufsteigen soll, nach der wir so lange Wochen gewandert sind, der Liebe voll und der starken Hoffnung des kommenden Lebens. Mit welcher Freude verzeichnet das Auge das Auftauchen jedes neuen Gegenstandes. Ein plätscherndes Wasser, eine Blume, einen Regentropfen. Schwarzblaue Wolken beschatten den Himmel, und wieder bricht die Sonne hindurch. Altweibersommer fliegt uns durch die Steppe entgegen — die weißen Haare Europas, das in Gram und Elend früh gealtert ist.

Aleppo, den 19. Oktober.
Bei den deutschen Schwestern.

Als das schwarze Haupt der Zitadelle sich hinter den sanften Erdwellen aufreckt, geraten die Pferde in schnellere Bewegung. Lächelnd neigen die Kranken sich aus den Wagen, deren hölzerne Kästen mit zerrissenen Planen klappernd in die steinernen Straßen rollen, windbrüchige Schiffe, die den letzten Sturm überstanden. Wir haben die Bahnlinie erreicht, die uns wieder mit Stambul verbindet.

Mein erster Gang führt mich zu den Schwestern. Sie haben für die armenischen Flüchtlinge zwei Häuser eingerichtet, die mit Waisenkindern überfüllt sind, die an der Straße liegen blieben. Die meisten kommen aus Van oder Erzerum und waren länger als sechs Monate unterwegs. In den ersten Wochen war der Hof so dicht von dem nackten Gestrüpp ihrer Scharen überwuchert, daß sie sich gegenseitig zu ersticken drohten. Als man das Haus reinigte, fand man im Brunnenschacht die Leiche eines Kleinen, der zwischen der Wildnis der Menschen dort schweigend verschwunden war. Auch Frauen und Männer halten sich unter ihnen versteckt. Ich habe angefangen, ihre Schicksale aufzuzeichnen, wobei Schwester Beatrix mir als Dolmetscher dient. Nur mühsam beginnen sie aus Schwäche und Angst vor neuen Leiden zu reden, bis die Fülle ihres Elends sie fortreißt und sie in Tränen ausbrechen.

In den letzten Tagen habe ich zahlreiche fotografische Aufnahmen gemacht. Man erzählt mir, daß Dschemal Pascha, der Henker von Syrien, bei Todesstrafe verboten hat, in den Flüchtlingslagern zu fotografieren. Zusammengerollt trage ich diese Bilder des Entsetzens und der Anklage unter meiner Bauchbinde versteckt. In den Lagern von Meskene und Aleppo sammelte ich viele Bittbriefe, die ich in meinem Tornister verborgen habe, um sie an die amerikanische Botschaft in Konstantinopel zu bringen, da die Post sie nicht befördern würde. Ich zweifle keinen Augenblick, damit eine hochverräterische Handlung zu begehen, und doch erfüllt mich das Bewußtsein, diesen Ärmsten wenigstens in einer schwachen Hinsicht geholfen zu haben, mit dem Gefühl größeren Glückes als jede andere Tat es vermöchte.

Konia, den 28. Oktober.
Im Bade.

Heute ist der neununddreißigste Tag, seit wir Bagdad verließen. Da der Zug über Mittag liegen bleibt, gehe ich ein paar Schritte in die herbstliche Stadt. Müde setze ich mich in die verlassene Moschee, hocke mich in einer Nische auf den Boden, lege den Daumen hinter die Ohrläppchen und fange zu grübeln an. Bald kommen die Leute und Soldaten von der Straße herein. Ein paar Vögel zwitschern in der Kuppel, die Stimme des Vorbeters klingt, von tiefem Schweigen unterbrochen, durch den Raum. Einen Augenblick denke ich, von einem Schwindel der Gefühle erfaßt: Gott, wo bist du? So schlafe ich ein und erwache erst, als das Bethaus leer ist, und wie zur Antwort singt eine grenzenlose Öde durch den Raum.

In weiße Tücher gehüllt, liege ich auf der Ruhebank des Bades. Nur gedämpft klingt der Lärm der Stadt herüber, ein blaues Licht fällt durch die Decke herab. Noch brennt mir die Haut von dem heißen Seifenwasser, und verwundert schaue ich mein sonnenverbranntes Gesicht im Spiegel, den langen Bart, der mir in der Wüste gewachsen ist. Zuweilen aber sinke ich in Träume, dann steigt gewaltsam und furchtbar ein Werk vor mir auf, von dem ich glaube, daß es zu dem Grausamsten gehören muß, was je über menschliches Elend geschrieben wurde.

Ehe ich Aleppo verließ, ging ich in das Polizeigebäude, um bei dem Leiter der Ansiedlungen für Manuel zu bitten. Aber obgleich er drüben in seinem Amtszimmer saß und ich seinen Kopf durch die Scheiben erblickte, ließ er mir durch den Diener sagen, er wäre verreist. In allen Gesichtern, die aus den Türen sahen, wohnte ein feiges Gewissen. Ich ließ mich bei seinem Vertreter melden. Alle waren sehr höflich, und wie immer bot man mir eine Schale Kaffee an. Doch während ihm Angst und Lüge deutlich in die Augenwinkel geschrieben stand, wagte er doch zu behaupten, mit der Frage der Ansiedlungen hätten sie nichts zu schaffen. So trat ich, ohne ein Wort meiner Bitte vorgetragen zu haben, wieder hinaus, die Treppe hinunter, an den Polizisten vorbei, die mit falschen Gesichtern in den Winkeln standen.

Von Neuem breitet der Badewärter ein frisches Laken über mich. Ein wohliges Gefühl entfesselt alle Glieder. Aber schon im Halbschlaf sehe ich noch einmal die bloßen braungebrannten Füße des armenischen Knaben vor mir, die schon so viele Meilen in die Ferne gewandert sind. Seine dunklen Augen blicken fragend zu mir auf ... Manuel wird in der Wüste sterben. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.


[3] der Hedschra.

An die Großmutter

Kospoli, den 12. November 1916.
An Bord des Corcovado, Goldenes Horn.

Nur diesen Gruß, mein greises geliebtes Haupt, nur dieses Wort, daß ich da bin, tausend Stunden näher an Deinem Herzen! Nichts mehr von Undank und Bitterkeit! Nichts von Vergangenheit, nichts von Zukunft! In dieser Stunde nur Freude! Daß ich zurückgekehrt bin mit unerhörten Reichtümern des Geistes und Herzens, mit unersetzbaren, märchenhaften Schätzen des Leides. Nun da ich hier bin, gerettet, um das Martyrium dieses Weges, für mich und alle Opfer, die er gekostet hat, immer von neuem zu durchleben, fühle ich, wie hinter mir die Wüste zu wachsen beginnt, Meilen und Meilen wandernd in das Ewig-Ungewisse hinein. Nun erst erkenne ich, wie fern, wie fremd ich Euch war. Aber ich fühle auch, wie in mir das Wiedergeborene sich aufhebt, wie tausend Stricke mich rufen: Spanne dich ein, den Schatz zur Höhe zu winden, den zu entdecken du in so weite Tiefen hinab mußtest!

Sollte es mich dem gegenüber bedrücken, daß dieser Krieg noch immer nicht in sich selber zusammenbrach? Daß ich, zwischen unüberbrückbare Widersprüche und Welten gesetzt, mich zweifelnd umschaue, wohin ich die Schritte bewegen soll, vor mir die Hölle der Somme, in meinem Rücken die Wüste? In dem Rumpf eines alten Schiffes wohnend, in dessen Kajüten man die deutschen Soldaten einquartiert hat und das rostig, von Seemuscheln bedeckt, im Goldenen Horn vor Anker liegt, trete ich zuweilen an die Reeling. Und zwischen abgetakelten Seegelbooten, zwischen schwarzbauchigen Dampfern, deren eingeschlafene Schrauben von Seetang bedeckt sind, zwischen Schornsteinen, Brückenpfeilern und Speichern sehe ich die grauen Leiber der Schlachtschiffe schimmern. Ja, vielleicht werde ich morgen, von denen fortgeschickt, denen ich so lange gedient habe, dort über das Fallreep treten, die Hände an der Naht und die Füße zusammengeschlagen, mit der Bitte, mich anzumustern, wieder wie in Knabentagen eine Matrosenbluse und einen Schifferknoten zu tragen, von Seewind umjubelt. Aber dahinter steht ein anderes Bild, und die Hand auf das Geschütz oder die Fahne gelegt, inmitten des grauen Kasernenhofes einer herbstlichen Stadt, höre ich mich mit anderen die Worte sprechen: „Ich, Armin Wegner, schwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwissenden einen leiblichen Eid, daß ich seiner Majestät dem Könige von Preußen zu Lande und zu Wasser ...“ hier aber wird es plötzlich still um mich, und umgeben von einem kalten Schweigen höre ich einsam, als wären sie etwas Fremdes, Losgelöstes, von meiner Lippe die Worte fallen: „Daß ich niemals einen Menschen töten werde, an welchen Orten der Erde es immer sei! Niemals das Geschütz oder Gewehr gegen meine fremden Brüder zu richten. So wahr mir Gott helfe!“

Da streift helle Sonne mein Gesicht. Ich sehe, wie die dunkle Welle, in die mein Blick noch eben träumend versenkt war, blauleuchtend zu blitzen und zu schäumen anhebt. Und ich begreife aus den Erfahrungen einer langen Jugend heraus, daß ich nicht mehr traurig sein darf, daß nie wieder etwas aufstehen kann, mich zu beugen oder zu brechen, so fratzenhaft Rätsel auch immer vor mich hintreten mögen, die zu lösen fast übermenschlich scheint und deren Ungelöstheit doch den Tod bedeutet. Sind wir nicht immer auf einer Reise begriffen? Ist die Küste nicht stets von Nebel verhüllt? Wenn ich des Nachts in meiner engen Schiffskabine liege, und mein Blick trifft aufwachend auf die Matratze des darüberliegenden Kameraden und die engen hölzernen Wände dieses vermodernden Kastens, in dem es nach Schwefel und Wanzen riecht, dann ist mir, als wäre ich, wie in vergangenen Jahren, auf irgendeiner abenteuerlichen Fahrt begriffen, als müßte ich beim ersten Schlagen der Glocke auf Deck und an die Brüstung eilen, eine fremde, märchenhafte Küste zu schauen oder ein grünes Ufer der Heimat, an dem auch Dein weißes Haar wehte wie eine seidene Fahne des Friedens.

Wird es morgen sein? Wieviel Jahre werden vergehen? O, ich begreife, daß ich ein Recht habe, glücklich zu werden ... Freude! In dieser Stunde nur Freude! Nichts von Vergangenheit, nichts von Zukunft! War nicht jede See, die wir durchschwammen, nur der Vorbote eines größeren Meeres, in das wir uns stürzten, des geretteten Lebens froh und der neugewonnenen stärkeren Kräfte? O schöpferische Tat des Geistes, Kraft der Seele, die aus gemartertem Dasein geläutert emporsteigt, und du, gewaltigste Pflicht, die ich mich freudig bereite zu erfüllen, beglänzt von der Sonne des dreißigsten Jahres, zu schaffen, zu leben für Dich, mich, uns alle!

Inhalt

  Seite
An die Großmutter 1
An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten 8
An die Eltern 12
An eine Schwester von Gül-Hane 16
Traum auf dem Kelek 24
An Carl Hauptmann 27
An die Frau eines im Kriege weilenden Soldaten 34
An die Großmutter 44
Ein Vermächtnis in der Wüste 48
An eine Freundin 60
Brief an die Mutter 64
Letzter Brief an die Eltern, Brüder, Freunde, Mitmenschen und Geliebten 78
An eine Freundin 85
An die Mutter 91
An die Mutter 99
An einen Freund 106
Brief an die Eltern 112
Der Triumph der Mutter 123
An Carl Hauptmann 133
Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr (an Pater Joseph) 145
Die vierzig Tage und Nächte der Heimkehr (aus dem Tagebuche) 152
An die Großmutter 173

Werke
von
Armin T. Wegner

Im Verlage von Egon Fleischel & Co. erschienen

Zwischen zwei Städten 1909
Gedichte in Prosa 1910
Höre mich reden, Anna-Maria 1912
Das Antlitz der Städte 1917
Der Weg ohne Heimkehr 1919

In Vorbereitung befinden sich:

Im Hause der Glückseligkeit
Türkische Novellen

Das Antlitz der Städte

Preis geh. M. 3,—; geb. M. 5,50

Carl Maria Weber in der Bonner Zeitung: Unter unsern zeitgenössischen Lyrikern hat kaum einer das Erleben des geistigen Großstädters, das benervte Schauen, das wollüstig-grausame Verfallensein an dieses Geröll von Lebendigem und Seelenlosem mit solcher Intensität gestaltet wie Armin T. Wegner. Visionen sind hier geballt von bedrückenden Schattendimensionen. Gläserne Dichte haben für ihn Mauern und Wände, kochende Lust und sieches Elend zudeckende Gewänder. Denn dieses Buch der Städte ist kein Bilderbuch (und keine ist irgend genannt; er meint die Stadt als dämonisches Wesen, Irrgarten der Leidenschaften, Denkmal menschlicher Kraft und Unnatur); er sagt auch — und zumeist vom Menschen aus, der sie schuf, der in ihr gefangen ist, an tausend Ketten zerrend, ihrem Mittelpunkt — wie er der Mittelpunkt der Welt überhaupt ist (oder doch sein sollte). Gesunde, unschwüle und unsentimentale (also unverlogene) Sinnlichkeit strahlt allenthalben auf — was Wunder, daß selbsthasserische, puritanische Schnüffelbolde zum Staatsanwalt liefen, der im Interesse der öffentlichen Moral auch (kurz vor der Revolution) gleich bei der Hand war, die Konfiskation des inkriminierten Buches zu veranlassen.

Hans Franck in der Frankfurter Zeitung: Es gibt kein deutsches Versbuch, in dem das Gesicht der großen Stadt mit gleicher Wucht und Wahrhaftigkeit durch das Wort nachgestaltet wurde.

Richard Dehmel: Und alle Lebensgluten sind mit der Ehrfurcht betrachtet, die das Häßliche wie das Schöne als gottgewollt liebt und das irdische Grauen himmlisch verklärt.

Nord und Süd: Ein ethischer Wanderer ist er, großen Stils.

Josef Winkler in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung: Er ist der erste Sänger der modernen Großstadt, wie sie wirklich ist. Man behauptete mal, wenn nur eine Großstadt bestehen bliebe, könne diese mit ihren Menschen und Mitteln aus einem Weltuntergang unsere ganze Kultur neubauen. An diesen Ausspruch muß man denken vor dem Reichtum, den Wegner in seinem Buch aufdeckt: vom titanischen Rhythmus des ungeheuren Schaffens der zusammengeballten Millionen .... Ich begrüße ihn als einen wahrhaft schöpferischen, visionär begnadeten Dichter.

 

 


 

Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):