Title: Zarastro: Westliche Tage
Author: Annette Kolb
Release date: November 21, 2013 [eBook #44243]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Jens Sadowski
1921
S. Fischer / Verlag / Berlin
1.—5. Auflage
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1920 by S. Fischer, Verlag, Berlin
Dieses Buch, das auf Grund täglicher Aufzeichnungen entstand, enthält Enttäuschungen als sein Wesen. Es ist ein Tagebuch der Enttäuschungen, ich verhehle es nicht. Gerade sie sind das einzig wertvolle daran. Denn an allen Erlebnissen während dieser Jahre, an allen Szenen, allen Ereignissen, allen Episoden hat sich die Beobachtung ergeben, daß im wachsenden Umfang die besten Hoffnungen, die reinsten Zugehörigkeiten ihre dramatische Zerstörung nach sich zogen. Zu sehen, wie sie immer sehr buchstäblich zuschanden kommen mußten, versetzte mich erst in eine dumpfe, herabgestimmte Unruhe, und nur allmählich entdeckte ich, daß sich in allem die kleine wie die große Höllenmaschine menschlicher Niedrigkeit gleichsam eingebaut hielt, überall, auf dieselbe Weise und mit derselben Wirkung jede edle, jede vernünftige Absicht, jede Harmonie im Keim vernichtete. Diese Gefolgschaft, dies enge Schritthalten der Bösen — jeder Zufälligkeit bar — zeigt sich vom Anekdotischen bis zur Entladung so konform, daß es die Schicksale des einzelnen zur genauesten Replik der Weltschicksale prägt.
Am 1. Februar 1917 kam ich gegen Abend definitiv nach Bern. Im Zug — am Fenster — schlief ich zwischen Zürich und Baden auf einige Sekunden ein. Dabei rückten sich Bilder aus meiner Wohnung, aber um ein Drittel vergrößert — die sich also selbst vergrößert hatten —, selbst an einer Wand zurecht. —
Trotz dieser so unvermittelt aufblitzenden Vision wurde die Mutlosigkeit, gegen die ich anzukämpfen hatte, immer drückender, und geradezu trostlos gestaltete sich meine Einfahrt in die Bahnhofhalle. Es goß so recht von innen heraus, wie nur der Berner Himmel zu gießen versteht. So begibt man sich wohl ins Gefängnis, wie ich in das Haus, um dessen anheimelnder alten Stiege willen ich im zweiten Stock zwei kleine Zimmer mit einem Alkoven gemietet hatte. Übrigens waren sie noch nicht frei, und indessen wurde mir ein großes niedriges angewiesen, das sofort meine Abneigung erregte: bis auf einen gewaltigen Tisch von wahrhaft tröstlichem Umfang. Er stand mitten in der Stube, ganz auf sich beruhend:
Sieh mein geräumiges Rund, und wie gefällig es ist! Sahst du ein weiteres je?
Bürde nur füglich mir auf, was immer du willst. Ich schaffe noch Platz dir. Na also!
So redete er, halb in Hexametern, halb wie eine alte Kindsfrau zu mir, war immer optimistisch und richtete mich auf.
Das Münster aber, das so gut anhebt und so schlecht verläuft, beschattet und beherrscht den Platz, und die Aussicht hart vor meinen Fenstern ist durch ihn versperrt. Auch mein Herz schlägt hinter Riegeln. Ich bin nicht mit den Illusionen hergekommen wie das erstemal.
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4. FEBRUAR. Kalte regnerische Tage, unfroh wie die Stunde meiner Ankunft, welche Telramunds, als sei dies unvermeidlich, zuerst erfuhren. Die Lauben sind, wie es scheint, ihr Jagdrevier, denn kaum trete ich vors Haus, so schießen sie mir schon wie auf Rollschuhen der Neugierde entgegen, jedesmal mit einer Einladung zum Tee. Ich bin entschlossen, ihr nicht zu folgen, denn sie ist natürlich nur verhörsweise gedacht. Fortunio rät von einer so schroffen Haltung ab. Wir diskutieren hin und her, und ich lasse mich leider überreden.
6. FEBRUAR. Tee bei Telramunds. Ich trage meinen teuren Pelz, denn es ist kalt, dazu aber ausgebesserte Schuhe, weil es regnet. Der Empfang ist übrigens von so glänzend imitierter Herzlichkeit, daß er mich fürs erste ganz beschämt. Wie unverkennbar ist doch im Grunde Telramunds Zuneigung für mich! Er erörtert meinen Roman in den höchsten Tönen, und wie freut sich Ortrud, mich zu sehen! Wie ungerechtfertigt ist der Name, den ich ihnen gebe! Wie funkeln Teekanne, Dose und réchaud! Wir sitzen ein wenig merkwürdig zusammen, es ist wahr! unsere sechs Knie eng aneinander gerückt: die meinen in der Mitte, wie die eines Delinquenten, von den beiden andern flankiert. Doch ist das nur zufällig vielleicht.
Wenn aber drei Leute sich äußerlich in so enger Gemeinschaft befinden, und zwei von ihnen werfen sich Blicke zu, so wird es der Dritte bemerken, auch ohne es zu wollen und ohne hinzusehen. Ortrud guckte wertschätzend von meinem Mantel herab auf mein Schuhwerk. Der Pelz einerseits und die Reparatur anderseits gaben zu denken. Wie aber konnten sich die beiden so vergessen, daß sie plötzlich anfingen, wie mit Fliegenklappen nach mir auszuholen und sich hochbefriedigt ansahen, wenn sie glaubten, mich ertappt zu haben?
Zwar lag es auf der Hand, daß ein so leicht zu überführendes Geschöpf unmöglich zugleich jene raffinierte Person sein konnte, für welche ich wußte, daß sie mich hielten. Aber wie resolut Leute von schlechten Instinkten jegliche hemmende Logik von sich weisen, wußte ich auch. Von neuem auf der Hut, beantwortete ich jede Frage mit einem Kunstbogen; als jedoch der Name Elisabeth Rotten fiel, hielt ich krampfhaft an diesem Thema fest. Telramund konnte ihren politischen Scharfsinn nicht genug loben (später stritt er ihn ihr öffentlich ab). So erzählte ich denn von ihrer schwer angegriffenen Gesundheit und ihrem Wunsch nach einer Erholungsreise. Diese aber sei nur durch List und Tücke zu erreichen. Es müßte also, meinte ich, mehr mitteilsam wie raffiniert, unter Vorspiegelung eines Vortrags, welchen sie dann natürlich nicht halten würde, ein Paß für sie erschlichen werden.
Die Idee wurde stillschweigend zur Kenntnis genommen. Blicke flogen . . . und es war unverkennbar, daß etwas nicht stimmte.
Bin ich nach Bern gekommen, dachte ich auf dem Rückweg, um mit Leuten zu verkehren, die ich zu Hause nie ertragen hätte?
Das Wetter hatte sich auf einige Stunden aufgehellt, und über der Brücke von Kirchenfeld flammten plötzlich die Alpen auf. Blaß und verheißungsvoll leuchtete die losgelöste Jungfrau über das Gewölk, das sich in schwarzen Massen zu Tale schob. Wie ganz und gar nicht existierend, dachte ich da, ist doch letzten Endes das Gemeine! Nur unser träges und verwischtes Sehen leiht ihm den Schein von Wesenheit, und Leuten wie Telramunds das Gesicht. Und zwei verschwisterte Seelen hatten da einen Bund geschlossen, wie die Hölle ihn liebt. Dabei war Telramund Berliner und Ortrud, wie zum Schulexempel, eine Französin aus der Provinz. Ach! Welch ein Schabernack wird doch über alle Grenzen hin mit unseren Gesetzen getrieben! Keine Feder wiegen sie auf gegen die Schleuderwaffen, über welche schlaue Unvernunft gebietet. Wohl haben wir gelernt, Weingärten und Äcker zu bestellen, veredelt hängen uns die Früchte von den Bäumen hernieder, und wie umsichtig, wie bewundernswert ist der Mensch angesichts seiner Felder! Nur vor sich selbst ist er stehengeblieben. Da jätet er nicht. Da steht überall goldener Weizen, von wild um sich greifendem, allgewaltigem Unkraut erstickt. Gegen die Natur, die Elemente, die Erde, ja die Luft selber schritten wir ein, nur vor uns selbst sinken uns die Arme, und wir lassen geschehen. Dies ist die bisherige Logik der Welt, der Nationen. Nicht einmal bis zu unseren Verbrecherstatistiken besannen wir uns — wie hätten wir da bis zu den Tabellen unserer verkleideten und ganz undrastischen Übeltätern gedacht? —
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Allseitige Verstimmung. Mein Wunsch, Fräulein Rottens Wunsch zu erfüllen, hat schwärzesten Verdacht erregt. Ich kannte die in Bern geschaffene Atmosphäre noch zu wenig, um zu verstehen. Warum in aller Welt, beschwert sich Fortunio bei mir, mischte ich mich da hinein! Welches Interesse hatte ich an dieser Reise?
Und diese Idee eines Vortrags! (Sogar er, es war unverkennbar, hat Argwohn geschöpft!)
Nur ein Vorwand natürlich! ich sagte es ja Telramund.
Fortunio zuckte die Achseln: er hat es Ihnen natürlich nicht geglaubt.
Die beiden werden uns noch sprengen!, brach ich aus, alle unsere Anstrengungen hintertreiben und uns alle zu Grabe tragen.
Mit Martin im Walde hatte ich ja meine Not. Die Verdächtigungen auf ihn regneten ohne Unterlaß. Schon während jenes Diners, welches Aramis bei meiner ersten Berner Ankunft gab, hatte ihn Telramund als einen Agenten mit doppeltem Schubfach bezeichnet, und Ortrud pfiff förmlich vor Hohn wie eine Maus. Daß ich widersprach, fiel nur auf mich zurück. Für einen ehemaligen Kruppdirektor also machte ich Reklame! Sprach dies nicht Bände? Daß er tatsächlich seine Stellung seinen Überzeugungen geopfert hatte, war ein Beweis mehr für seine Verschlagenheit. Den Bruder kannte er. „Den Bruder kenne ich!“ war sein Refrain.
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9. FEBRUAR. Ich miete einen Flügel: ohne Schmelz, ohne Tiefe, es ist wahr, und doch edel, weil immerhin ein Flügel. Gott sei Dank! Flügel sind jetzt sehr schwer zu kriegen! Ich bin einen ganzen halben Tag glücklich. Welches Glück! — es ist ein Glück, das ich der Protektion eines jungen Berner Pianisten verdanke. Wir hatten ein Zusammentreffen verabredet, um in die Fabrik zu fahren. In den Lauben kam Ortrud auf mich zu und äußerte den Wunsch, mich zu besuchen, und da ich ungeheuer eilig tat, begleitete sie mich, um zu sehen, ob es wirklich der junge Pianist war, der mich erwartet. Da er es wirklich war, denke ich mir, sie beruhigt sich jetzt.
10. FEBRUAR. Telramund erzählt mit vielsagender Miene, daß ich einen Flügel gemietet habe. Kein Zweifel mehr: ich bin eine Spionin.
11. FEBRUAR. Aramis gibt mir zu wissen, daß er sich wundere, weil ich ihm noch kein Lebenszeichen gebe. Ich unterließ es nur, denn er ist mir sympathisch, weil mir versichert wurde, daß er mir nicht mehr traue.
Es sei kein Grund, sagt mir Fortunio, ihn zu schneiden. Seufzend (da er mir ja mißtraut!) rufe ich ihn ans Telephon, und vor seiner Sprache, ach! wird mein zerrissenes Herz sofort wie eine Geige, in welche diese Sprache (auch die meine, ach!) hineingreift wie ein Bogen.
13. FEBRUAR. Gestern abend war ich bei Fortunio, und Martin im Walde fand sich zum ersten Male bei ihm ein. Vor dem Kriege hätte ich sie nicht einander zugeführt: Fortunio so musisch und sternengebannt, aber auch stemschnuppenhaft, Martin im Walde so schwerblütig, so problematisch und so vorbedacht! Heute aber muß alles zusammenstehen, was aufrecht blieb. Wie errichten wir sonst jene Dämme gegen die blinde Gewalt, den Schutzmauern vergleichbar, die sich so wacker gegen die Bergwände stemmen, um zur Zeit der Schmelze die Lawinen aufzuhalten? Auch unserem Planeten stand der Frühling nahe bevor, als die Lawine sich entlud, die allen Schutt nach oben warf und eine grünende Welt und alle Glocken der Vernunft mit ihren toten Blöcken und ihrem schmutzigen Geröll brüllend und dröhnend überzog. Jene Mauern, Lawinenschutz genannt, sind natürlich nur roh aufeinander geschichtete, jedoch wetterfeste Steine, die nichts anderes zum Ausdruck bringen, als die Not des Augenblicks, dem sie entstanden sind. So scheint mir heute, wo es den Kampf des menschlichen gegen das unmenschliche gilt, das wichtige nicht, glattes einzufügen, nicht einmal der inneren Gemeinsamkeit den Ausschlag zu lassen, sondern die Widerstandskraft und das Gewicht der Dinge zu bedenken.
Doch ach! Der als Schachfigur so schwer festzulegende Fortunio war heute auf meine Opportunismen nicht gestimmt, sondern wie zum Trotz in einer ganz herausfordernden, ganz interpellierenden, ganz konträren, um ihre eigene Wirkung ganz unbekümmerten Laune. Zu machen war da gar nichts. Im stillen nur nahm ich mir vor, auf dem Heimweg Fortunios Wesensart, welche Martin im Walde nicht geläufig war, so beweglich wie möglich zu schildern. Aber nicht einmal diese nachträgliche Intervention sollte mir gelingen. Denn als ich auf der Stiege in die Taschen meines Mantels griff, war mein Hausschlüssel nicht darin, die Nacht aber viel zu weit vorgeschritten, um meine Pension durch Glockenreißen zu alarmieren. Die übermüdete Fortunia, über die Rampe gebeugt, rief mich wieder zurück. Neben dem großen Empfangsraum lag ein schmales Zimmer. Ich bezog es ohne viel Worte und warf mich mit meinen Kleidern auf den breiten Diwan, der dort stand, ganz erledigt für den Rest der Nacht. Immer verschärfter schwebte mir die Bilanz des mißratenen Abends vor und regte mich auf. Wie ungut ließ sich doch alles an!
Eine tiefe Stille lag jetzt über dem ganzen Hause, den Wänden, den Fenstern und der Luft, als ob sie ein Signal erwarteten. Denn nebenan war plötzlich ein anderes Leben erwacht, eine andere Unruhe, als die des Tages, ein Rücken, Geknister, ein Gewisper, Disput und Ungeduld. — — Zwar ist dem Herzen kein Organ verliehen, das unsichtbare zu sehen, aber so mancher kennt gewiß jenes aussetzen seines Schlages, bevor es tiefer zu horchen beginnt . . . Es fiel mir ein, daß die ganze Häuserreihe dieser alten Gasse für mehr oder minder spukhaft galt; doch ein so wenig grauenhafter, höchstens malitiöser, nicht einmal boshafter Spuk war mir noch nicht begegnet. Neugierde trieb mich endlich hin zur Türe, hinter der er sich begab. Aber jenseits derselben hatte augenblicklich — als sei nie Lärm gewesen — Totenstille eingesetzt, und die Klinke, von Tücke besessen, widerstand allem drücken, drehen und schieben. Mit schmerzenden Händen ließ ich sie los und kehrte auf meinen Diwan zurück. Alsbald war Geknister und Getusche, rücken und huschen, Unruhe, Aufregung, heiseres Eifern und Streiterei im verstärkten Grade wieder da. Offenbar wollte die Gesellschaft von mir nichts wissen und boykottierte mich. Wie aber kam es, daß ich plötzlich wie unter freiem Himmel lag und den Arm aufstützte, als schirmten mich die Zweige eines Baumes, und als horchte ich statt zur Seite hin, tief unter die Erde hinab? Was immer mir jetzt in den Sinn kam, bot sich wie eine Zwiesprache dar. Dem Nixenbegriff lag wohl eine tiefe Erkenntnis zugrunde. Wie diesseits des Menschengeschlechtes, so sind aber auch jenseits desselben Geschöpfe Gottes denkbar, die an der entgegengesetzten Peripherie des Lebens beschattet stehen und hinausgerückt; und winzige, kaum bemerkbare Dinge könnten es sein, die ihnen ein leises Grauen vor ihrem eigenen Wesen entgegenhauchen: ihr unakkurater Sinn für Wirklichkeiten, ihr vorwegnehmen des Zieles über Hindernisse hinweg, ist wie ein gestörter Sehwinkel oder wie ein verkürzter Fuß, den solche Menschen durchs Leben ziehen, und sie erschauern, verzagen und vereinsamen bis ins Mark, wenn sie daran erinnert werden. Über die fernest abliegenden Dinge dachte ich hin und her. Aber warum in aller Welt überkam mich ein Heimweh nach dieser verschlossenen Tür, und um was für Dinge war mir denn leid? Du lieber Gott, wollte ich denn von allem haben!
Der ganze tumultarische Betrieb setzte übrigens mit einer spurlosen Plötzlichkeit aus, als hätte er nie geherrscht. Nur eins war deutlich: durch die Türe verzog er sich nicht. Es kam etwas anderes: aus dem unteren, nachts unbewohnten Stockwerk drangen sanfte Trommelwirbel, oh, so deutlich zu mir, und dann ertönten gedämpft, aber klangvoll, tamponierte Posaunen. Und dann kam das huschen und fegen eines Kleides, das schleifen einer Schleppe, ja! im Takt dieser erstickten Musik. Ich horchte mit allen Fasern. So fein, so spöttisch, so leicht! oh! in der Tat geistreich war der Rhythmus dieses pas-de-deux, waren die Füße, die Grazie, die Unkörperlichkeit dieses balancierenden Körpers im Klang der wonnig umhüllten Posaunchen. Tod und Leben in lächelnder Umarmung — Leben noch im Tode? Liebe selbst bei ihm? — Was verfing sich da eine Uhr, mit vier groben Schlägen in den Zauber hineinzufahren? Nichts rührte sich mehr. Im Augenblicke alles längst verflogen und verweht — welchem Sterne, welcher Nacht entgegen?
Nunmehr versank die Dunkelheit in ihrer eigenen Stille, und der Schlaf atmete mir jetzt — als käme er von außen — seltsam genug! — mit weiten Flügeln entgegen. Ich fühlte noch den Wunsch, mich ihm ganz zu überlassen, aber daß er mich dahintrug, schon nicht mehr. Gespannten, wachen Sinnes stand ich in der Mitte eines Saales — nicht wissend, daß ich schlief. Die Wände lagen im Zwielicht, und ein paar Leute saßen dort als Zuschauer herum. Ich fragte mich, was es zu sehen gab und merkte dann erst, daß ich es war, welche nun tanzte. Die Rhythmen nämlich, nach welchen ich mich drehte, „geschahen“, ohne zu verlauten, als stünden hier die Gesetze am Anfang aller Musik, noch ehe, oder ohne daß sie sich vertonten. Dabei geboten sie mit so wunderbarer und zwingender Macht, daß es unmöglich war, ihnen nicht zu folgen, und unwiderstehlich kreiste ich dahin. Mit einem Male hörte ich Fortunios Stimme von der Wand herüber auf französisch sagen: „Comme elle danse bien“! aber sehen konnte man ihn nicht, denn der Saal war nur in der Mitte hell. „Pourquoi dites-vous que je danse bien“? rief ich tanzend zurück. Und tanzte dahin, denn es gab nichts anderes mehr. Nur den Tanz. Ganz allein nur ihn; ohne innehalten, ohne Unterlaß, den Tanz allein in diesem Raume, der aufgehört hatte, ein Saal zu sein, denn seine Wände traten ins Endlose zurück. Nur allmählich merkte ich, daß sich jemand zu mir gesellt hatte und mich hielt und mit mir tanzte. Es kümmerte mich nicht. Die Erfüllung war zu tief, meine Augendeckel zu schwer, sie aufzuschlagen die Mühe zu groß! In den Rhythmen lag alle Wonne. Und sie gebaren ohne Übergang eine neue Phase, denn halb abwesend, halb aufmerksam sah ich nun doch meinem Tänzer groß ins Gesicht: matt von Farbe, mit schwarzem, glattanliegendem Haar war er mir gänzlich unbekannt und zugleich vollkommen vertraut; der sehr edle Umriß von Kopf und Schultern so geschlossen, daß er fast ausschloß, was er nicht selber war, fast negierte, was er nicht kannte. Was dünkte mir daran so fremd und so verwandt zugleich? Die Melodie einer Rasse, der ich entstammte, und doch nicht mehr die meine? von ihr hinausgerückt? verabschiedet von ihr? wiederum der Boykott? Gleichviel! wir tanzten. Eines Schrittes! Diese Zeitmaße kannten keine Zeit. So mögen Sterne kreisen. Aber auch was ich dachte, war nicht mehr aus seiner Bahn zu drängen: aus reinstem Lateinertum setzten sich die Elemente dieses Tänzers zusammen. Nicht das Gesicht eines bestimmten Menschen sah mich da an. Nicht dieses oder jenes — was dann? Das Sinnbild einer Rasse war zu mir hingetreten und tanzte mit mir. Jetzt wußte ich’s! — Aber die Entdeckung sprengte die Fesseln des Traumes: Ich lag auf dem Diwan gerade ausgestreckt, vor mir das Fenster, in dessen Scheiben sich von der Straße herauf der Reflex einer Laterne fing. Aber gleich darauf stand ich auf den Füßen. Noch nie so hoch aufgerichtet gewiß! Die Türklinke drehte sich lautlos und glatt, wie geölt. Aber die Kälte der Frühluft nach der Hitze der Nacht hatte vielleicht die Wandlung besorgt. Ich schlich durch den Gang, die Stiege hinab und ließ mich zum Tore hinaus. Ins Freie! Hinter den Scheiben leuchtete hie und da schon ein Licht aus den Lauben hervor. Im Hause, in dem ich wohnte, war eine Bäckerei. Unbemerkt kam ich in mein Zimmer. Es tagte noch nicht. Nach oben unkenntlich stand das Münster vor meinen Fenstern aufgerichtet, viel schöner und gewaltiger so, als mit dem übel verlaufenden Turm. Wie schien aber dies alles eine Wirklichkeit zweiten Ranges, sozusagen, wenn ich sie mit jener verglich, die mich in dieser Nacht umgab. Ich wußte zur Stunde mit der letzten Sicherheit, daß mein Traum sich erfüllen würde. Die beiden Rassen, die heute zu vereinigen solches Elend, solche Zerrissenheit bedeutet, werden eines Tages, allen Höllenhunden zum Trotz, das Glück der Welt durch ihren Bund begründen. Ach! Danach darf man nicht fragen, ob man selbst längst ein Schatten sein wird, wenn diese Dinge sich ereignen. Nur Mut, mein Herz! rief ich mir an diesem Morgen öfters zu, denn mit seinem fahlen Licht wuchsen die üblichen Ernüchterungen an.
Gegen Mittag kaufte ich Blumen und wählte Kuchen mit Bedacht, denn um vier erwartete ich Monsieur Aramis zum Tee. Nicht ohne Bangigkeit. Seinen ersten günstigen Eindruck hatte ihm ja Telramund gründlich auszureden verstanden. Als er in meine niedere Stube trat und mir die Hand entgegenstreckte und mich ansah, wurde es mir wieder fühlbar. Das Echo der Worte: „Sie lügt! sie lügt!“, die er von jener Seite unausgesetzt vernahm, war zu eindringlich, um mir zu entgehen.
Daß die unteren Zimmer nun endlich frei werden und mein Flügel sogar schon unten steht, interessiert ihn gar nicht; wen ich in Deutschland gesehen habe, um so mehr. Die Grenze hatte ich gerade am Vorabend des Tages überschritten, an welchem der verschärfte Unterseebootkrieg verkündet wurde; als diese Nachricht alle Anschlagmauern verfinsterte, wäre ich am liebsten umgekehrt, denn jetzt lag doch alles in Scherben.
„Une bêtise capitale,“ sagte er, „et qui fait bien notre affaire.“ Nichts mehr von Klavier! Ich möchte mich gar nicht mehr mit Politik befassen, sage ich, und lese: „Sie lügt! sie lügt!“ in seinen Augen. Er blieb lange, sprach jedoch nur wenig und hörte zu. Ich dagegen redete die ganze Zeit, hemmungslos und aufs Geratewohl. Es überzeugte ihn auch dieses keineswegs. Sie lügt! sie lügt! blieb das Echo, das zwischen dem Vertrauen, welches er instinktiv zu mir gefaßt hatte, und den Dingen hallte, die er über mich hört. Kaum ist er gegangen, so erscheint Fortunio auf dem Plan, gespannt zu hören, wie der Besuch verlief. Ich komme ihm jedoch zuvor: Wenn Aramis mir mißtraut, so mißtraue ich seiner Menschenkenntnis. Es ist zu leicht, mich zu durchschauen, als daß es erlaubt sein dürfte, mich zu verkennen. Ich bin so eindeutig wie ein Pferd. Seine Gangart ist unmißverständlich genug!
„Sie sind aber kein Pferd,“ sagte Fortunio, „und gerade Ihre Eindeutigkeit ist mit Ihrer sonstigen Art nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.“
Daß er dabei eine so bedenkliche Miene beibehielt, riß an meinen ohnedies zerzupften Nerven. Er erinnerte mich allzusehr an einen Schreibtisch, der, mit großen und kleinen, inneren und äußeren, ja sogar mit geheimen Schubfächern ausgestattet, für mich aber nur eine einzige Lade offen hielt. Ich fühlte mich plötzlich tödlich gekränkt. Und womit hält er heute zurück? Auch er, auch er! sage ich mir.
„Ihr Roman kursiert jetzt in Bern“, geruhte er mitzuteilen.
„Um so besser. Zeit wär’s, daß hier das rechte Licht über mich aufgeht.“
„Leider nein“, sagte Fortunio. „Das Buch schadet Ihnen.“
„Schadet mir!?“
„Ich hätte es auch nicht gedacht. Aber die große Zielbewußtheit, welche Sie Ihrer Heldin einverleiben . . .“
„Aber gerade die Natur dieser Zielbewußtheit . . .“ unterbrach ich ihn.
„Gewiß, man sollte glauben . . .“
„Hören Sie, das ist nicht möglich!“ Und in höchster Ungeduld riß ich an allen Schubladen zugleich.
„Ich selbst“, machte nun Fortunio mich vertraut, „habe die Leute auf das Buch hingewiesen. Ich glaubte, Ihnen nicht besser dienen zu können.“
„Es ist nicht möglich, daß Aramis sich verdreht dazu stellt“, rief ich wieder. „Es kann nicht sein!“
Fortunio zuckte die Achseln.
„Aber sogar Telramund, dieser Gräuel, lobte es über den Klee.“
Er schwieg. Es entstand eine Pause.
„Das ist furchtbar“, sagte ich. „Es geht also um ein Duell zwischen mir und diesen Leuten.“
„Sie sind so ungeduldig! Die Dinge wollen ihre Zeit. Letzten Endes ist es immer die gute Gesinnung, welche triumphiert.“
„Oh! letzten Endes“, wehrte ich ab. „Daß meine Grabrede besser ausfallen wird, glaube ich ohne weiteres. Mais d’ici là . . .“
Fortunio wollte mich überreden, mit ihm auszugehen, doch ich blieb zurück. Was ich ihm dabei nicht verriet, war meine Absicht, im Laufe des Abends nach Martin im Walde zu sehen; denn mir lag das gestrige Zusammensein, dem Fortunio keinen Gedanken mehr schenkte, schwer im Gedächtnis.
Fürs erste war meine Niedergeschlagenheit zu groß, um nicht allein mit ihr zu bleiben.
Die Tatsache, daß in Ermangelung anderen Beweismaterials nun gar mein Roman als Belastung herhalten sollte, war insofern der comble, als sich ja dann, auf diesem kürzesten Wege, so ziemlich alles auf den Kopf stellen ließ. Gegen solche Waffen war jedenfalls nicht aufzukommen. Sie waren zu alt erprobt. Ich hatte zuviel erfahren. Ich wußte zu viel.
Oh Fortunio! es ist dir nicht bekannt, warum ich lebe. Wie ein nach Süden schauendes Ufer fängst du die Sonne auf; wie eine nach Norden aufgerichtete Mauer stehe ich zu ihr.
„Von allen Menschen weg“, dachte ich da, „und zur Sonne hin!“ Angebetete Sonne! Ohne dich zu sein! Beseelt, doch unbeseligt steht mein Haus. Wo du undeutlich werden und verflimmern läßt, wo du begünstigest, ja, wo du lügst, hast du doch immer recht, und nichts bestünde vor deiner Glorie.
Es hatte längst durch alle Stockwerke gegongt, doch ich blieb wie ein Wetterwinkel am Fenster haften, jenen Bergkuppen vergleichbar am Rande des Tals, die alle Wolken an sich ziehen; so schien auch ich alle Düsterkeiten heranzulocken. Und es gab dann nur zwei Möglichkeiten, um dagegen aufzukommen: entweder die Arbeit, die auch wirklich die Atmosphäre läutert, oder der Umgang mit Menschen: ein Notbehelf nur, welcher zwar, wie der im Unwetter aufgespannte Schirm die ärgsten Güsse von uns abhält, an der Witterung aber nicht das geringste ändert.
Augenblicklich war mir jedoch der Mut so gänzlich ausgepustet, daß ich mich plötzlich im Sturmschritt zu Martin im Walde aufmachte, sehr in Sorge sogar, ihn zu verfehlen. Ja, die Sorge steigerte sich zur Angst, so windschief stand es um mich. Aber die Herrschaften ließen, Gott sei’s gelobt und gedankt, bitten, und ich jagte die Treppe zu ihnen hinauf. Die Stimmung, welche dort betreffs der gestrigen Fete herrschte, war natürlich schlecht. Mit sehr unerwarteter Schauspielkunst gab Martin im Walde alle Figuranten des Abends in einer Person zum besten, wobei er die ihm zugewiesene Rolle gar grimmig unterstrich. Ich lachte fürs erste aus vollem Halse, wenn auch mit recht halbem Herzen, brachte dann alle meine Glätt- und Bügelkünste zur Anwendung, zog meine Döschen, Fläschchen und Beruhigungstropfen hervor, mußte mir aber dabei sagen, daß hier wieder einmal ein wünschenswerter Zusammenschluß vorbeigeglückt war.
14. FEBRUAR. Ich kann erst morgen die unteren Zimmer beziehen: ein hübscher alter Sekretär, ein altmodisches Sofa und ein schönes Tischchen kommen mit mir. Auch die Kiste mit meinen Sachen ist eingetroffen. Als ich nachmittags die Lauben hinunterging und an die Zimmer dachte, wie sie mit ein paar indischen Schals, der schier vergessenen blauen Seidendecke und ein paar Bildern am besten auszustaffieren wären, lächelten plötzlich von rechts Telramund, von links Ortrud auf mich ein: „Wohin des Wegs?“
„Nach Hause“, war meine erschrockene Antwort.
„Wie sich das trifft! Wir sind gerade auf dem Weg zu Ihnen.“
„Das ist ja reizend“, rief ich entsetzt. „Leider bin ich mitten im Umzug und darf Sie nicht heraufbemühen.“
„Das macht uns gar nichts! Wenn wir Sie nicht stören.“
„Im Gegenteil. Kommen Sie nur.“
War es nicht besser, die kamen noch in meine alte Stube, als daß sie mit ihren malocchios meine neuen Räume behexten? „Nur herauf, Ihr beiden! es ist das letztemal.“ Und die Treppe voransteigend, führte ich sie zu mir.
Dort stand der altväterische Tisch, der mich beschützte und nicht mit mir ziehen würde.
Wir nahmen Platz.
„Aramis war gestern bei Ihnen“, sagte Telramund. „Er hat es uns erzählt.“
„Warum auch?“ dachte ich.
„Er wird immer launischer“, bemerkte Ortrud.
„Launisch?“
„Haben Sie das noch nicht herausgefunden?“ fragte Telramund und heckelte ihn eine Weile durch. „Im Grunde“, klang es fast drohend von diesen Berliner Lippen, „ist er ein ganz germanophiler Bursche.“
Ich goß Tee ein und erwiderte nichts. Aber mir wurde bang und bänger über das Gespräch.
Daß die beiden es wagten, vor mir, die selbst obenan und mit so fetten Lettern auf ihrer Proskriptionsliste stand, derart rückhaltlos Leute auszurichten, mit welchen sie scheinbar die besten Beziehungen unterhielten, war das nicht ein Beweis für die Rückversicherungen, deren sie sich versehen hatten? Und wie weit mochten diese gehen?
Und woher wußte — von allen Deckungen abgesehen — dies im wiedererzählen so blitzschnelle Paar, daß sich unsere usancen voneinander unterschieden?
War es die starke Gegenwärtigkeit des wuchtigen Tisches, um den wir saßen, und der wohl einst am Waldesrand Jahrhunderte hindurch als mächtiger Baum — wissend und weise — in rauschender Verschwiegenheit sein Gezweige ausbreitete — oder welch überspringender Funke war es nur, der mir da mit der unbewiesenen und doch stahlharten Sicherheit intuitiver Erkenntnis die Tatsache enthüllte, daß die Niederträchtigen, aus ihrer, mit Selbsterhaltungstrieb gepaarten Verdorbenheit heraus, die Menschen, welche guten Willens sind, ungleich deutlicher erkennen, als diese sich unter sich durchschauen. Fortunio, von Martin im Walde nicht zu reden, kannte mich nicht entfernt so gut wie diese zwei: welche Waffen ich gegen sie anwenden und welche nicht, ihnen war es nicht zweifelhaft, und für sie war ich wie durchsichtiges Glas. Indem sie mich haßten, wußten sie sogar, daß ich nicht ihrer Person, sondern ihrer Schlechtigkeit den Haß vergalt, und wenn meine hiesigen neuen Freunde vielleicht in ihrem Urteil über mich noch schwankten, diese meine erbittertsten Feinde werteten mich nach Verdienst. Dies war der Grund, warum sie mich verfolgten. Wer in der Tat stand einander im Wege, wenn nicht wir? Soweit ich zurückdenken konnte, und lange ehe er ausbrach, dieser elende Krieg, und dann wieder vom Tage seines Bestehens an, war ich für einen Frieden um jeden Preis. Mich interessierte, noch freute kein einziger Sieg. Nur dem Frieden gönnte ich den Sieg über eine so schmähliche Niederlage wie diesen Krieg.
Für dieses Paar jedoch waren Versöhnung und Verständigung zwei Dinge, deren Möglichkeit sie mit allen Mitteln zu hintertreiben entschlossen waren. Dafür lebte es. Wehe dem Franzosen, der kein Jusqu’auboutiste war. Er hatte allen Grund, vor diesem deutschen Telramund zu zittern, und wenn nur der letzte Deutsche verblich, durfte für diese französische Ortrud der vorletzte Franzose unbesehen verbluten. Denn die Saite, auf welche sie beide gestimmt waren, ihr Element war der Haß. In welcher Tropenluft aber lebten wir heute, daß die Gemüter sich mit solcher Fieberhitze entfalten oder zersetzen durften? Nie hat Gelegenheit ärgere Diebe gemacht. Hier war Telramund — vor dem Kriege ein ränkespinnendes, sonst aber vielleicht ganz traitables Männchen — zum professionellen Verleumder und Verräter entartet, und Ortrud, einstens eine gehässige Klatschbase und weiter nichts, nunmehr zur angriffswütigen Ratte, zur erbarmungslosen Menschenfresserin von Hokusai.
Mit solchen Wesen aber paktierte, tergiversierte, lavierte man.
Und zu denken (dachte ich), daß doch sonst so viele Schutz- und Trutzverbände bestehen. Der Adel, die Juden, die Ärzte, Arbeiter, Bäcker, Schneider und Hoteliers, alle bilden sie ihre geschlossenen Gilden und Vereine. Und nur ausgerechnet die Menschen, die guten Willens sind, sie allein, die überall verstreuten und ausgelieferten, setzten sich noch nicht zur Wehr, berieten und versammelten sich noch nicht. Ihr Klub ist der einzige, der noch nicht zustande kam, ihre Statuten, ihre Geschlossenheit, ihre Einigung, welche doch gleichbedeutend wäre mit ihrer Vorherrschaft, über alle Grenzen hin. Denn nichts scheut ja das Geschmeiße so sehr wie seinen Namen und ihren Boykott.
Nicht äußerste Vorsicht (die nützte gar nichts!), sondern schroffste Ablehnung war Telramund gegenüber am Platze. Aus jedem Wort, das ich sagte oder zu erwidern unterließ, wurden jetzt handfeste Stricke wider mich gedreht. Solche Leute zu kennen, sie zu sehen, dies war der kapitale Fehler.
Ortrud kam immer wieder auf meinen Flügel zu sprechen, und als sie sich zum Gehen anschickte, bezeigte sie eine Neugierde, ihn zu besichtigen, als handelte es sich um einen neuentdeckten Raffael. Der Gedanke aber, daß die beiden als die ersten meine unteren Zimmer betreten sollten, bevor ich sie noch bezog, versetzte mich in eine so abergläubische Verwirrung, daß ich die Treppe hinablief, um sie daran zu hindern. Allein die Türen standen offen, und ehe ich sie schließen konnte, hatten Telramunds meine Schwelle überschritten und waren meine ersten Besucher gewesen.
Abends bei A. H. Pax. Ich ärgere mich über Bemerkungen, die dort fallen: Brücke von Kirchenfeld; die müsse ich doch kennen. Was ist das nun wieder?
18. FEBRUAR. Meine „Wohnung“ ist ursprünglich ein großes Zimmer mit Alkoven gewesen und nun durch eine eingebaute Wand so unwirsch in zwei geschnitten, daß sich das Auge an den falschen Massen immerwährend stößt. Aber die Farben bringen einen gewissen Trost, eine Suleikaportiere, indisch mit scharlachrotem Rand, führt in ein drittes vorgebliches Gemach, und der Flügel macht sich ausgezeichnet.
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Besuch der Miß Annie A. Wir hatten uns seit dem Kriege nicht mehr gesehen. Sie ist mütterlicherseits deutsch wie ich französisch, väterlicherseits englisch wie ich deutsch. Nur ist sie nebenbei auch ein Engel von Güte, und das bin ich nicht. Doch ach! andere werden schon mit mir bemerkt haben, daß gerade solche Engel von Güte es so oft nicht über sich bringen, die Vortrefflichkeit derjenigen anzuzweifeln, deren Instanz sie zunächst unterstehen, ja die es für eine Perfidie halten würden, ihren eigenen Zeitungen und eigenen Machthabern nicht zu glauben. Wer kennt sie nicht, diese Engel von Güte, mit ihren „they say“, ihren „man sagt“, ihren „on dit“ und ihren „si dice“. Unbesehen ist für sie der Teufel überall nur drüben.
„Mein Deutschtum ist tot in mir“, sagte sie. „Auch Sie sollten sich entscheiden.“
Dasselbe Ansinnen, nur umgekehrt natürlich, war mir in Deutschland zu oft gemacht worden, und ich war in solchen Dingen sehr abgebrüht. „Was brauchen mich die Franzosen,“ seufzte ich, „die ganze Welt steht ja auf ihrer Seite.“
Da sie mich traurig sah, schaute sie mich betrübt mit ihren guten und veilchenblauen Augen an. „I thank God on my knees“, brach sie dann aus, „that I am English.“
Auch die Variationen dieser Formel waren mir vertraut. Und ich konnte nicht umhin, ihr von den Halbengländerinnen zu erzählen, die in Deutschland unter die Patriotinnen gegangen waren, von Marie von B . . ., die mich wie keine andere deutsche Frau in den deutschen Blättern verriß, und von jener jungen englischen Gouvernante in München, die ich in Tränen fand, weil ihre, an einen norddeutschen Offizier verheiratete Schwester soeben, anläßlich eines Luftangriffes auf London, von den Zeppelinen als von „our glorious zeps“ geschrieben hatte. Aber kaum hatte ich meine Pfeile abgeschossen, so war mir’s schon leid. Unser Wiedersehen fand also nur statt, um uns unsere Trennung nur um so fühlbarer zu machen.
„Nichts ist mehr, wie es war!“ rufe ich aus, indem ich sie in meine Arme schließe. Denn sie ist ein Engel.
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Bevor Annie A. . . mich gestern verließ, zog sie ein Fünffrankenstück hervor, das sie mir im Auftrage der Fürstin Patschouli, einer gemeinsamen rumänischen Bekannten, einhändigte, welche vorgab, es mir zu schulden. Dieser so kurzerhand beim Schopf gefaßte Annäherungsversuch war zum mindesten originell. Ich machte ein sauberes Päckchen aus dem Geldstück, bedankte mich für die schöne Gabe und bat um die Erlaubnis, ihr ein ebensolches Gegengeschenk machen zu dürfen. Daraufhin schlug sie per Telephon die Brücke zu mir und lobte einen schwarzen Kaffee, den sie selber braue. „Bonjour, je vous attends!“ und damit hing sie das Hörrohr aus.
Ich wußte in der Tat nicht, was erfrischender war, ihr Kaffee oder sie selbst in ihrer herzstärkenden und vorgefaßten Oberflächlichkeit. Die Fürstin, deren Röcke unten zusammengebunden schienen, ging mit kurzen und kleinen, aber heftigen Schritten, war braun wie ein Maikäfer, die auffallendste Erscheinung von ganz Bern, brüsk, witzig und ohne Stachel. Da sie eine Villa in Tegernsee und Freunde in München hatte, war sie im Grunde germanophil, jedenfalls bayernfreundlich, und stand außerdem stark unter dem Eindruck der deutschen Siege. „Je suis l’amie des bons jours“, erklärte sie.
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25. FEBRUAR. Zwar scheint die Sonne hin und wieder, und die Zauberwand der Berge stellt sich dann strahlend auf, doch das Licht bleibt spröde. Nie träumt dieser kalte Himmel dahin, nie ermatten die Reflexe; stets rufen sie: gedenk! und nie: vergiß! und ewige Gegenwart ist die Fanfare. Oder liegt es an mir? —
„Mein gutestes Fräulein,“ sagte mir einmal ein dickgebliebener Berliner Aufsichtsrat, „wer sagt Ihnen, daß nicht am Ende mit dem Frieden so bunte Zeiten kommen, daß wir uns nach den Kriegszeiten zurücksehnen werden —, bis auf die Schlachten natürlich“, hing er mit einer Handbewegung an, als wären sie ein Detail.
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ENDE FEBRUAR. Die Tage haben soviel widerwärtiges gebracht, daß mir das Schreiben verging. Man sollte hier mit seiner Aufenthaltsbewilligung zugleich ein Vorhängeschloß wie Papageno erhalten; statt dessen wird einem ein Nessushemd übergeworfen. Schreckliche Stöße mit Fortunio, schwere Havarie mit Martin im Walde. Telramund, dessen Hochöfen alle in Betrieb stehen, erstattete ihm einen formellen Besuch und brachte ihm zugleich mit dem Ausdruck seiner Hochachtung sein Bedauern vor, durch mich und meine Darstellungen ein so falsches Bild von seinem Charakter gewonnen zu haben. Halb lachend wird es mir erzählt. Ich mache ihm Vorwürfe, daß er den Mann vorläßt. „Ihnen danke ich ja die angenehme Bekanntschaft.“ Das war im Herbst, sage ich, wo man noch glauben durfte, es stecke vielleicht doch etwas Gutes in ihm, an das man sich halten könne. Heute dürfen Sie keinen Umgang mehr mit ihm pflegen.
Einem Glücksfall, der allen Glanz eines Hintertreppenklatsches trägt, danke ich es im übrigen, daß von dieser Seite wenigstens Fortunio nicht mehr irre an mir werden kann: er saß mit einem Freunde, als Telramund sich zu ihm gesellte und Äußerungen wiederholte, die er von mir vernommen haben wollte. „Und nun sehen Sie,“ schloß er, „wie sie lügt“, zahlte sein Schöppchen und ging. Aber in der Eile, mir zu schaden, übersah er, daß Fortunios Freund zufällig Zeuge gewesen war, wie ich jene Worte nicht nur nicht gesagt, sondern heftig dagegen protestiert hatte, als sie vor mir fielen. Dies also wäre, gottlob, besorgt.
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Es ist gewiß nur recht und billig, daß auch die Überlebenden heute auf der Verlustliste stehen. Wie man dem Kranken, der nicht teilnehmen kann an dem Treiben der Gesunden, gerne darauf hinweist, wenn es draußen stürmt und die Fußgänger gegen Frost und Wind ankämpfen, während er in der geschützten Stube liegt, so möchte man heute denen, welche fallen, nachrufen: Ihr habt nichts verloren!
Ich schreibe der Königin im Auftrage ihrer Mutter, die seit Monaten ohne Nachricht von ihr ist. Die Idee des Königtums ist gewiß nur deshalb in Diskredit geraten, weil ein verrohter, subalterner Mensch oder auch ein, Idiot höchst widersinnigerweise zum Herrscher avancieren konnte. Wegen meiner Ansichten werde ich hier viel ausgelacht. Aber wie würden sie erst lachen, wenn sie wüßten, wie gern ich selbst regieren möchte. Da würde man doch was Richtiges erleben! Kein mittelmäßiger Künstler käme bei mir hoch, welche Unsummen aber flössen den andern zu; kein Lämpchen ließe ich mir je als ein Lumen aufschwätzen, also auch kein Talent, das sich zum Genie aufblasen möchte. Herr Pfitzner bewürbe sich also vergebens um eine Dirigentenstelle an meinem Theater, und gar Herr Weingartner, welcher die Wiener Philharmonie herunterbrachte, wage es nicht, vor mich zu treten. Ich verarge es heute noch der Pariser Kritik, welche ihn seinerzeit „un jeune dieu“ genannt hat. Denn nie hatten die Götter das Geringste mit ihm zu tun.
Ach, und was für schöne Häuser ich erbauen, was für Gärten ich anlegen ließe! was für prachtvolle Katzen würden meine Marmorbrunnen entlang schweifen!
Doch genug über meine Herrscherzeit.
Über Weingartner, dessen Überschätzung ich der Pariser Presse verdenke, fällt mir die Äußerung ein, die kürzlich ein Pariser, den ich nicht nennen werde, einem Deutschen gegenüber, dessen Namen ich gleichfalls unterschlage, gefällt hat: „il y a une chose, monsieur, que nous ne vous pardonnerons jamais, c’est de nous avoir forcés d’aimer les Belges.“
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Den Abend bei A. H. Pax verbracht. Bei ihm kann man sagen, was einem gerade einfällt, ohne Gefahr zu laufen, daß es entstellt in alle Winde hinauswirbelt. Dieser Vorkämpfer des Friedensgedankens, der mit so feierlichem Ernst seine Stimme zu erheben weiß, ist bei strengster Sachlichkeit der gemütlichste Mann der Welt, in dessen Atmosphäre man sein bißchen Humor und sein verlorenes Lachen auf Augenblicke rettet. Gestern sprach er zwar tief entmutigt über die vollkommene Unmöglichkeit, gegen den so geschickt angerichteten, so eifersüchtig gehegten und drinnen und draußen immer neu genährten Wirrwarr in den Köpfen der allermeisten Deutschen auch nur das geringste auszurichten. Plötzlich tauchte ein Nachmittag in München aus dem Sommer 1916, ein schattiger Garten, ein gedeckter Tisch, zwei Damen, die davor saßen, vor mir auf, und wie eine phonographische Platte spielte sich in hemmungslosem Bayrisch ein halbvergessenes Gespräch so getreulich in mir ab, daß ich mit einem Male alle Rollen in einer Person herunterspielte.
Wir brachen alle in ein schier trostloses Gelächter aus. Waren nicht ganze Generationen mit allen brauchbaren Argumenten des Scheins in ein Wirrsal gelockt, dessen Dunkel den Tag derer ausmachte, die es unterhielten, so daß sie jede anbrechende Helle augenblicklich verscheuchten?
Und mußten nicht fast alle Gehirne vermodern, ohne zu erfahren, was denn eigentlich los ist? Mit so teuflischem Geschick sind alle Ausgänge der Lügenburg zementiert, in welcher sie sich narren ließen. Unschuldig Betörte. War es nicht überall so?
Unter den Tagebüchern, welche an den deutschen Gefallenen vorgefunden wurden, erzählte neulich Abigail von der agence, seien manche sehr schöne zum Vorschein gekommen. „Warum veröffentlicht Ihr diese nicht auch?“ rief ich. „Nous n’avons“ sagte er, „qu’à nous occuper des atrocités.“
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Dafür, daß ich so viele Dinge nicht verstehe, werde ich mit den paar Gedanken, die mir im Kopfe sitzen, viele Jahre nach meinem Tode wahrscheinlich recht behalten, so zum Beispiel mit meiner Skepsis betreffs der Demokratie. Aber natürlich ist es für andere ärgerlich, das, was immer sie mich lehren, und was immer ich lerne, gerade nur eben jene paar Überzeugungen weiter ausbaut und nur ihnen zugute kommt. Jede Erkenntnis geht nun einmal bei mir auf Kosten einer ganz exemplarischen Unbegabtheit.
Es müßte einer blind sein natürlich, um an den Sozialismus und seine Unerläßlichkeit nicht zu glauben. Aber in Wirklichkeit ist heute keiner sozialistischer geworden, als er es von je gewesen ist. Es scheint nur so. Machen wir uns nichts vor. Wir haben uns den Sozialismus eingebrockt. Dank unserer Verkehrtheit nur ist er die einzig richtige Parole. Er ist kein Ziel, sondern ein Weg. Keine andere Brücke ist stark genug, uns aus unserer baufälligen Welt zu den neuen Ufern hinzutragen, wo die neuen Autokratien auf ganz neuer Basis sich erheben werden. Nur durch den Sozialismus, dieser fausse sortie aus einer Welt der Standesunterschiede, kommen wir zu einer neuen Welt der Standesunterschiede, der Herrenkaste und der Knechteschar.
Für diesen Glauben will ich mich gerne köpfen lassen, denn geköpft, sagen die andern, werde ich ja doch, entweder von rechts oder von links.
Mittlerweile bin ich viel zuviel unter Menschen. Es geschieht aus Trägheit und einer Art von Furcht. Denn bin ich nicht zufriedener allein und so viel weniger allein, wenn ich allein bin? Füllt sich dann nicht die Luft mit Geistern guter und hilfreicher Art? Und bin ich dann nicht umgeben?
28. FEBRUAR. Forsell als Don Juan: der Tod als Objekt der Kunst. Forsell ruft ihn und mißt sich mit ihm. Gewiß ist der Tod nur was wir aus ihm machen: der größte Individualist fürwahr! Welche Feigheit jagt mich so oft von mir selber fort zu den Menschen hin, oder hält mich ab, mich ihnen zu entziehen? Ist es das grauschleichende Verzagen vor jener eisigen Verlassenheit, in die wir eingehen werden? Hinter dem ganzen Geselligkeitstrieb der Menschen steckt ja viel mehr Todesangst, als man glaubt. Die einen fürchten sich vor dem Sterben, die andern vor dem Gestorbensein; auf dieses, nicht auf jenes gilt es, sich zu bereiten.
3. MÄRZ. Ich fahre nach Lausanne und gehe dann nach Ouchy hinab, eine Bekannte aus München zu besuchen. Beißend kalter Wind. Wir besprechen die letzte Affäre. „Das Schreckliche ist, daß immer alles aufkommt bei uns“, äußerte sie. So ein Pech! Im übrigen sagte mein guter Vater immer: „In der Politik gibt es keine Moral“; à qui la faute, wenn die Deutschen dies für ein unabänderliches Weltgesetz halten, so feststehend wie Tag und Nacht und die vier Jahreszeiten? gewiß an ihrer Gedankenlosigkeit, aber gewiß noch mehr an den Vorbildern, welche sie haben. In der Politik gibt es keine Moral. Sie sagen es wie: Ehre Vater und Mutter, oder: Du sollst nicht stehlen. Ihre Fantasie liegt ja nicht auf diesem Gebiet.
8. MÄRZ. Besuch des sozialistischen Reichstagsabgeordneten W. H. Er ist gegen den Unterseebootkrieg. Ich glaube, daß er unter dem Krieg leidet. Aber was mich an diesen Sozialisten so furchtbar erbittert, ist die Preisgabe des deutschen Volkes, auf das sie sich berufen, indem sie vorgeben, diese oder jene Konzession an die Gegner „ihm nicht zumuten zu können“. Vor August 1914 gab es kein friedfertigeres auf der Welt: wie die Posaune des letzten Gerichtes erscholl ihm der Schlachtenruf; es stand auf, und von da ab glaubte es alles. Wäre es unglücklicher und beunruhigter gewesen, man hätte es weniger leichtgläubig gesehen. Aber weil es sich belügen ließ, sollte es nicht auch noch verleumdet werden. Im Januar 1917 lauerte ich im Hause einer Bekannten dem damaligen Staatssekretär Zimmermann auf. Er trat ein mit der forschen Bonhomie eines Kegelklubpräsidenten, der mir jede Schüchternheit benahm, und als ich mit meiner Rede über die elsässische Frage zu Ende war, nickte er ganz kulant und bemerkte; „Wir müssen nur bedenken, was wir dem deutschen Volk zumuten können.“ „In vier Tagen haben wir es hineingelogen, vielleicht lügen wir es in acht Tagen wieder heraus“, sagte ich. Er schien kein bißchen choquiert. In der Politik gibt es ja keine Moral.
10. MÄRZ. Heute kam Herr v. Sch. mit der erstaunlichen und fatalen Eröffnung zu mir, daß sein Chef mich zu sehen wünsche. Herr v. Sch., den ich von London her kenne, hatte sich große Mühe um meinen Paß gegeben, und im ersten Schrecken fiel mir keine Ausflucht ein. Ich wagte nicht, es Fortunio mitzuteilen, der sicher dagegen gewesen wäre, sondern spielte wieder einmal mit dem Feuer und bat Aramis zu mir. Sollte ich wirklich über die Brücke von Kirchenfeld, so wollte ich keine Anspielungen darauf, sondern wünschte um so mehr, daß man es wisse, als man es ja doch wissen würde.
Aramis kam sofort zu mir. Wir verabreden ein paar sehr direkte Sätze, die ich während meines bevorstehenden Besuchs möglichst pointiert anzubringen hätte, und daß ich nachher zu ihm kommen würde, ihm die Wirkung jener Worte mitzuteilen.
11. MÄRZ. Sonntag. Das Wetter ist schön und warm. Die Sonne lacht bis in das Auto hinein, in dem ich neben Herrn v. Sch. Platz genommen habe. Schafwölkchen treiben so zuversichtlich am Himmel, und er hängt so hoch, daß ich nicht sogleich die leise Hoffnung unterdrücke, der Besuch würde am Ende doch nicht ganz resultatlos sein. Aber nichts von Sonne an Herrn von Rittersporn, vielmehr der Widerschein des sterbenden Tags. Ich hatte vor mir einen jener persönlich uranständigen, autoritätsgläubigen Deutschen strengster Observanz, die vor lauter Gewissenhaftigkeit und Loyalität und Treue und Ehrenhaftigkeit zur Vertretung der unehrenhaftesten Methoden unverbrüchlich auf dem Posten ausharren, ein Mann, der privatim gewiß nie eine Lüge sagte und nur offiziell und in Gottes Namen log. Mit seltsamer Distanzierung, als sei ich die Angehörige eines fremden Staates, fing er das ganze Weißbuch mit einer so deprimierenden Weitschweifigkeit an aufzusagen, daß wirklich nur das fehlte, was es selber wegließ. Er war bleich, müde, sichtlich schwer unter dem Kriege leidend. Endlich wurde er fertig mit seinem récital, und ich hatte das Wort in diesem großen, vielfenstrigen, hellen und doch so unfrohen Salon, in dem keine rechte Zuversicht aufkommen wollte. Zwar schien auch ihm die französische Frage vor allen andern am Herzen zu liegen, aber das Feuer, mit dem ich sprach, dünkte mir selber deplaciert. Hier ist ein Stuhl, schloß ich, faßte ihn mit beiden Händen und sprang auf, hier ist ein Tisch: nur eins ist heute wichtig auf der Welt: die Formel zu finden, welche es den Franzosen ermöglicht, in diesem Stuhle Platz zu nehmen! „Ich bin vollkommen Ihrer Ansicht“, sagte er. Und zum ersten Male schwante mir, wie wenig er vermochte. Auf Aramis übergehend, hob ich jetzt seine Beziehungen, sein Geschick, seinen guten Willen hervor, sowie die Chancen, die er als Vermittler bot. Hier jedoch fiel ein Schatten. Ich fand keinen Anklang. Es war die alte Kamarilla, ich merkte es wohl, vielleicht auf indirekte Umtriebe Telramunds zurückzuführen, aber auch Widerstände, Unsachlichkeiten. Ich hatte Carry mit Aramis zusammengeführt, ohne Parteinahme, weil es sich von selbst ergab, und man mißgönnte ihm den Vorsprung. Auch Carry war voll Ehrgeiz, aber er besaß Schwung, eine künstlerische Ader, Sinn für Kameradschaft, Ritterlichkeit. Man wußte, wie man mit ihm dran war. Auf seine Fehler wie auf seine Tugenden fiel das Mittagslicht. Il ne ment pas, hieß es auf gegnerischer Seite von ihm. Dies besagte so viel in Tagen wie den unsern! In der europäischen Literatur ungemein bewandert und von regstem Geiste, besaß er zudem eine glückliche und wohltuende Art mit Menschen umzugehen und hatte etwas Jünglinghaftes bewahrt. Selbst ein Mischling, war er rassenmäßig den andern lange nicht so fremd wie seine zünftigeren Kollegen.
Es war nahe an zwei Uhr. Vergebens mahnte man zu Tisch. Daß die Unterredung sich so in die Länge zog, unterstrich ihre Nutzlosigkeit nur noch mehr. Auf dem Heimweg, in dem schneidend kalten Alpensonnenlicht wurde es mir mit jedem Schritt bewußter. Die Aare floß so leuchtend blau wie vor zwei Stunden, als ich über die Brücke fuhr. Mutlosigkeit aber drückte mich in diesem Augenblick zur Greisin nieder. Wie eine Hundertjährige lehnte ich über das Geländer und sah zu den Kindern hinab, die wie besessen schrien. Dann raffte ich mich auf und rannte die kalten Schatten der Keßlergasse entlang zu mir hinauf. Plötzlich fühlte ich, wie verausgabt ich war, warf mich auf den Diwan und schlief ein. Aber um vier Uhr erwartete mich Aramis, und dies weckte mich beizeiten. Ich strich jetzt die Lauben auf der Sonnenseite hinauf. Oh wie deutlich ist mir der Schein, in dem sie lagen! Wie ein tobender Schmerz, der auf Sekunden aussetzt, riß er mich auf einen langen Augenblick in seinen Bann, tauchte mich schonungslos unter in sein Gold, ließ mich bewußtlos werden wie die uralten Häuserreihen, die es durchdrang: unempfindlich werden vor Empfindung.
Bei Aramis herrschte an diesem Vorfrühlingstage schon sommerliche Kühle. Eine leise Spannung lag in seinen Zügen, und die Wärme, mit der er mich begrüßte, kontrastierte doch recht seltsam mit dem Empfang, der mir vor ein paar Stunden zuteil geworden war. Was ich ihm aber zu sagen hatte, war so verdammt unwesentlich, derart neben hinaus, daß ich erschrak, indem ich es formulierte. Es ließ keine Spur von Bereitwilligkeit, ihn ernst zu nehmen, verraten. Und da es vollkommen zwecklos gewesen wäre, ihm etwas vorzulügen, durchschaute er natürlich die ganze rettungslose Sturigkeit, in die man ihm gegenüber sich versteifte.
17. MÄRZ. Abends bei Dätwyler im kleinen Zimmer mit Carry und Fortunio. Dieser entfaltet mir gegenüber eine aggressive, ja feindselige Haltung größten Stiles, die keinen Zweifel läßt, daß er von den Vorkommnissen der letzten Tage gehört hat. Heftige, immer heftigere Szenen auf dem Heimweg. Ich bebe vor Zorn und sehe ihn so haßerfüllt an, daß er erschrickt. Eine schlaflose Nacht krönt die Explosion.
Wie ungerecht war Fortunio! Wie falsch wurde ich hier gesehen! Im Juni wollte ich nach München fahren und dachte heute schon an das Schlößchen im bayrischen Vorgebirge wie an eine selige Insel. Waltete dann Telramund noch hier — soviel stand fest —, so kam ich nicht zurück.
Und ich suchte Trost, indem ich an das Schlößchen dachte, angelehnt an den ernsten Berg: an die lange hölzerne Laube mit dem hölzernen Gartensaal; wie von Adalbert Stifter für eine seiner Verlobungsszenen erdichtet. Und die Freundin selbst, die immer Werdende mit der weiten Note der Leidenschaft, wer, kam ihr gleich? Ging, blickte, lächelte, lebte sie ihren Tag von Jahr zu Jahr nicht Göttinnen ähnlicher? Wer kannte sie? Wie schön und insgeheim war unsere Freundschaft verkapselt! Wie verlor die innere Einsamkeit so manche Schärfe zwischen uns! Weil ich den Spiegel ihres Wesens unausgesprochen mit mir führte und sie es wußte, war ich, die immer Zusammenbrechende, ihr Halt. Wer vergalt mir dies hier? — Eine Fratze sah man statt meiner.
18. MÄRZ. Sonntag. Fortunio in dunkelblau und Strohhut holt mich ab, um nach Worb zu fahren. Es hat sich auf die Feindschaft von gestern wie ein neuer Friede zwischen uns aufgetan. Wieder liegt das Land in jenem schonungslosen Licht des Berner Oberlands, das, ich weiß nicht warum, in die Seele schneidet. Aber das Wetter war so warm und strahlend, daß man immer wieder innehielt, vor einer ersten Blume, ein paar Schafen, einem Hause. Wir sprechen heute in aller Ruhe über die Dinge, über die wir gestern stritten. Ich sagte ihm, daß ich manchmal mit der Sicherheit einer Mondsüchtigen Dachrinnen entlanglaufen müsse; wenn sie dann herunterfällt, ist es ganz und gar ihre Sache. — „Ich fürchte weniger, daß Sie vom Dach als zwischen zwei Stühle fallen.“ — „Aber das ist ja gerade mein Platz! Jeder von uns ist heute stärker sich selbst, handelt unweigerlicher seiner Natur nach als jemals zuvor, und ich habe es halt immer mit dem Vermitteln gehabt.“ — Er schüttelte den Kopf: „Es sieht nichts dabei heraus.“ Und weil auch ich davon überzeugt bin, beteuerte ich, sind es nur mehr Gelegenheiten, die sich mir aufdrängen, welche ich ergreife. Niemand hätte ungerner die Brücke passiert.
„Ich hätte es nicht getan“, sagte Fortunio.
„Es gibt Leute, die nicht dazu da sind, nein zu sagen. Zugegeben,“ sagte ich, „daß es die Belangloseren sind.“
Wir kehrten in ein dunkles, altes Gasthaus ein, und es gab wundervolles Brot, wundervolle Butter und ebensolche Marmelade. Wahrscheinlich war es heute auch in Deutschland schön, und die Menschen suchten das Freie dort wie hier. Es sei denn, daß sie es vorzogen, sich nicht hungrig zu laufen, da es ja in keiner Herberge etwas Richtiges für sie gab. Besonders die Kinder . . . so ist einem heute alles vergällt.
21. MÄRZ. Der Brief einer Deutsch-Amerikanerin, die sich auf der Rückreise nach New York in Zürich aufhielt, setzte mich in großes Erstaunen. Kinderlos, von Haus aus eine biedere Württembergerin mit steinschweren Augen, war sie, in Ermangelung jeglichen Ventils für ihre natürliche Schwermut, dem Okkultismus verfallen und ein Schreibmedium geworden. Sonst ohne andere Interessen — selbst während des Krieges — als ihren Mann, ihren Haushalt und allenfalls ihre letzte Häkelarbeit, paßte dieser vom Zaun gebrochene Brief — wir kannten uns kaum — in keiner Weise zu ihrem Phlegma. Wie kam sie zu meiner Adresse? — Sie schrieb mir, daß sie mich warnen müsse.
22. MÄRZ. Der Brief der schwäbischen Amerikanerin ließ mir keine Ruhe, und ich fuhr hierher. Am Berner Bahnhof kaufte ich Zeitungen für unterwegs. Sie waren alle von Berichten über Verwüstungen der deutschen Truppen auf ihrem Rückzug aus Nordfrankreich erfüllt: eine künstlich gestartete Agitation, dachte ich erst, um dem, in den letzten Wochen abflauenden Haß neue Nahrung zu geben und Öl in das abnehmende Feuer zu gießen. Denn leise, leise war von der Möglichkeit zu vermitteln die Rede gewesen. Da koppelten sich denn die Interessenten des Krieges zu neuen Präventivminen zusammen. Glich ihnen dieses nicht auf ein Haar? Aber zu meinem Entsetzen fand ich da jene Verwüstungen, und zwar mit unleugbarer Genugtuung als „militärische Notwendigkeit“ in den deutschen Blättern bestätigt. So war jenem so aufgerissenen und gemarterten Boden eine neue Schmach zugefügt, und ein genarrtes Volk gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die ein Hut voll toll gewordener Idioten, „Oberste Heeresleitung“ genannt, ihm erteilte. Diese „militärischen Notwendigkeiten“! Oh, wieviel deutsche Landsmänner würden ihretwillen kläglich verderben! — Ein Sturm brach in mir los, um so heftiger nur, als er in Ohnmacht sich entfesselte und seinem Rasen nichts im Wege stand, als die Wurzeln meines Seins, an welchen er riß und, wilden Regentropfen gleich, kalte Tränen aus meinen Augen schlug. Stäupen hätte ich sie lassen mögen, diese Herren Befehlshaber, keine Strafe wäre mir jämmerlich genug erschienen für diese menschenunwürdigen Köpfe, deren Nasen kurz ausliefen wie die Schnauzen der Hunde, oh! ebenso unfähig wie Hunde den geistigen Gang der Dinge zu spüren! Und die erbärmlichen Blasen dieser infantilen Gehirne, durch ein Wunder des Teufels für wirkliche Felsengebirge gehalten, beherrschten und verrammelten heute als „militärische Notwendigkeiten“ alle Straßen der Welt! Nein! das war kein Leben! Es war nicht zu ertragen! Es war mir fremd das Geschlecht, das solche Dinge befahl und sich nicht scheute, sie auszuführen. Und ich war betroffen! und ich war mitgefangen. Mitgehangen war ich, ohne mitzugehen! — Der Zug lief in die Halle ein; die Passagiere verließen ihn. Hatte der Wahnsinn der Welt mir den Verstand geraubt? — Ich konnte mich nicht besinnen, weshalb ich da auf dem Zürcher Bahnhof stand. Er war von beißendem Nebel erfüllt, und mit hochgestülpten Kragen eilten alle dem Ausgang zu, während ich, den Mantel am Arme, im dünnen Kleide dastand, in unerträglicher Hitze und stürmisch bereit, aus dieser Welt, wie sie sich drehte, davonzulaufen. Ein Dienstmann fragte, wohin ich wollte, und ich sagte, daß ich es nicht wisse. Uralte Instinkte der Rachsucht und der Wildheit tobten in mir wie einst die Peitschen des Xerxes gegen das Meer! Ha! was wollten sie noch in der Weltgeschichte, diese verspäteten Hanswurste in dem lächerlichen Aufzug ihrer frisierten Helmbusche, ihrer aus gelbem Blech gedrehten Achselrollen, den zurückgeschlagenen roten Eselsohren ihrer Mäntel, ihren albernen Säbeln, gut für ein Possenstück, gut für ein Schaukelpferd, ein Ulk, bevor wir uns erniedrigten, davor zu zittern.
Wie es zusammenhing, daß ein fliegender Zeitungsstand die Erinnerung zurückrief, welche mir doch gerade die Zeitungen geraubt hatten, mögen andere erklären, ich telephonierte an Frau Eleonore Grell: sie war zu Hause. Aber auch ihr Gatte, Onkel Sam aus Mannheim, der flinke Geschäftsmann mit dem schnurrigen Schnurr- und Vollbart, befand sich at home. Er hatte sich das okkulte Getaste seiner Frau energisch verbeten und glaubte es infolgedessen längst unterdrückt. So trafen wir uns denn bei Huguenin, aber sie beteuerte mir, nichts anderes sagen zu können, als was sie mir auf ein inneres Drängen hin geschrieben hatte. Ich ließ ihr aber keine Ruhe und folgte ihr auf gut Glück in ihr Hotel. Und richtig war ihr Mann inzwischen ins Freie spaziert.
Wir setzten uns ans Fenster, welches die Limmat überhing. Der See, die Wolken und das ferne Bergland leuchteten im Abendschein grüßend und verträumt in dies hochgelegene Zimmer.
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Hier schalte ich für den Leser eine Warnung ein: die Unwirklichkeit spielt in diesem Buch so stark in die gröbste Wirklichkeit hinein, daß ich gerade die besten, an die ich mich doch wenden möchte, abzustoßen befürchte. Aber ich muß mich streng an die Begebenheiten und ihre Reihenfolge halten, und wenn ich nicht ebenso chronologisch das große Spiel der Schatten mit hereinbeziehe, ist dieses Buch nicht wahr.
Sobald wird ja der Okkultismus seine besondere Peinlichkeit gewiß nicht los. Denn für Namenloses ziehen da Benennungen mit großem Schwalle herauf, und geistiger Brechreiz ist die unweigerliche Folge. Wer sich heute auf den Weg zum Nichts aufmacht, ist jenen Steinklopfern vergleichbar, die auf ein fragliches Echo hin die Felsenwand behämmern, und mitten im treibenden Geröll Schutt ablagern, wo kein Liebhaber des Schönen seinen Fuß noch setzt. Und doch wird für ihn vielleicht die Straße hier gelegt, die nach dem dornenumwachsenen Reiche schaut, vor welchem Ferne, Wachstum und Allmählichkeit entstürzt. Denn ob dein Sarg noch auf den Schultern derer lastet, die ihn hinaustragen, oder ob deine Grabesinschrift seit Jahr und Tag verwitterte, ist gleich.
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Ich kehre zurück in das hochgelegene Hotelzimmer, wo wir auf einem roten Repssofa beim Fenster saßen, das die Limmat und den See und Ferne und Gebirge übersah. Von Heerscharen erfüllte sich die Luft. — Auf den Ruf welches Jagdhorns — uns Tauben nur unhörbar — eilten sie her? — Wie durchsickertes Gestein so schwoll die Stube an. War der Ansturm der Schatten das Neue, was es unter der Sonne gibt? — Aber schon war ich des einfachsten Denkens nicht mehr fähig: alle Poren des Gesichtes sanft gebläht, ergoß sich unaussprechliche Verlorenheit, ein hinträumen, unbeweglich wie ein Leben lang. Das Herz erstickte von all dem Sang und Braus. Kein Mißton trübte den unendlichen Chor. Ein Chor sage ich. Kein Ungebetener darin. Hier war die Sichtung: volles Orchester, nicht wie in unserer Mitte unreines dazwischenfahren, grelles übertönen eines unbefugten Soprans. Ausgekämpft!
Ganz versunken in den Vielen oder in mich, selbst? — (ich unterschied es nicht) — faßte ihr wissen und ihr begreifen das, ganze Herz. Des Mediums hatte ich vergessen. Mir zu Liebe, es ist wahr, doch auf sein Geheiß nur waren sie hergewallt, so dicht! so feierlich gedrängt! „Sieh dich vor, du kannst nicht wissen, du bleibst allein, oh!“ . . . stammelte die Feder.
Wozu war ich denn hergereist, wenn nicht sie zu vernehmen? Und nun dünkte mich dies so fremd und kindisch, ein Bilderbuchbegriff. Gab es denn im Scheine dieser wogenden Luft etwas wie eine Zukunft? Führte man sie nicht mit sich wie ein Geweih? Wuchs sie nicht an mit uns? War sie denn nicht der eigene Hauch, der eigene emporstrebende oder schwankende, flackernde oder in nichts zerrinnende Schatten? Stand sie nicht als der Wald, der aus seinen Tiefen unsern eigenen Ruf zurückhallt? — so die Völker, so der einzelne. Was immer ihnen glückliches oder grausames begegnet, jeden Zufall riefen, beriefen sie herauf. Wir nennen’s Zukunft! —
Frau Eleonore Grell hielt mir ein Blatt entgegen, das mit den Schriftzügen eines zehnjährigen Mädchens überzogen war. Es besagte immer dasselbe: Im Nu war alle Weisheit abgeworfen und die Furcht, die mich hierher getrieben hatte, wieder da.
Verwirre sie nicht, schrieb jetzt Eleonore, und als sie diese Worte gelesen hatte, legte sie augenblicklich die Feder weg. Nichts hätte sie vermocht, sie wieder aufzunehmen. Die Sitzung war zu Ende.
23. MÄRZ. Ich fahre nach Bern zurück. Fortunio kommt mir entgegen, und ich frage ihn, was von den Berichten über die Verwüstungen zu halten sei. „Die deutschen Communiqués geben sie ja selber zu,“ seufzte er, „sie brüsten sich sogar.“ Wir überschritten den Platz zum Kasino. Das Gebirge strahlte im vollen Ornat. Wir setzten uns ins Freie und starrten, Verbündete der Verzweiflung, ohne zu reden, vor uns hin.
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Fortunio fragte, warum ich in Zürich gewesen sei, und ich verweigerte die Auskunft.
24. MÄRZ. Auch meine vier Wände sind mir verleidet. Die Sonne scheint grell, verletzend, und nachts faßt mich der Schlaf nur wie eine Kranke, um mich zu erschrecken. Ein Gesicht wendet mir so gemarterte Augen zu, daß ich erschüttert frage: „Hast du Arme denn nicht ausgelitten?“ und fahre stöhnend auf, weil es nur der Reflex von einem Kummer war, den diese Augen spiegelten. Nur ein überschwängliches Mitgefühl.
25. MÄRZ. Gestern abend bei Fortunio war Abigail von der Agence, der hartnäckig am Thema der Verwüstungen festhielt. Auf dem Heimweg wurde er immer dringlicher. Logisch, folgerichtig wäre es, zu den Ereignissen Stellung zu nehmen; unvereinbar mit meiner bisherigen Haltung, wenn ich schwiege. „In der Tat!“ rufe ich in einem Tone, der bitterer ist als Galle. „Sie reden, als wüßte ich nicht, daß Ihr die Dinge glaubt, die Telramund Euch von mir sagt.“
Doch Abigail nahm alsbald seinen Vorteil wahr: „Sie haben es ja in der Hand, Ihre Freiheit des Handelns zu dokumentieren!“ Je mehr er mich in die Enge trieb, desto schwerer wurde mir zumute, hatte er mir doch meine eigenen Gedanken verraten.
„Es wird nicht gut.“ Und ich erzählte ihm meine Züricher Reise.
Er war mächtig interessiert. Ich ließ ihn trotz der späten Stunde zu mir herauf und zeigte ihm das Blatt Eleonorens. Es enthielt nichts, was ihm behagte. „Die Hand eines Kindes“, sagte er wegwerfend. Ich bereute schon, es ihm gezeigt zu haben, und wünschte ihn die Treppe hinab, riß die Fenster auf, als er gegangen war, und warf sie ruhlos, verlassen, gepeinigt wieder zu.
25. MÄRZ. Wie in aller Welt haftete Pech meinen zehn Fingern an? Aber ich täuschte mich ja! Es war ein Irrtum . . . ah, es war ein Traum, so lebhaft aber, daß ich mit beiden Händen in die Höhe fuhr.
Nachmittags bei der Fürstin, in der Hoffnung, ihre nüchterne Atmosphäre würde mir Ernüchterung bringen.
„Et la Calicie“, sagte sie. „Ah! ils se valent bien tous, allez!“
Mir wurde nicht besser, und ich ging.
Über der Kornhausbrücke hing sehr niedrig eine Mondsichel, so wunderbar ausgeprägt, so sprechend, so beseelt, so festlich!
27. MÄRZ. Nicht nur in meinem, nein, ich darf es sagen: mehr noch im Namen der vielen in Deutschland (oder der wenigen, gleichviel!), welche sich nicht äußern konnten, wollte ich gegen die neueste Kraftprobe der Herren Militärs protestieren, und es dabei genau so halten wie die oberste Heeresleitung, nur umgekehrt: das heißt mit eben derselben Arroganz über militärische Notwendigkeiten hinwegsehen, wie sie über menschliche und moralische. Meine Wohnung aber, meine Sachen, meine zurückgelassenen Briefe, ein gewisses Schlößchen im bayrischen Vorgebirge, das selbst mitten im Kriege so zauberhafte Kreise zog, dies alles sah ich vielleicht nicht wieder. Und, die Trennung von meinen Freunden, meine Geborgenheit? Hier war ich so fremd! Warum aber verhielt sich dies alles bleich, ohne Licht, unvorhanden, ohne Resonanz, da mir doch wohl bewußt war, daß es wieder in ganzer Kraft ausziehen würde? Wie jene rein umrissene und sehnsuchtsvolle Mondsichel, die gestern über der Brücke so tief am Himmel hing und ihn beherrschte. Was weiß er noch von ihr, sobald die Sonne brennt? So waren alle Beweggründe, die mich zurückhielten, von einer stärkeren Forderung entkräftet und verdrängt.
29. MÄRZ. Kaum war an diesem 29. März mein Protest an das Journal de Genève abgeschickt, als mir eines jener erprobten Warnsignale übler Vorbedeutung, die wie mit Hellebarden mein so ganz auf innere Stimmen angewiesenes Sein umstellt halten, auf einem Rad, als hätte es höchste Eile, entgegensauste.
30. MÄRZ. Schon verschieben sich sachte wie auf einer Wandelbühne die Kulissen: Verstummtes, Unterdrücktes belebt sich aufs neue, findet wieder Farbe und Gestalt.
31. MÄRZ. Eine Antwort. Schon! — „Die vielen Zuschriften, der Raummangel . . . meinen Brief jedoch gedächte man zu bringen.“ Es steht nichts von einem Termin. Aber ins Ungewisse ertrage ich diesen Zwiespalt nicht. Morgen fahre ich nach Genf zu Romain Rolland.
1. APRIL. Sonntag. Unter strömendem Regen bin ich nach Champel gefahren. Rolland wußte schon, warum ich kam. Er war zufällig auf der Redaktion gewesen, als mein Brief dort eintraf, hatte ihn gelesen und war unbedingt für dessen Veröffentlichung.
Ich sprach dann beim Journal de Genève vor und erwirkte, daß der Protest am übernächsten Tage erscheinen würde. Somit war die Sache erledigt, und ich ging.
Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen. Es wehte eine schneidende Luft, aber See und Himmel strahlten in frühlinghafter Bläue. In mir derselbe jähe Szeneriewechsel.
Ein erstickend schwerer Vorhang riß magisch in die Höhe. Nicht der Salève, der sich hier an allen Straßenecken türmte, sondern die bayrischen Berge in ihrem seelenvollen Dunst und ihre Waldungen verstellten mir den Weg, und die betrübten und bestürzten Mienen meiner zurückgelassenen Freunde. Es war die Trennung von ihnen, das Exil. Drüben im Vorgebirge das Schlößchen, das wie eine selige Insel auf dem dunkeln Meer dieser Zeiten träumte, die schöne und musenhafte Freundin, die mich dort erwartete, die dort verbrachten Herbst- und Sommerwochen.
Tausend Erinnerungen setzten sich wie Trauerglocken in Bewegung. Oh teuer erkaufte Ruh!
4. APRIL. Bern. Abigail besucht mich; sehr gespannt. Ich sage ihm, wie Rolland, den er immer anschwärzt, sich verhielt.
5. APRIL. Der Protest ist heute erschienen. Ich kaufe das Blatt, ohne den Mut zu finden, es zu entfalten.
* *
*
Ich übergehe die nächsten Tage. Diese Aufzeichnungen sind ja nicht verfaßt, um Gemütsbewegungen zu schildern. Ganz andere Zwecke verfolgt dieses Buch. Auch ist die Zeit nicht mehr, und man wird härter. Nur im Hinblick einer Einsicht, einer Erkenntnis, wo Erfahrungen mit immer verstärkter Deutlichkeit den Charakter des Lebens kennzeichnen und Kommentare stellen zum Schicksal überhaupt, dürfen wir dabei verweilen. Kein größerer Wahn als der, zu glauben, man kenne das Leben, um es ausgekostet, sich mit allen seinen Genüssen, Schrecknissen und Abenteuern vertraut gemacht, viele Männer oder Frauen gekannt oder geliebt zu haben. Es starb so mancher ahnungslos dahin, welcher die ganze Welt bereiste. Auch nicht wer Gefahren überstand, nein, sondern wer die Gefährlichkeit des Daseins, dessen Gefährdetheit durchschaute, die wie ein giftiger Trank sich unablässig bereitet und immer die Hefe zurückläßt, um sich neu zu mischen, nur wessen Auge geschärft wurde für die Schatten, die im Tageslicht aufpassen, nur der weiß über diese Welt Bescheid, und in ihm lebt das Bewußtsein — bitter wie die Aloe —, daß er umsonst gelebt hat, wenn die Schule, durch die er ging, anderen nicht zur Lehre dienen wird.
Das erste war übrigens, daß mich die Fürstin ans Telephon rief: „C’est désastreux! quelle folie!“ sagte sie unverblümt; und als ich sie besuchte: „Je dis ce que je pense, mais est-ce que j’écris, moi? — Pas si bête!“ empfing sie mich und kochte mir mit heftigen Bewegungen Kaffee.
Dann aber kam Besuch: eine offiziöse Engländerin, deren Mann mit atrocités allemandes einen schwunghaften Handel trieb, und ein russischer Diplomat von professioneller Verlogenheit, die mir Komplimente machten und mich einluden. Wie schwül mir da wurde! Nein, so war es nicht gemeint, und ich gehörte nicht hierher! Nicht hierher und nicht dorthin. Bevor die Fürstin mich mit einer ihrer Brüskerien zurückhalten konnte, war ich ausgerissen und die Treppe hinabgeeilt.
Fortunio, der mir auf der Straße begegnete, nahm dieses typische Palaceerlebnis von der komischen Seite und lachte. Wir saßen zusammen, als Telramund im biederen Pelzrock, an seiner Rechten die Menschenfresserin von Hokusai, mit jener so charakteristischen Verleumderwärme, die unbedingt etwas anderes scheinen möchte, auf uns zueilte. Seine Hand weit entgegenstreckend, brachte er mir rückhaltlose Schmeicheleien zu herzhaftestem Ausdruck. Fortunio, welcher fühlte, wie bitter sie mir mundeten, lenkte das Gespräch auf andere Dinge.
13. APRIL. Den Abend mit Fortunio und Abigail verbracht. Wir sprachen von Träumen. Abigails sehr spekulatives Gehirn kann sich in so feinen Windungen verlieren, daß es sich beizeiten von seiner höchst stofflichen Person vollkommen losgelöst darstellt. Plötzlich, mitten in einem Satz, den er sagte, lebte ein geradezu abscheulicher Traum der vergangenen Nacht in mir auf, und schon begriff ich nicht mehr, daß ich mich jetzt erst auf ihn besann, unterbrach aber sofort das Gespräch, um ihn zu erzählen. — „Achtung!“ rief ich, „so etwas Widerliches habt Ihr noch nicht gehört:
Ein Mann, von dessen schwarzem, fettem, unbeschreiblich schmutzigem Haare dichte graue Schuppen auf seinen Anzug regneten, war dicht an meine Seite getreten. Dabei zog er mit einem Kamm durch diese Strähne von nie dagewesener Schmierigkeit, so daß der graue Regen immer dichter fiel. Ich rückte unwillkürlich von ihm weg, da fuhr er weitausholend mit diesem treibenden Kamm in mein eigenes Haar, ich fühlte ihn noch darin stecken und erwachte vor Ekel.“
Fortunio schwieg. Auch der zu Kommentaren schnell bereite Abigail äußerte sich mit keinem Ton.
„Es steht mir natürlich etwas höchst Widerwärtiges bevor!“ nahm ich selber auf. Auch diese Bemerkung weckte kein Echo. — Man ging auf konkrete Dinge über. Es wurde spät. Fortunio erwähnte das neue Blatt, welches Telramund schon in den nächsten Tagen zu starten gedachte und wie jemand, der sich ungern etwas zu sagen entschließt: „Er, beabsichtigt übrigens, eine Übersetzung Ihres Protestes in seiner ersten Nummer abzudrucken.“
„Was fällt ihm ein!“ rief ich. „Das kann er nicht.“
„Er kann es schon“, sagte Fortunio.
„Die Friedenswarte bringt sie.“
„Er will ihr zuvorkommen.“
„Ungefragt? Ohne sie nur zu zeigen?“ fuhr ich im lichterlohen Zorne auf. „Sie sind Zeuge, daß er mir nichts von einer solchen Absicht verriet, als er vorgestern zu uns stieß. Ich figuriere nicht in diesem Blatt.“
„Fassen Sie sich doch!“ sagte Fortunio.
„Nein, ich fasse mich nicht. Oh Fortunio!“ rief ich, „oh mein Traum!“
„Schreiben Sie ihm halt.“
Ich ließ sofort das Nötige herbeischaffen und schrieb zitternd vor Aufregung, was er mir diktierte. Dann brachen wir auf. Der gänzlich verstummte Abigail blieb an unserer Seite. „Die Gefahr ist natürlich,“ bemerkte Fortunio, „daß der Brief zu spät eintrifft.“
Dies sagte genug. Er wußte mehr. Meine Empörung, meine Wut steigerte sich mit jeder Sekunde. Je ungezügelter ich mich über den Charakter des bevorstehenden Blattes ausließ, desto reservierter wurde Fortunio. Je mehr ich sah, daß er sich ärgerte, desto mehr ärgerte ich mich über seinen Ärger. Der meine richtete sich besonders gegen Abigail, dessen Schweigen mir mißfiel. Nicht das Ungestüm, mit welchem ich auf den mir zugedachten Schlag reagierte, sondern die ausgemachte Tücke desselben schien mir das wesentliche, was unbedingt eine Parteinahme für mich verlangte. Auf eine solche ließ jedoch nichts in der, all die letzten Tage so überschwänglich gewesenen Haltung Abigails schließen.
Oben in meinen sorgfältig geschmückten, aber von Telramund behexten Räumen, in welchen ich noch nicht eine einzige frohe Stunde verlebt hatte, noch fernerhin erfahren würde, brach ich in helle Flammen der Verzweiflung aus. Dies also war das Resultat! Zu diesem Ende also hatte ich die Worte, zu welchen ich glaubte, mich entschließen zu müssen, so bang gewogen, so behorcht. War ich dafür bis an die äußerste Kante einer abschüssigen Stelle vorgetreten, so weit, als mein Fuß noch Boden unter sich fassen konnte, um hinterrücks diesen Stoß zu erhalten? Denn was für eine Übersetzung und zu welchem Zwecke sie fabriziert wurde, wußte ich genau. Am Arme Telramunds, dieses Verräters, sollte ich an die Öffentlichkeit. Ich hatte mich, es ist wahr, vom Anfang des Krieges an zur Opposition geschlagen. Aber sie galt seinen Anstiftern und deren verworfener Gefolgschaft. Das Volk selbst tat mir unabänderlich leid. In meiner, von kalten Wirbelwinden der Abneigung durchsackten und durchkreuzten, aber dabei tiefen Liebe zu Deutschland, lag das Band zwischen Fortunio und mir. Oft sprachen wir davon. Und dünkten uns allein. Gerade unsere gallische Seite setzte uns ja auf Grund unserer Abgerücktheit in Besitz des Spiegels, den die unvermischt Deutschen nicht führen. Ihr Nationalismus ist ja Import, ihr Fremdenhaß unecht, imitiert, immer bereit, wie Mörtel von ihnen abzufallen. Im übrigen ist die Gefahr derjenigen Deutschen, welche Selbstkritik üben, viel eher, daß sie erstarren. Wenn es kein französisches Wort für „Gemüt“ gibt, so gibt es noch weniger ein deutsches Wort für „affectueux“. Die Deutschen — und das ist es, was einem oft an ihnen erbarmt — sind nicht imstande, sich im geringsten zu hegen. Weil jede Nation seine so typischen Unholde hat, war Telramund, allen deutschen Germanophoben voran, gerade in dieser Germanophobie ein so typischer Boche. Jedenfalls durfte der Mann von Glück reden, daß sein und seiner Gesponsin Leben an diesem Abend nicht in meine Hand gegeben war. Statt dessen war es ihr Trick natürlich, welcher aufs beste gelingen mußte, und weit entfernt, daß die beiden verdienterweise und auf meine Order hin vor Sonnenaufgang baumelten, haftete meinem Frühstückstablett am Morgen dieses 14. April die erste Nummer der Telramundschen Zeitung an. Sie umfaßte vier Seiten. Alle Beiträge waren anonym. Nur mein fettgedruckter, im Reporterdeutsch übertragener Protest trug meinen Namen. Ich übergehe den Zorn, mit dem ich diese wüste Revolverprosa las, welche hier als meine eigene stand; wie vortrefflich war dabei ihre Wirkung auf mich selber berechnet! Denn die Feindschaft von Leuten wie Telramund ist wie mit tausend Augen auf uns gerichtet, mit tausend Fühlern in uns verbissen. Sie kennen ja die Ablenkung ins Reich der Ideen nicht! Sie spinnen keine eigenen Gedanken! Ich Törin hatte, wie über einen Witz, lustig darüber aufgelacht, daß Telramund meinen Protest als eine „Manoeuvre allemande“ bezeichnet hatte, ohne zu erwägen, daß er natürlich auf Mittel und Wege sinnen würde, dies zu bekräftigen. So galt es denn, mich gewaltsam über die Linie zu ziehen, die ich mir selbst gesteckt hatte. Dies ergab sich ohne weiteres durch den gehässigen Ton der Übersetzung. Das andere würde ich schon selber besorgen; denn daß ich reagieren, ja mich hinreißen lassen und ihm in die Hände arbeiten würde, wußte niemand so gut wie dieser ausgezeichnete Kenner meiner Person. Ja, es kam noch besser für ihn, als er wohl dachte.
Fortunio, den ich sofort benachrichtigte, ließ mir sagen, er könne mich erst gegen zwölf Uhr sehen. Dies war mir viel zu spät. Gleich, in einer Viertelstunde, bevor noch irgend jemand auf die Gasse trat, mußte meines Erachtens etwas geschehen. Wahn! überall Wahn! In der Redaktion des Bundes bestand ich darauf, daß meine Verwahrung sofort in der nächsten Nummer stehen müsse. Es wurde mir versprochen. Immer noch war es Morgen. Rückte denn heute die Zeit nicht vor? Alle Hauptstraßen meidend, kam ich im Sturmtempo zu Fortunio, ihm das fait accompli mitzuteilen.
Wenn es wahr ist, daß kein Sperling versehentlich vom Dache fällt, nun dann steht gewiß auch ein jeder unserer Tage unter einer bestimmten Konstellation, und mein Unstern feierte gerade seinen Mittag. Fortunia, die auf der Treppe stand, empfing mich mit einem unglücklich gewählten Wort. Schließlich war es ihr Haus, ich konnte sie nicht niederstoßen. An ihr vorbei, geradeswegs in Fortunios Arbeitszimmer, der die Mitteilung von meiner zu erscheinenden Notiz mit einer Kälte aufnahm, die mich unsagbar erbitterte. Hier bin ich fehl am Ort, dachte ich, und nahm eilends Abschied. Auf der Straße war es kalt. Ich sah mich um: sie war leer. „Ich bin verraten“, sagte ich laut. Ich hatte nur ein paar Schritte bis zum Haus, in dem ich wohnte. Die Hand vor den Augen haltend, als sei mir etwas hineingeflogen, eilte ich die Treppe hinauf und schloß mich ein.
15. APRIL. Telramund (immer anonym natürlich) veröffentlicht eine hämische Erwiderung auf die meinige. Meinen französischen Text und seine Übertragung würde die nächste Nummer seiner Zeitung zusammen abdrucken. Der Leser möge sich dann selbst ein Urteil über mich bilden. Ich sofort wie eine Windsbraut, auf Flügeln des Zorns, in die Redaktion mit einer „Schlußerklärung“. Auch diese wollte ich sofort eingerückt sehen.
Daraufhin vertiefte sich das Waldesschweigen um mich her. Fortunio war ohne ein Wort nach Lugano abgereist. Ich begriff es nicht. In meiner Unkenntnis alles dessen, was mit Partei- oder Presseinteressen zusammenhing, wollte mir ein Überblick der besonderen Situation nicht gelingen. Ein paar Dinge sah und erkannte ich mit unbeeinflußbarer Sicherheit, gleichsam durch ein Brennglas, mußte aber jede Einsicht mit einer Unzulänglichkeit überzahlen, jedes Überbieten mit einem Versagen. Wer mich für dumm erklärte, dem hatte ich von jeher meinen Segen gegeben. Es will keine Geographie in meinen Kopf; vergebens starre ich auf einen Globus; ein Morseapparat bleibt mir ein unergründliches Geheimnis; in scheuer Bewunderung starre ich während einer Panne auf die Mechanikerkünste des Chauffeurs, und so teilnahmslos ist gewiß kein Mensch, daß er, ohne mir beizustehen, zusehen könnte, wie ich meine Koffer packe. Durch Vorzüge, wie durch Mängel isoliert, muß ich mich selber auf mich nehmen wie ein Kreuz. Es kann geschehen, daß ich vom Blatt begleite auf eine Weise, die jeden Musiker empfinden läßt, welche Entbehrung es für mich ist, ohne Musik zu leben, und mir selbst wird zumute gewesen sein wie einem plötzlich freigelassenen Pferd, das über eine Ebene voll Sonnenlicht und Schatten fliegt. Nichts kommt seinem Rausche gleich. Von solchen Augenblicken wahren Lebens erwache ich zum Tode des Alltags wie ein Gefangener aus seinem Freiheitstraum. Gerade nach solchen seelischen Abenteuern aber wird es am leichtesten vorkommen, daß ich mit einer aufgeregten Hilflosigkeit, viel eher eines Dorftrottels, als meiner würdig, nach meinen vergessenen oder verirrten Habseligkeiten suche, und keiner der Musiker von vorhin würde mich wiedererkennen.
* *
*
21. APRIL. Besuch Abigails. Oh nichts von Komplimenten mehr! Nichts mehr von „femme exquise“. Wir prasselten uns Vorwürfe, groß wie Taubeneier, ins Gesicht. Meine Schlußerklärung sei eine Abschwächung gewesen. Ob dies der Moment wäre, zu sagen, daß es Boches in jedem Lande gäbe.
Es sei die Wahrheit.
In der Tat hätte ich die richtige Gelegenheit ergriffen, dies zu äußern.
„Ihr habt ja meinen Protest als eine manoeuvre allemande angesehen.“
„Cest donc une vengeance“, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte. Ich eilte zur Tür, und, vor ihr aufgepflanzt, gedachte ich das letzte Wort zu haben, als mir plötzlich ein Licht aufging, auch Fortunios wortlose Abreise mir erklärte. „Sie haben das Wort ‚Abschwächung‘ gebraucht“, sagte ich, „und werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie mir selbst, geholfen haben, einen Nachsatz aufzusetzen, der jede Möglichkeit einer solchen Auffassung ausschließt. Alles andere ist mir im Augenblick egal.“
Mein Entschluß einer neuen Bekräftigung konnte ihm nur erwünscht sein. Es setzte ihn in den Stand, zum zweiten Male Heu einzufahren, nachdem das erste verregnet war. Zum dritten Male schlug ich nun den Weg in die Redaktion des „Bundes“ ein. Nicht mit Unrecht wurde ich aber dort darauf hingewiesen, daß sich eine Schlußerklärung mit keinen neuen Erklärungen vertrüge. Ich führte mit aller Vehemenz dagegen aus, sie sei für mich Ehrensache, und setzte endlich ihre Veröffentlichung durch. Natürlich mußte sie wieder auf der Stelle her.
Daß hiermit ein Loch an Stelle eines Fleckens trat, war mir zwar klar. Und nach der deutschen Seite hin verschlechterte sich natürlich meine Situation, war eine Herausforderung mehr. Doch auch die formvollendetste Blamage durfte ich in diesem Augenblick riskieren, nur nicht, daß behauptet werden durfte, ich liefe vor meinem eigenen Mute davon. Ich war froh, daß jetzt um mich her eine solche Leere bestand, und niemand in Sicht, der mir einen Rat erteilen konnte. Denn der Fall lag allzu klar. Hier war es nicht le ridicule qui tuait.
23. APRIL. An der Schnelligkeit jedoch, mit welcher jetzt meine Stimmung umschlug, merkte ich den Stoß, den mein Gleichgewicht erfahren hatte: meine Gemütsverfassung war eins mit dem herrschenden Wetter: Regen, Finsternis, zerrissenes Gewölke, Himmelsblau, Sonne und wieder Sturm und Schnee. Kurz entschlossen löste ich eine Karte, um einer Aufforderung A. H. Paxens nach Lugano zu folgen.
Abigail, der sich nachmittags bei mir meldete, war sichtlich erfreut über die inzwischen schon erschienene Notiz. Aber ich hatte jetzt reichlich genug von der leidigen Geschichte, deren dickes Ende ja noch bevorstand, denn bis jetzt hatte noch kein deutsches Blatt auf meinen Vorstoß reagiert.
23. APRIL. In Luzern unterbreche ich meine Fahrt und steige im Hotel Tivoli ab, bei Glasenfrosts.
Warum aber fallen nachts Felsenblöcke über mich hin? Warum sehe ich einen Baum an einem unsichtbaren und doch so verzehrenden Feuer verbrennen, daß er im Nu nur ein Gerippe ist von einem Baum? Ohne Flamme und ohne, daß ein Blitz ihn traf, nur ein gespaltener Stamm?
Warum stürzt von zwei Leuchtern der eine mit herabgebrannter, erloschener und tränender Kerze zu Boden? Eine trübe Bildersprache, die ich in diesem Jahre noch nicht entziffern sollte.
Um Mittag fahre ich weiter. Jenseits des Gotthard gerät der Himmel ins Lachen. Er findet offenbar die Welt noch schön. Tröstlich prangende Blütenhänge und endlich, tief unten, das hingezauberte Blau des Sees, einem verliebten Abendhimmel hingegeben. Und die Bäume stehen hier wie sanfte, begütigende Bräute.
Der Weg nach Paradiso ist holperig genug, auf den Bergen oben leuchten feurige Spieldosen auf. Die Natur ist ein Zwischenakt mit Verwandlungsmusik, und die Nachtluft wird von Amoretten hingetragen. Oh Plansee im bayrischen Gebirg! Du See auf dem Plan, so hoch oben im Wind! Warum schwebst du, Verwunschener, mir vor? Vor mir liegt lächelnde Erfüllung. Du aber bist unbegrenzte Sehnsucht und Verweigerung.
Ein nachgesandter Brief von ihr, die von jenen Bergen spricht, hatte mich in Luzern ereilt. „Bald kommt der Sommer, schreibt sie, rücken wir ihm vor. Der Flügel wird schon in der Halle aufgestellt, die Schwalben fliegen gewiß schon ein und aus.“
Die Droschke rollt jetzt auf glatter Fähre den See entlang.
25. APRIL. Fortunio, welcher von meiner Ankunft bei Paxens erfahren hatte, kommt, verfehlt mich, telephoniert und bittet mich zum Tee.
Ha! denke ich, diesen Tee soll er sich merken bis in sein achtzigstes Jahr. Mit vielem Bedacht staffiere ich mich zu diesem Wiedersehen heraus, um die Meinung, die ich mir von seinen Ritterdiensten gemacht habe, möglichst wirkungsvoll zu unterstreichen.
Wie dem auch sei, ich trug an diesem Tage ein, wenn auch nicht neues, so doch neu beschlagenes Kleid mit halblangen, weit auslaufenden Ärmeln. Weiße Besätze, federleicht und schwarz besäumt, schlossen sie am Ellbogen in zwei Reihen ab. Zwischen ihnen lag wieder eine Spanne Stoffes, den sie ein wenig heruntergezogen, denn so dünn ihr Gewebe war, durch ihre Fülle beschwerten sie ihn doch. Beim Gehen glockten sie ganz leise ab und zu und hingen dann still, bevor sie sich von neuem bewegten. Es war in der Tat ein sehr rhythmisches und geglücktes Ärmelpaar. Vor allen Dingen aber — andere mögen dies gewiß auch schon beobachtet haben — können wir von einer „geistigen Schminke“ angeflogen werden, chimärisch wie jene, welche die Kosmetiker bereiten — denn auch sie, wenn sie von uns fällt, läßt uns fahler, aufgeriebener als zuvor. — Indes gewährte ich den ausgestandenen Nöten der vergangenen Tage ihr beredtes Schattenspiel, ja ein selbstbewußter Schleier chiffrierte noch ein übriges dazu. Also gepanzert, höchst intangibel und durchaus bestechend ging ich, die ihm zugedachte Szene wohl im Kopf, gewandten Schrittes, als hätte ich soeben meine besten Erfolge hinter mir, auf ihn zu.
Es gehört jedoch irgendwie mit zum Leben, daß im geringfügigen, wie im großen die Dinge anders verlaufen, als man sie erwartete.
Zwar in der Tat eilte da Fortunio wie mit neubeschwingter Freundschaft mir entgegen.
Seine Sympathie, erklärte er dabei, hätte nun wirklich die Feuerprobe bestanden.
„Wie meinen?“
Da nicht einmal die desaströse Erklärerei im „Bunde“ vermocht hätte, daran zu rütteln. „Sie kennen die letzte nicht“, erwiderte ich mit der erkünstelten und flackernden Würde einer Überrumpelten.
„Was!?“ schrie er entsetzt und fuhr mit den Armen in die Luft. „Noch eine?!“ Unglücklicherweise mußte ich lachen, und da mir dies seit drei Wochen nicht mehr vorgekommen war, hielt ich nicht sogleich inne, sondern geriet ins lachen, wie einer ins laufen gerät, und ehe Fortunios Arme sich wieder gesenkt hatten, war er angesteckt. Es gab kein Aufhalten mehr. Lachraketen stiegen jetzt in die verblaute Luft, in einer vor Wonne irrsinnigen Natur. Wäre ich zehnmal bedrückter noch gewesen, ich hätte gelacht.
Bald fingen denn auch die Berge wieder an, ihre funkelnden Spieldosen aufzuziehen. Nicht einmal nachts wollte diese Landschaft zum Ernste gelangen; des Krieges selber schien sie zu spotten. Wer hatte denn recht, wenn nicht die Bäume hier am Strand des Sees, die ihre Düfte einander zuhauchten und vertauschten, und wenn sie welkten, wieder erblühten, und wenn sie verdorrten, andere dafür erwuchsen. Es war mir ein Schlag ins Wasser geglückt. Und was dann?
Ich zog Fortunio mit in den Kursaal, sah den Dämchen zu, wie sie tanzten, gewann sechs Franken und verlor deren zwölf.
* *
*
Und nunmehr ging ein Tag blitzender als wie der andere auf, und wie in einer leuchtenden Schale der Vergessenheit zerfloß der See. Vergiß! Vergiß!
Es hinderte nicht, daß ich Fortunio bei Gelegenheit das alte Leitmotiv vernehmen ließ, solange Telramunds im Hintergrunde säßen, sei jede Aktion, jeder Versuch, dem Haß entgegenzuwirken, im vornherein eine gescheiterte Sache. Er ist für das „abwirtschaftenlassen“ solcher Elemente, und ich nicht. Denn bis sie abgewirtschaftet haben, ist ja zuviel verdorben, aufgehalten, zugrunde gerichtet. Fortunio, in vielen Dingen weit beschlagener als ich, sieht nicht, wo ich erfahrener bin als er. Gewiß sind ihm die Götter hold. Taucht er unter, so fischt er gleich etwas Schönes, hält’s gegen das Licht, freut sich des Prismas und läßt sich von den Wellen schaukeln.
Die paar Meinungen dagegen, die mir unverrückbar im Kopfe horsten, muß ich zu Markte tragen, und habe keine Ruhe. Muße bleibt Müßiggang für mich, solange ich sie nicht formulierte. Und die Aufgabe ist doch so schwer, daß ich vor jedem Anlauf von neuem zögere. Bis mein Tagewerk gelingt, sofern es mir gelingt, wird der Abend für mich herangebrochen und meine Gastrolle in dieser zweifelhaften Welt ausgespielt sein. Sollten meine Bücher mich überleben und ich selber wiederkommen, so lese ich sie vielleicht, und vielleicht wird mir dabei etwas sonderbar zumute. Ein Dirigent möchte ich dann werden. Regieren möchte ich!
Die erste Katze möchte ich sein, die keine Vögel mordet. Ich bin in diese beiden Tiere vernarrt und wünschte, sie schlössen Frieden.
Um auf Fortunio zurückzukommen: darüber sei man sich vollkommen einig, sagte er, wie Telramunds Verfahren mir gegenüber zu qualifizieren sei.
Warum ergriff denn keiner meine Partei?
Er zuckte die Achseln, wie jemand, der es aufgibt, etwas zu erklären. Gerade dieses Achselzucken aber gab mir endlich voll und ganz zu verstehen, mit welch unsäglich trübem Wasser in Politicis gekocht wurde; so zwar, als müßte es so sein. Diese Notwendigkeit war es gerade, die ich mich anzuerkennen weigerte.
Ich kann gar nicht aussprechen, wie grausam mich der Plan von einem „Zusammenschluß der Geistigen“ anlächert . . . Wie sollte ein Zusammenschluß der Geistigen zustande kommen, da noch ganz und gar kein Zusammenschluß gegen die Ungeistigen besteht? Ach, kennt ihr Geistigen die Welt noch immer nicht? Was redet ihr groß von eurem Zusammenschluß? Sprecht von Aufgebot, von einem Kampfesruf gegen den Zusammenschluß jener, denen alle Waffen zu Gebote stehen, welche die Gemeinheit führt, dem einzigen Zusammenschluß, der sich bisher verwirklichte, denn dort gebietet der Verworfene über den Verworfeneren, und der Verworfenste ist es, der das Zepter schwingt.
Sprecht von Ausschluß, sprecht von Sorge. Davon sprecht, daß es keine gute Sache geben kann, solange schlechte Elemente sich zu ihr bekennen dürfen, um sie zu untergraben, ist doch an ihrer eigenen nichts mehr zu verderben. Zum Zerstören aber sind sie da.
Gelänge es mir, auf diese noch immer nicht genügend beachtete Beschaffenheit der Dinge die Aufmerksamkeit zu lenken, ich hätte nicht umsonst gelebt. Ich weiß ja, wie sehr mein Scharfblick auf Kosten von Kurzsichtigkeiten geht. Welche Pein ist das! Ich stürme nicht voran, ohne über das Nächstliegende zu stolpern. Von ausgemachter Selbstherrlichkeit, wo ich meiner Sache sicher bin, unheilbar blöde, unheimlich schlau, so harmlos, daß man kichert, so gerissen, daß man mir mißtraut . . .
27. APRIL. Ein Berliner Kriegsgewinnler, den Paxens von Wien her kennen, meldete sich bei ihnen zu Besuch. Der erste, dem ich mit Bewußtsein begegne. Nie habe man bei Hiller so gut gegessen, nie bei Borchard soviel Champagner getrunken. Die Welt habe jetzt die deutsche Faust kennenzulernen. Was Ludendorff befahl, sei unbesehen das Richtige, und keine Kritik gestattet; (das galt mir!) Gott, wie gemütlich man hier beisammen säße, während die Völker einander schlachteten. (Dies sagte er, wie man am warmen Kamin vom Schneesturm spricht, der draußen wütet.) Allen könne es nicht gut gehen, bemerkte er auch. „Schweigen Sie“, rief Frau A. H. Pax. Er guckte etwas verdutzt. „Das ist ja schrecklich mit unserer Valuta“, lenkte er dann ein. „Und mit der geistigen erst!“ fuhr A. H. Pax dazwischen.
28. APRIL. Heute früh bin ich in einer Messe gewesen. Aber welche Messe! In einem sehr alten, dem See gegenüberliegenden und köstlichen Bau: Traumhafte Fresken, das übrige mit roten, langverjährten, rosagewordenen Damasten ausgeschlagen. So gut wie leer. Die Schellen, die der Ministrant in Bewegung setzt, erklingen abgetönt und sind gewiß aus Silber, Weihrauchwolken steigen vom Altar. Dunkel — nein nicht dunkel, von einer lichten Penombra wie eine bedeckte Vollmondnacht, ohne Orgel und Gesang, und dennoch brausend, unendlich groß, ja wie zum Firmament — (wie wurde mir?) weitete sich das stille und verlassene Haus und schwamm im All.
Endlich wieder eine schöne Kirche. Die in Bern hatte ich aufgeben müssen, denn so war die Messe wirklich nicht gemeint. Als ich aber jetzt durch die schwerbehangene Türe ins Freie trat, auf den noch leeren Platz und den besonnten Strand, wo die Platanen ihre eben erschlossenen Kronen so bräutlich dem Licht entgegenhielten, da schien dies alles, diese Natur mit den dekorativ vor und wieder zurücktretenden Wänden ihrer Berge und das gekräuselte, wie in sich selbst verliebt hinziehende Gewässer, selbst der Himmel, der darüber hing, schien nicht so weit wie der eben verlassene, leicht zu umspannende Bau mit den damastenen Wänden von verblaßtem Rot.
2. MAI. Die Pforte, die ins Weglose führt, wurde bisher nur im Vorübergehen angekreidet. Ziemt es sich doch nicht, es zu beschreiten. —
Diejenigen aber, welche solange über die Schiffbarmachung der Luft gegrübelt haben, sind nicht dieselben, welche sich auf Äroplane schwingen, sondern viele Jahrhunderte werfen ihre wilde Brandung zwischen sie. Und doch, und doch . . .
Wie in der nunmehr erkrankten Luft die Menschheit eine infizierte oder jedenfalls, auch ohne es zu merken, eine affizierte ist, wie vielleicht ein Pesthauch so allmählich unseren Planeten umschichtet, daß wir es nicht gewahrten, ebenso glaube ich, daß bei vielen unter uns der innere Sinn dem lautlos tumultarischen drängen und wogen (wo gäbe es Worte?) der so zahllos und so jäh entströmten Leben zugewandter ist, als sie es wissen. Da sind Akzente, da sind Lockrufe, die noch nicht ergingen . . . Da treiben wehe Schwingungen der Wonne von unaussprechlicher Pein, da greifen Klänge ans Herz, zerspringen und ermatten wieder, ohne zu ertönen, und da sind uns Zaubertränke hingehalten, als hätten wir geistige Lippen, sie zu genießen . . .
Es war nicht mehr Nacht, aber der Tag dämmerte noch nicht. Ich schlief nicht mehr und war noch nicht wach. Eine Gestalt, höchst eindrücklich in ihrer Schattenhaftigkeit, erfüllte die Atmosphäre bis an den Rand, als müsse diese wie ein zu voller Becher überfließen, das Zimmer sprengen oder sich entflammen. Und schon war das Unnennbare ungegenwärtig, und es wäre lächerlich unzureichend, wenn ich sagte, es hätte sich entfernt, so ganz außer jeder Beziehung stand es zu Zeit und Raum.
Was aber war inzwischen nochmals vor mir aufgeschimmert? Locken? — von einer Gelocktheit, die es nicht gab, von einer goldenen Blondheit, die nicht vorkommt, ein Licht, das ich nicht kannte, schärfer, und dabei nicht so grell wie das des Tages. Geisterhaft? Aber es war ja von einer schärferen, wärmeren, pulsierenderen Lebendigkeit gewesen, als wir sie kennen. Wir sind nicht lebendig genug, dachte ich bestürzt, und schlug die Augen auf. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Die Fenster sahen auf den Garten; der Himmel ganz blaß, aber im vollen Staat. Kleine Wolken als Vorreiter ausgesandt. Die Bahn war frei, die Vögel vollzählig, Brust heraus, in Positur und einzustimmen bereit. Höchste Spannung in den Bäumen: kommt sie schon? Blumengeflüster: ist sie schon da? — Es war alles wie am ersten Tag.
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3. MAI. Sicher haben die Menschen ihr Hofzeremoniell dem Sonnenaufgang abgelauscht. An sich gewiß eine hübsche Idee. Mit acht Jahren war ich im Kloster Page der schönen Gelmini, die an Epiphania mit dem Beinamen die Gerechte zur Königin ausgerufen wurde. Meine Haare wurden Tage hindurch im Hinblick der zu drehenden Locken mit gezuckertem Wasser gedrillt. Dem Hofnarren fielen sie aus der Schellenkappe tief ins Gesicht. Denn gelockt standen wir alle am Tage unseres Umzugs. Gelmini wurde zweimal gewählt und starb das Jahr darauf. Wie groß war mein Staunen, als ich später erfuhr, eine erwiesene Larve könne ihr Lebtag lang unter Zimbeln und Trompeten als „Majestät“ aufziehen. Und welches Gelächter erntete meine Entrüstung! Aber wie oft hat der verspottete recht! Jede Epoche hat ihren wahren Fürstenkonzern. Wir verkannten dies ganz: darum sind heute unsere goldenen Kutschen remisiert. Großherzogliche Hoflieferanten, Palast- und Schlüsseldamen, wo seid ihr? Terror der Wiener Komtessen, wo bist du? Kurz, kurz ist’s her.
Abends im Kursaal bei Musik geschrieben. A. H. Pax will in der „Friedenswarte“ eine tongetreue Übersetzung meines Protestes bringen, und da er zugleich einen Beitrag für das Maiheft wünscht, setze ich meinen Apparat in Bewegung. Es ist, als träten ungeheure Wasserwerke in Kraft, um einen Fingerhut voll zu kredenzen. Stirnrunzelnd sitze ich inmitten des Hin und Her von Eisschokolade und Tangotänzen, um einige Sätze über die elsässische Frage zu formulieren. Ich begann mit ein paar Anspielungen und zitierte mich aus einem Essay, den ich über die Markgräfin von Bayreuth geschrieben hatte: der Frau fehle es zwar nicht an literarischer Begabung, wohl aber an literarischer Perspektive, und für die Realität des geschriebenen Wortes wohne ihr auch nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl inne wie dem Mann. Heute sei hinzuzufügen, fuhr ich fort, ihr Interesse und ihr Verständnis für Presse- und Parteiwesen sei in der Regel gering, und auf jene allerletzten Endes so gedankenlose Parole: right or wrong my country, wäre die Frau nicht verfallen.
So wird sie denn, erzählte ich von ihr, und meinte mich, nur wenig von bisheriger Politik verstehen, dafür um so mehr von der kommenden. Denn es ist ganz gewiß falsch, zu behaupten, man dürfe Politik nicht mit dem Gefühl treiben. Wie veraltet die ohne Gefühl betriebene sogenannte Realpolitik im Grunde schon war, hätten die zuletzt auf dem Plan erschienenen jugoslawischen Völker sehr wohl erkannt, als sie einst jenen brüderlichen Balkanbund zu gründen beschlossen, welcher dann am Widerstand der europäischen Kabinette gescheitert war.
Es läge auch ein vollkommen richtiger Instinkt einer Versinnbildlichung der Nationen durch überlebensgroße Menschengestalten zugrunde: Marianne, John Bull, Michel, Onkel Sam . . . Von hieraus zieht sich deutlich ein Weg zur Einsicht, daß den Beziehungen zwischen hochstehenden Völkern genau dieselben Grundsätze unterliegen sollten wie zwischen hochstehenden Menschen. Statt sich zu überlisten und brutal zu übervorteilen, suchen sich diese im Gegenteil an Schonung, Großmut und Rücksicht gegenseitig zu überbieten. Der Wetteifer um den Rücksitz hat als Ergebnis, daß man sich darin teilt; statt einander zu berauben, hilft man einander aus. Man gesteht sein Unrecht und wird vernommen, statt verdammt. Wäre somit eine solche Politik nicht auch die praktischere?
Ich hätte mir vorstellen können, fuhr ich fort, daß auf einer solchen Grundlage hin ein Dialog zustande gekommen wäre zwischen Michel und der unversöhnlich von ihm abgewandten Marianne. Ich könnte mir wahrhaftigen Gottes vorstellen, daß er — nach Art der Liebhaber — zu ihren Füßen hingerissen, die elsässische Frage vor ihr zur Sprache brächte; ich könnte mir vorstellen, daß im Laufe dieses Dialogs endlich ein Wendepunkt sich ergäbe, von wo ab beteuert würde, was verneint worden war . . . und in dieser Tonart lange hin und wieder so beharrlich, bis die wunde Frage sich zwischen ihnen isolierte, auf einen höheren Plan gehoben, langsam über ihren Häuptern wie eine Morgengabe schillerte.
Aber den Realpolitikern dünkte die andere Alternative, der wir heute zusehen müssen, die gerissenere. Spätere Europäer werden sich freilich an den Kopf greifen; dann aber wird vermutlich das andere Schlagwort aufkommen vom Antagonismus der weißen und der gelben Rasse; und dann wird sich der Himmel verfinstern von den neuen Schrecknissen; und dann erst werden die Überlebenden nicht mehr bestreiten, daß die europäische Psyche durch Assimilierung der asiatischen die endliche Bereicherung, ja ihre letzte Vollendung erführe.
Nicht allein, daß die grauenvollen Erfahrungen, die geopferten Generationen, die vergeudeten Jahrzehnte, Jahrhunderte notwendig sind, um diese Welt zu Anschauungen zu bekehren, welche sich der einfachen Nachdenklichkeit aufdrängen, sondern all diese Kriege, und die gewesenen sind nur Vorstufen zu einem letzten Kampf, dessen Stunde zugleich mit der Stunde der Vergeltung schlagen wird für jene Elemente, welche von jeher die schlechte Sache in der Welt betrieben oder die gute verdorben haben. Die Leute also, schloß ich meinen Aufsatz, welche auf den ewigen Krieg schwören, mögen zufrieden mit mir sein; denn bevor jene Elemente (und es sind stets überall dieselben) nicht gekennzeichnet und untergeordnet werden, glaube auch ich an keinen dauernden Frieden.
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Um mich von der Anstrengung zu erholen, setzte ich zehn Franken und gewann zwei. Plötzlich taucht der Kriegsgewinnler vor mir auf und fragt, ob er mich nach Hause begleiten dürfe. Es war sehr spät, ja, er dürfe. Er begleitet mich also, ich aber leuchte ihm heim. Und siehe da, in dieser nächtlichen Weile scheinen ihm sehr andere Bilder vorzuschweben als die, mit welchen er noch gestern renommierte. „Es geht uns ja so lausedreckig,“ jammerte er, „warum verfolgt ihr das in den Brunnen gefallene Kind?“ „Also so steht es“, rief ich. Mein fertiger Aufsatz stimmte mich frech. „So steht es, und ihr blufft weiter mit Schwertfrieden und Grenzverbesserungen in Tod und Ruin hinein. Ich sehe schon, was für Argumente ihr schmiedet, falls es schief ausgeht mit eurem Verbrechen!“ Es läßt sich gar nicht sagen, wie weinerlich, wie persönlich gutmütig dieser eingepeitschte Alldeutsche sich herausstellte; wahrscheinlich der beste Gatte und Vater dabei, ein gewissenhafter Arbeitgeber vielleicht.
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Melide. Fortunio hat drei Elsässer getroffen. Im Schein der Windlichter schlage ich ihm die Karten, er dagegen liest mir aus der Hand. Die Edeljüdin hat ein rotes Tuch umgeschlagen, und wir sind vergnügt. Doch oh, die Nachtigall, die wir am Heimweg schlagen hören. Mein Herz hing sich an sie und drang in den Busch zu ihr. Ich hätte mich so gern nicht mehr von der Stelle gerührt.
Der Himmel blieb die ganze Zeit über so blau, daß sich die Wolken in meinem Gemüt angesichts soviel Sonne nicht behaupten konnten. Der erste bedeckte Tag war auch der unserer Abfahrt. Ich nahm den Frühzug mit Paxens und steckte meine Post gerade noch zu mir. Fürs erste galten dann meine Blicke nur dem schwindenden See und den schnell sich verstellenden Bergen.
In Bellinzona trennten wir uns. A. H. Pax wünschte die Mitarbeit der Gräfin Reventlow, und ich sollte sie zu ernsterer Arbeit ermuntern. Es stellte sich aber heraus, daß nur 40 Minuten in Locarno blieben, so depeschierte ich ihr auf gut Glück und fuhr dann durch das breite, lange Tal zum Lago Maggiore. Sie stand am Bahnhof. Wir erkannten einander, ohne uns je gesehen zu haben, und gingen mit einer Art von kalter Vertraulichkeit hinab zum See. Ihr Zynismus kannte keine Grenzen, doch immer alles mit Grazie. Vom Schreiben wollte sie nichts mehr wissen und hatte eine Übersetzung unternommen. Bei jeder Seite freue ich mich, daß ich das nicht selber geschrieben habe, sagte sie. Ich drängte sie zu größerem Fleiß, ohne Anklang zu finden. „Mein Ideal wäre die Leitung eines großen Hotels“, versicherte sie. Ihre Augen waren wunderschön. Ich sprach von ihren Schriften, und daß keine Bücher dieses leichten Kalibers mit ähnlicher Qualität geschrieben worden seien, so blaß, so spöttisch, so geistreich. Aber sie schüttelte den Kopf: es sei zu schwer.
Wir gingen in der Mittagsschwüle den bergigen Weg zur Station zurück. Einige Wochen später sollte sie in Konstanz ihrem Sohn zur Desertion verhelfen. Heute amüsiert sie die Geisterwelt mit ihrem Witz. Schreiben werden wir beide kein zweites Mal.
Ich hatte gerade Zeit, in den Zug zu springen: er bewegte sich schon, wir riefen uns noch einmal auf Wiedersehen zu, bevor wir einander für immer aus den Augen verloren. — Zu lesen hatte ich gar nichts mehr, mit Ausnahme einer französischen Zeitung, die unter meiner Post gewesen war. Sie enthielt auf der zweiten Seite einen Angriff gegen mich: Erbitterte Zeilen mit dem deutlichen Wunsch, mich zu verletzen. Fürwahr, dachte ich, das ist wirklich zu unverdient. Aber der Verfasser täuscht sich: es ist mir egal.
Ich legte die Zeitung weg und sah in die Gegend hinaus. Merkwürdig durchdrang mich da ganz und gar die Weite des Tals. Wie ein prächtiger Festsaal der Natur, gemeint, als sei er auch bei Nacht zu erglänzen. Als fehlten nur die Riesenkandelaber an den gleichmäßigen und feierlichen Wänden der Berge.
Die Lokalbahn hatte Anschluß an den zweiten Zug, der von Lugano kam. Er war schon eingelaufen. Fortunio und der Redakteur der Humanité standen auf dem Perron. Ich reichte ihnen das Blatt, das mir unter Kreuzband zugeschickt worden war, und wollte etwas dazu bemerken, es stellte sich jedoch heraus, daß meine Stimme zwischen Locarno und Bellinzona hängengeblieben war. Hatte die Luft sich abgekühlt? Wie Fanfaren drang das Blau durch die dunstigen Wolken. Dicht vor dem Platz am Fenster, den Fortunio mir gesichert hatte, zogen jetzt die grauen Riesenwände des Gotthard vorüber, durchstrichen von zahllosen Wildbächen, die aus ihren unversiegbaren Gründen senkrecht im hellen Jubel herabschossen. Es war ein Hals über Kopf sich überstürzendes Geglitzer. Ich behielt sie im Auge, diese Flüsse, einen nach dem andern, und zählte sie. Wie eine Rettung war’s, als die table d’hôte ausgerufen wurde und alles in den Speisewagen ging, Fortunio ganz besonders und der Redakteur. Der Wunsch, allein zu bleiben, brannte wie ein Durst. Welchen Auges mag der Hirsch das Laub, das sein Geweih vom Aste schlägt, das Tal, die Tiefe einbegreifen, bevor er sich getroffen weiß? Wir wissen nicht, wie seine Welt da vor ihm aufleuchtet. — Was für ein selbstherrliches Ding ist doch das Herz! Du rufst ihm zu, und es vernimmt kein Wort, als gehörte es sich selber und nicht dir.
Verstrickte und sich selbst widerstreitende Liebesgefühle haben ihre eigentümlichen Reflexbewegungen wie Zerreißungen und Wunden. Ich hatte mich getäuscht: der Angriff in der französischen Zeitung war mir nicht egal. Und wie aber hätte die Erbitterung zwischen den Zeilen mich nicht bewegt? Zwischen den Erbfeinden des Abendlandes stand in Wahrheit reinste und einzigste Erotik am Spiel. Was hier von jeher, was von neuem auf Menschenalter zertreten wurde, war der Keim aller Verjüngung und Erneuerung eines Kontinents, die Blume aller Allianzen. Alle andern sind unfruchtbare Bündnisse dagegen, Geschwisterehen. Sagt mir nicht, daß es anders sei. Ich weiß es besser.
Ach! Grund genug, wenn es jetzt den Augen unaufhaltsam entströmte wie über die grauen Furchen der Gotthardfelsen. Oh! und nichts von bayrischem Gebirg! Was sich da drüben hinter Schleiern spiegelte, das war Paris am lauen Septembertag, der eigenen Erfüllung hingegeben, und einem Himmel, der keine andere Stadt so überhing wie sie. War sie nicht meine eigenste Heimat? War sie nicht die unerreichbarste Geliebte? War sie nicht eine Göttin? Oh mein beraubtes Herz! Jedes Bild, jede Erinnerung an sie zerriß es neu.
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Abends in Bern, wo inzwischen auch der Frühling gekommen, sozusagen ausgebrochen ist, leidenschaftlich abgetrotzt wie etwas, das sich keineswegs von selbst versteht wie im Süden. Ich liebe im Norden nur den Sommer.
4. MAI. Abigail stattete mir eine richtige Sympathievisite ab. Es fehlte nur der Zylinder. Dieser neue Ziegelstein auf mein Dach dünkt ihm entschieden de trop. „Erklären Sie mir nur,“ sage, ich, „liegt denn eine solche Ungerechtigkeit in eurem Interesse?“ „Wir fragen heute nicht nach Gerechtigkeit“, erwidert er. „Wir verlangen alles oder nichts, Sie bieten uns die Hälfte, das ist zu wenig.“
„Sie vergessen, daß ich Deutschland liebe.“
„Es sind Gefühle, die wir zu wenig teilen, als daß sie uns interessieren könnten“, erwiderte er steif.
Wir sprachen dann von anderen Dingen.
6. MAI. Besuch von Frau Karfunkel. Sie fragt mich, ob ich eine Revolutionärin sei, und ich bin im Augenblick zu müde, es zu wissen. Das Wort „gekrönte Republik“ fällt mir ein, das kürzlich vor mir gefallen war. Mochte es herhalten. „Eine gekrönte Republik“, sage ich und gähne.
Daß Frau Karfunkel mich kaum kannte, hinderte sie nicht, mir jetzt eine jener Szenen zu machen, die man wie ein Unwetter über sich ergehen läßt. Die Worte wie krasse Ignoranz gehörten zu den mildesten, die sie mir vorsetzte. Sollte ich ihr sagen, warum? ihr bekennen, in welchen Gedanken sie mich unterbrochen hatte? ihr den Grund jener mangelhaften Kenntnis eingestehen, die sie so richtig erraten hatte?
Welchen Kriegsbericht hatte ich zu Ende gelesen? Von welcher Phase des Krieges mir auch nur einigermaßen ein Bild gemacht? Über die erdrückende Tatsache, daß er herrschte und kein Friede kommen konnte, sah ich nicht hinaus. Für seinen Verlauf, seine Geschichte blieb mein Interesse ungefähr.
Was wollte die Frau bei mir?
Sie hatte mich aus der Arbeit gerissen, und ich war froh um die Unterbrechung gewesen; so mühselig war die Pein, daß ihr Stigma sich den Schläfen aufdrückt, und daß sie einsinken wie zermürbt. Oder gleicht eine geistige Not der immerwährenden Welle vielleicht und die Schläfen dem Stein, der von ihr zernagt und bearbeitet wird? Von den Dingen selbst ist mein Verständnis so karg! Der Kommentar zu ihnen ist meine Sparte: ihn stets von neuem, zergliederter, ausgreifender zu formulieren, ist der Stachel, der mir keine Ruhe läßt, meine Einzelhaft mitten im Leben. Denn über die Vielfältigkeit unserer Wege hin, sehe ich die Einfältigkeit der Gefahr; die ewig selbe Fratze, die jeder edlen Bestrebung wie eine verruchte Karikatur noch immer auf dem Fuße folgte. So schmal, schwankend und immerzu gefährdet zieht unser Weg empor! Aber naiver als ein Soldat, der mitten im Treffen nicht weiß, wo er steht, führte der Mensch bisher seinen Kampf. Auch ihn trafen die Geschosse, ohne daß er sah, aus welchem Hinterhalt sie stammten, und von der unheimlichen Geschäftigkeit, mit welcher in den Niederungen sein Verderben betrieben wurde, merkte er nur das Resultat. Unermüdlich und nahezu ungestört dürfen die Untermenschen, von Herrschsucht besessen, in der Familie, dem Staat, der Gemeinde, der Partei ihre zersetzende Arbeit verrichten. Aus Tausenden von Schlagwörtern sind ihre Netze gewoben, der ganze ungeheure Nationalitätenschwindel hält seit Jahrhunderten den Zusammenschluß der Vollwertigen auf. Notsignale zu geben, bin ich hier. Unvernommen? Gleichviel! Ohnmächtig wie im Traum hinauszurufen: Richtet Wälle auf! Seht euch vor! Achtet der Stufen! Schützt eure Häuser! Mit unschuldiger Miene, ja mit dem Antlitz eines Engels vielleicht, kauert das Unheil an euerm Herd. Oh Brüder, Freunde, nehmt es nicht in eure Arme, wie ihr den Fuß nicht auf die sanft beschneite Stelle setzt, ihr hättet sie zuvor geprüft.
„Ich glaube,“ schreibt René Schickele, „daß der Sozialismus kommen muß mit einer großen, tiefen Flut von Licht, die alle Menschen durchdringt.“
Und ich sehe, wie emsig die Schatten sich sammeln, welche danach dürsten, dies Licht zu verschlingen.
8. MAI. Abigail klopft wieder an meine Türe. Er trägt sein breitestes Lächeln, reicht mir die Münchner Zeitungen und lacht noch stärker. Sie enthalten meinen Protest in der Telramundschen Übertragung, wahrscheinlich von ihm selbst eingesandt.
„Und das sind die Leute, mit welchen Ihr Euch einlaßt“, brach ich aus. „Ihr seid mir schöne Richter!“
Doch Abigail war in einer nicht zu verderbenden Laune. „Einigen wir uns,“ sagte er, „mag er denn Telramund heißen, unter einer Bedingung, verlangen Sie nicht, daß wir Sie Elsa nennen.“
Die „Pressestimmen“ ließ er mir zum Geschenk. Ich las u. a., daß ich „ein hysterisches Weib von abgrundtiefer Gemeinheit sei“.
9. MAI. Beim bayrischen Gesandten; er kannte mich von Kind auf. Er empfing mich. Aber der Verwirrtere, der Trostbedürftigere schien durchaus er. Es war bei ihm wie bei den Hähnen der modernen Waschtische, die gleichzeitig heißes und kaltes Wasser ausströmen: zwei Sprachen wie zwei Denkungsarten entflossen da immer zugleich: seine eigene und die anbefohlene.
„Vous êtes déshonorée!“ jammerte er.
„So schlimm ist es nicht“, redete ich ihm zu. „Kommen Sie, lassen Sie Gras wachsen über die Geschichte.“
„Gras? Da wächst kein Gras. Je vous supplie ne rentrez pas en Allemagne; on vous jettera dans les fers; je ne pourrai rien faire pour vous. Bleiben Sie um Gottes willen da.“
„Ich bleibe schon da.“
„Ja, bleiben Sie da. Was wollen Sie in München? Es ist ja alles verpreußt. Diese entsetzlichen Preußen haben uns ja alle aufgefressen. Ich bin der letzte Bayer.“
„Ich auch.“
„Sie sind gar nichts. Vous êtes une criminelle. Ce n’est pas moi, qui vous condamnerai, je suis votre ami. Vous êtes une criminelle“, unterbrach er sich laut. „Oh, so viel Phantasie zu haben und so wenig Verstand! Sie sind erledigt. Wir sind gefressen.“
Damit entließ er mich.
Daß dem alten Herrn der Krieg so über den Kopf wuchs, machte ihn mir nur sympathisch. Es wäre jedoch hartherzig gewesen, ihn praktisch in Anspruch zu nehmen. Ich hatte es gar nicht versucht.
MITTE MAI. Gerade in diesen Tagen lud mich Frau v. Schreckenburg, ohne mich zu kennen, zu sich ein. Engländerin von Geburt, trug sie dabei den gefürchtetsten deutschen Namen. Ihr Mann, von dem die Franzosen sagten: „Heureusement qu’il n’en a pas l’air“, und die Engländer: „He is worth a better name“, stand an der Spitze der Gefangenenfürsorge. Durch seinen unzeitgemäßen Mangel jeglichen Strebertums fiel er gänzlich aus dem Rahmen. Still, unermüdlich und geschickt verrichtete er sein humanitäres Werk.
Es nahte Felix Mottls Todestag. Ich wollte die Münchner erinnern, daß ich es nicht von ihnen verdiente, unvernommen und mit Knüppeln vor das Stadttor gewiesen zu werden, denn ich habe sie einmal vor einer großen Weltblamage bewahrt. Einige Redakteure waren damals meinetwegen geflogen, und ich hatte gesiegt. Waren solche Reminiszenzen angetan, den Herrn Chefredakteur zu rühren? Er sandte mir meine Eingabe, obwohl durch Schreckenburg übermittelt, mit dem Vermerk zurück, daß er sich für die Beiträge einer Hochverräterin heute wie fernerhin bedanke.
An jenem Abend ging ich lange die beiden Brücken auf und nieder. Die Jungfrau hatte eine Schärpe übergeworfen. Ein kalter Wind trieb von den Gletschern herüber. Ich ging und ging. Es war wieder bei Fortunio viel von einem Zusammenschluß der Geistigen gesprochen worden, und wieder ließ keiner das Ausschließen seine Sorge sein. Was aber ging aus dem ungeheuren Trugwerk dieses Krieges hervor, wenn nicht der vollendete und riesenhafte Triumph des Sklaven über den Freien, wenn nicht die immer drohendere Forderung, uns selbst jenes letzte Gericht erstehen zu lassen, von dem geschrieben steht, daß es auf immer die Scheidung zwischen den Menschen, die guten Willens sind und den anderen bestimmen soll? Ja, nicht die große Einigung, den großen Bruch gilt es zuerst zustande zu bringen: die herrische und heilige Offensive der menschenwürdigen Menschen, gegen jene „Untermenschen“, welche Villiers de l’lle Adam als erster mit so großem Nachdruck kennzeichnete. Erst gilt es, jenen allzulange geduldeten Elementen das Stimmrecht zu entreißen. Sahen wir nicht alle großen und bahnbrechenden Ideen in Verwirrung ausarten, das Christentum selbst unter die Räder geraten und eine Sache um so sicherer verderben, je edler sie war, weil Unzulänglichkeit und Niedertracht das große Wort zu führen in der Lage sind; Solange diese Gattung ihre Gleichberechtigung behält, hat die Menschheit nichts zu hoffen. Sie wird wie ein Kranker sein, der sein Übel zu betäuben sucht, indem er sich auf seinem Schmerzenslager dreht und wendet, oder hochaufgerichtet nach Atem ringt, um doch nur eine illusorische Erleichterung zu finden. Sie wird alle Regierungsformen, eine nach der andern, erproben, und ob sie auch ihre Könige gegen Republiken eintauscht — es werden doch nur falsche Republiken sein, und auch die Anarchie wird sich als nichts anderes herausstellen als einen Mißbrauch der Macht.
Und wie könnte die einzig wirkliche Freiheit entstehen, wenn nicht durch die Knechtung desjenigen Pöbels, der allerorts alle Klassen, von den höchsten bis zu den sogenannten niedrigsten verheert. Hierarchien aber sind es ja gerade — weniger rudimentär und kindisch nur als diejenigen, welche man sich aufoktroyieren ließ — Hierarchien aber sind es, die auf neuer und gerechtfertigter Basis zu errichten sind: geben wir uns keinen Täuschungen hin: die Klasse der Könige, der Fürsten und Herren, ja der ganze Troß der kleinen Gentry sogar, er ist vorhanden (nur so anders!), und alle wahren Adelsbriefe, die sich in unendlichen Fluktuationen aus der menschlichen Würde ergeben, existieren auch. In allen Kreisen aber und durch alle Zeiten hindurch wurde die wahre Elite gepeinigt, geopfert oder zur Ohnmacht verdammt, weil urteilslose oder niedriggesinnte Elemente, die sich weder in Gleichheit, noch in Brüderlichkeit zu ihr verhalten, dasselbe Stimmrecht genießen.
Man rede mir also nicht von Zusammenschlüssen, sondern vorerst von neuen Gesetzbüchern und neuen Statuten. Auf einen treibenden Sumpf, einer Welt wie sie ist, Ringmauern aufzurichten, daran glaube ich nicht. Wozu führte der vielgehegte voto pietoso Deutschland und Frankreich zu einigen? Statt der stolzesten aller Galleonen ein Wrack, beiden nahezu unnennbar geworden. Dieses Wrack ist mein eigenster Boden, ich verlasse ihn nicht. Die paar Einsichten aber, die mich sehr bestimmte Erfahrungen lehrten mit der Persistenz des Marktschreiers zu verkünden, ist mein Beruf.
Ich lehnte über der Brücke von Kirchenfeld. Hat die Nacht ihre eigene Helle, daß sie uns die Dinge mit größerer Schärfe zeigt? Sie deckte jetzt den Fluß, der unten den Bergen zurauschte. Von den Häusern in der Tiefe, so eng geschart, fast ein Gerümpel, auf zartesten Säulenarkaden gehoben, und wie edel! leuchteten jetzt munter die tagsüber so verschlossenen Fenster. Wie wenig löste schließlich und endlich unsere zufällige Existenz von unserem wirklichen Wesen aus! Vielleicht war sie nur eine Jahreszeit unseres weitverästeten Seins. Wozu sich alterieren, redete ich mir zu, wozu die Hast, wozu die Ungeduld? — Es wurde zuletzt ein Spazieren mit der Nacht, statt in die Nacht hinein, und ich war um eine größere Fassung, etwas mehr Gleichgültigkeit für meine persönlichen Geschicke aus allen Kräften bemüht.
Sie sah bezaubernd aus; ihre Achseln schienen der Ansatz zu Flügeln, und da sie sozusagen zwischen zwei Fingern hochzuheben war, nannten wir sie mit Fortunio das Zirkuspferdchen oder der Seidenaff. Wenn sie ernst zu sein wünschte, waren wir grausam genug, sie auszulachen, doch nicht, um sie zu verspotten, sondern weil ihr alles so gut stand. Ihr Gatte war San Cividale, der Longobarde, wir hatten uns angefreundet, und es wurde ein richtiger Anschluß.
Von den Ärzten ins Bad geschickt, depeschierte mir der Seidenaff aus Rheinfelden, und nie kam eine Einladung gerufener. Ich suchte einen Mieter für meine Zimmer und hatte ihn schnell. Bern war mir verleidet, ich hatte dort vieles zu vergessen, Geldsorgen besaß ich auch. Nur die Mozartaufführungen, welche unter Richard Straußens Leitung bevorstanden, wartete ich noch ab. Sein schöpferisches Erschöpfen eines Werkes ist sicherlich ein neues und interessantes Moment in der Kunst des Dirigierens. Einem Don Juan, der ein großer Erfolg war, folgte jedoch eine Zauberflöte, welche einige Kritik hervorrief; mich entzückte letztere weit mehr, so zwar, daß sie einem ersten Eindruck gleichkam. Strauß hatte eine Pamina mitgebracht, welche gesanglich und darstellerisch und durch eine merkwürdig schöne Erscheinung der Partie so wohl entsprach, daß Symbolik wie Illusion des Fabelreiches durchweg bestanden, bis der Vorhang vor dieser besseren und geordneteren Welt endgültig fiel. Was bedeuteten Regiestörungen (tags darauf hieß es, sie sei einem Engländer zu danken, der sich zu diesem Zweck als Maschinist für den Abend verdingte) vor dem unvergleichlich hohen Niveau dieser Vorstellung?
Am lautesten wurde am Schluß von jener Sorte Deutscher Beifall gespendet, welche ihren schimpflichen Spitznamen so recht aus dem vollen verdienten. Diese wandelnden Erreger des Deutschenhasses gingen mit dem deutlichen Gepräge von Leuten einher, welche zwar rechneten und berechneten, aber nicht mehr dachten, dafür seit einer Generation zuviel gegessen hatten. Sie waren die Regisseure und Leugner des großen Kindersterbens, das jetzt in ihrem Lande hinter den Kulissen um sich griff, und Scharen Deutscher, würdig dieses Namens und liebenswert, gingen um jener Boches willen zugrunde. Doppelt verrucht erschienen sie im Lichte der eben erfolgten herrlichen Darbietung. Ich ersticke! sagte ich zu Fortunio, denn ein Knäuel dieser wohlbestallten Patrioten schlenkerte vor uns über den Platz. Auch im Dunkeln sah man ihnen an, daß sie jetzt schmausen gingen.
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21. JUNI. Mußte da dicht vor meinem Fenster hochgewölbt der Rhein vorüberrauschen? Eine Brücke mit Schilderhäuschen in der Mitte legt schon im Badischen an; freudlos, wie mit erblindeten Scheiben, sehen von dort die Häuser herüber.
Heiterer war der Park. Wir lagen in Korbstühlen und schwatzten. Doch Erinnerungen kamen nicht zur Ruhe. Aufgescheuchten Vögeln gleich schwirrten sie hierher und dorthin und kehrten zurück . . . Der Sommer war im Land. Das Schlößchen der schönen Marguerite, das selbst mitten im Kriege Zauberkreise zog, wartete unser, und die Schwalben nisteten längst im flachen Strohhut, der in der Halle von der Decke hing. Jetzt standen auch ihre Koffer gepackt; . . . es türmten sich wohlgefaltet ihre schönen Kleider . . . Die Unrast der Verbannten trieb mich aus dem Park ins Städtchen hinunter, wo von der viereckigen Plattform des Turmes aus die Störche ins Blaue steuerten. Was gab es schöneres wie ihren Flug? Klein erschien mir die Schweiz. Wie ein herrlicher, aber für mich nach allen Seiten hin verbarrikadierter Garten. Ich ging den Weg zurück, der ganz umwachsen unter Bäumen führt. Wer nicht wollte, brauchte weder Fluß noch Land zu sehen. Im Hotel aber lag eine Depesche für mich. Ich floh entsetzt auf mein Zimmer. Die Freundin war tot. Mochte das Schlößchen am Berg Tür und Tor sperrangelweit offen halten und warten, solange es stand, ins Leere starrte fortan sein breitschrötiges Türmchen. Sie zog die Straße nie mehr herauf, kutschierte nie mehr aufmerksamen Auges ihr Wägelchen in den Wald. Fort von Rheinfelden, dachte ich, nur fort!
Es traf sich, daß die Kur nahezu beendet war. Wir fuhren nach Wengen. Der Seidenaff durfte nicht steigen, ich kletterte drauflos. Hier waren alle Höhen zur Hand. Hinter der kleinen Scheidegg setzten sie von neuem ein. In weiten Senkungen kreiste ein Tal. Ich saß in einer Nische aus Fels und Gras, die Füße hingen ins Leere.
Plötzlich, wie auf einen geheimnisvollen Anruf, ein lauter Stoß, ein Gegenruf des Herzens. Denn es hat ja Arme, ich sagte es schon, und Flügel, schwerausgebreitete und leichte, es hat sein geheimnisvolles Dasein für sich allein. Vom Tode weiß es so wenig wie wir, nur dies hat es erkundet: daß, wenn er uns nicht austilgt, der Lebende dem Toten zu Anfang mehr sein kann, als dieser ihm. Dann wäre unser Eingedenken der Halt vielleicht, an dem er seine ersten Schritte geht, und unsere Trauer sein Gewand.
Es war für die Verstorbene ein Gedenkbuch geplant, und ich hatte versprochen, mich daran zu beteiligen.
Mag es noch so mannigfache Welten geben, sicherlich gebietet über alle eine einzige Natur, ein allmähliches Sprießen, eine Reife, von trüben Himmeln die sie aufzuhalten scheinen nur gezeitigt. Vor allen Dingen aber jenes letzte und sehr tragische Zurückbleiben des Erreichten hinter dem Gewollten. Wie ein letzter Same, der sich wieder in die Erde senkt, um einer nächsten Ernte zu gedeihen.
Ich schrieb auf meinem hohen Sitz angesichts des kelchartigen Tales mit den sanftanschwellenden Rändern. Die Sonne war gestiegen. Wie ein zieres Band umschlang ein Pfad den ganzen Berg und lockte mich unwiderstehlich in die Höhe. So kam ich zu einem kleinen Gasthaus und stapfte dann auf die Spitze des „Männlichen“ hinauf. Dort fing sich der Wind und wehte kreuz und quer; dann aber stürzte ein Steig, schmal wie ein Strich, so pfeilartig hinab, daß man, von einem Taumel erfaßt, zu rennen anfing und zu fliegen verlangte. Von dem Tempo erfaßt, das von hier oben gesehen, die Jungfrau entfaltete, die mit mächtiger Schulter die ganze Kette der Alpen mit sich riß. Unglaublich schnell griffen jetzt die Schatten in dem verströmenden Gold dieses Tages um sich; schon profilierte sich diese oder jene Bergeskante zu einem grotesken, dort zu einem erhabenen Riesenhaupt, schlafend, offenen Mundes zurückgeworfen, oder wie entseelt mit beschneiten, eingesunkenen Schläfen zur Seite gekehrt, die Luft darüber wie ein unendliches Gewölbe.
Auch manche Felsenburg tat jetzt entbrannte Zacken auf; kurz, eine andere Welt als die des Tages stand schon gerüstet. Plötzlich hielten mich zwischen zwei scharf vorspringenden Felsen zahllose Schafe auf, die mächtig wie ein Volk auf halber Höhe den Berg belagerten. Mit ihnen zog eine Anzahl Widder, die innehielten, als sie mich kommen sahen, und mich aufmerksam, wenn auch stolz, betrachteten. Nirgends ein Hirt zu sehen, als wären sie die Führer. Ihre geschneckten Hörner abwartend mir zugekehrt, versperrten sie den Weg. Um weiterzukommen, mußte ich halb quer hindurch, halb mit der Herde laufen. Eine überwältigende Ruhe, ja ein Glück ging von ihr aus, daß man, am liebsten auf vieren gestellt, eins mit ihr geworden wäre.
Der Weg nahm gar kein Ende. Meine Schuhe gingen in Stücke. Meine Füße waren zerschunden. Schwer hinkend erreichte ich endlich das schon a giorno beleuchtete Wengen. Aus der Halle des Hotels trat der Seidenaff im Tuchbrokat von silberigem Weiß, hoch mit Zobel verbrämt. Doch der Jugend kommt alles zugute; kostbare Gewänder unterstreichen sie nur. Die leichte Gestalt wird durch den schweren Staat gehoben, nicht gedrückt. Lang und gewichtig hing die Perlenschnur herab. Das Haar war braun. Gerade seinem weichen Schimmer schmeichelte die Härte des diamantenen Reifs. In Treibhäusern wird heute die gefüllte, immer gefülltere Nelke gezogen. Mit solchen gefüllten Nelkenaugen, gut und klug, doch fern dem Ziele, blickte der Seidenaff.
Tags darauf fuhren wir zu Tale, San Cividale, dem Longobarden entgegen. Fortunios schrieben aus Beatenberg, wo ich mich denn herumtriebe, und fürs erste blieb ich jetzt in Interlaken, um meinen Nachruf zu beenden. Da mir keine Seele des Ortes bekannt war, verbrachte ich meine Tage ohne zu sprechen, und schon lebte ich eingesponnen und wie unter Glas, als die Lektüre eines Zeitungsartikels mich ganz aus der Stimmung riß. Es war ein Aufruf von Andreas Latzko, der wesentlich aus Vorwürfen, und zwar sehr berechtigten Vorwürfen an die Frauen bestand. Nun haben diese ja im Kriege versagt und die härtesten Dinge zu hören verdient, doch nur ihnen selbst kann es zustehen, sie zu äußern, dem Manne heute mit keinem Wort. Ihre Unzulänglichkeiten sind sein Werk, von ihm gezüchtet und beabsichtigt, selbst sein Überdruß an ihr war als Triumphgasse für seine Eitelkeit gedacht, was er vollends ihre Ungleichheit nannte, war seine Politik. Wie stark seine Krone zerzaust ist, ahnen beide noch nicht. Die „Penalty of the war“, von der soviel die Rede ist, wird noch eine ganz andere sein, als man im allgemeinen glaubt. Die Frau wird ihre Chance haben. Mag der Mann noch auf Jahrhunderte das Überragende leisten, ihr Aufstieg wird sich unaufhaltsam als eine Folgeerscheinung seines Bankrotts vollziehen. Bilder schwebten mir vor . . . . war sie nicht schon im Begriff, mit jedem Jahrgang schöner, individueller zu werden? Erhob sich ihre Gestalt nicht freier, knabenhafter, mehr auf sich selbst gestellt, von Jahr zu Jahr?
Schlimmstenfalls konnte ihr Regime zu keinem ärgeren Chaos führen, als das, welches wir unter der ausschließlichen Führerschaft der Männer und ihrer Gesetzbücher erleben. Oh diese Gesetzbücher! Sie forderten, daß man vom Tag eines Krieges an nurmehr mit seinem Vater verwandt sei.
In meiner Aufregung, meiner Bedrücktheit, lief ich in der Mittagshitze den Brienzer See entlang, bis zur Erschöpfung. Und mit einem Male wurde mir das Karthäuserschweigen viel zu viel; da zudem schwere Regentage einsetzten, brach ich auf und fuhr nach Beatenberg.
AUGUST. Ich wohnte eine halbe Stunde von Fortunios entfernt, und mein Hotel stand zu Anfang der breiten Straße, die über tausend Meter hoch ganz eben dahinläuft, den großen Rat der Gletscher stets im Angesicht. Wie zu einer Riesenpolonäse aufgestellt, schienen sie, je nach der Beleuchtung, zurückzutreten oder loszuschreiten bereit. Nur der Regen sprengte den Bund. Dann verschwand jeder einzeln in seinem Zelt und wußte nichts mehr vom andern. Wusch sich aber nachts der Himmel wieder rein, so hielt beim Morgengrauen die Jungfrau entgeistert Cercle, als harre sie nur des Zauberrufes, um der Sonne bei ihrem ersten Strahl ekstatisch entgegenzutanzen. Leider kam auch hier die Arbeit nicht in Fluß; das sehr geräuschvolle Haus bot keine Möglichkeit, sich abzusondern. Unmittelbar daran grenzte der Wald und führte sogleich sehr steil ins Weglose hinab. Und hier nun entdeckte ich eines Morgens, ganz hinter Tannen versteckt und der Tiefe zugewandt, ein kleines, verlassenes Blockhaus. Ich rannte ins Hotel zurück, forschte nach dem Schlüssel und erlangte ihn. So gehörte das Chalet mir, da ich es beziehen durfte. Den Schlüssel ans Herz gedrückt, eilte ich zurück. Im Raum des Erdgeschosses verbrachte ich nun meine Tage. Die Läden blieben herabgelassen. Nur durch die Türe, die ins Freie führte, drang das Licht; auch die Bäume hielten es auf. Nur Tannen, Wald und Moos und keine Aussicht außer sie. Hier hatte man vor den ewigen Gletschern Ruh. Und keinen Laut als den der Vögel.
Oh Sommersmitte! Oh göttlicher Augenblick des Innehaltens, du ohne Zeitmaß, ohne Intervall, mitten ins Jahr gesetzter Orgelpunkt!
Groß aber blieb die Not der unterbrochenen Arbeit.
Zwischen Tür und Fenster lief eine Ruhebank mit daraufgeschütteten Kissen die Bretterwand entlang. Ich warf mich hin; ächzend. Es roch nach Tannen, Blumen, des Morgens im Walde gepflückt, hingen schon ermattet im Glase. In diese holde Schwüle tanzte ein geflammter Schmetterling herein. Mein rechter Arm hing herab, ich war zu lässig, ihn zu heben. Vor Wonne fielen mir die Augen zu. Hält die Einsamkeit der Gemeinschaft Letztes, die wir Lebende ersehen? Was war geschehen? Verloren blickte ich auf. Der Falter? War er als Bote hereingeflogen? — Wer war gegangen? —
Flüchtig ist kein Wort. Und doch . . Von welcher Gegenwart und welch durchdringendem Ton vibrierte nunmehr auf immer die Luft dieser Hütte? War sie, deren Bild ich festzuhalten suchte, ein Elf? Denn der Griff einer Hand von elfenhafter Feinheit hatte deutlich die meinige erfaßt. In unbeschreiblicher Rührung hob ich den Arm, sprang auf, saß wieder vor dem Tisch, das Gesicht in den Händen vergraben, und fuhr nun endlich wie in einen Schacht tief in meine Arbeit ein.
Da fiel ein Schatten — jemand trat unter die Türe. Es war Fortunio. Ich stieß einen Schrei aus, als sei er ein Gespenst, und fühlte Nervenstränge, deren Vorhandensein mir jetzt erst zum Bewußtsein kamen, zerreißen. „Wissen Sie, wie spät es ist?“ lachte er. Seltsam. Sogar seine Stimme erfüllte den Raum mit Schrecken. Das Ganze war zu arg, es zu erörtern. So machte ich mich denn bereit, das Chalet zu verlassen, warf aber, die Türe abschließend, noch einen Blick zur Ruhebank zurück, zum Tisch mit den Blumen im Glase, zu diesen Wänden, in welchen ich eins geworden war mit der Luft und der Seele dieses Tages.
Was war noch immer kurzatmiger als wie mein Flug? Nicht von Schwingen durfte da die Rede sein, die ausgebreitet und aus eigener Kraft die Höhen beherrschen und sie behalten. Eher einer Rakete vergleichbar, die, wenn das Glück es will, emporschnellt und höher! höher! ruft, weil sie doch gleich verstiebt. Da ist es Pech natürlich, wenn man sie herunterholt.
Wir gingen nun zum Hotel hinauf und setzten uns auf die Veranda. In der Tat, der Abend war sehr vorgeschritten. Beschaulich hing Fortunio an der Gegend. Die eben noch umglühten Gletscher traten jetzt, als sei die Sonne auf immer von ihnen geschieden, von Blässe wie erschöpft, zurück. Welch ein Tag! — Und schon faßte mich Grauen bei dem Gedanken, ihn einsam beschließen zu müssen oder ins Chalet zurückzugehen. Stand es noch? War’s nicht versunken? Oder nur erträumt? So zog ich denn mit Fortunio die lange Bergstraße zurück. Endlos dehnte sich hier der Ort. Ganze Strecken zeigte sich kein Haus. Und siehe, schon herrschte der Mond. In seiner ganzen Fülle und unerschöpflich überfließend, umschlang er streitsüchtig jeden Schatten und brachte seine Schwärze ans Licht, kroch unter jeden Baum, durchquillte alle Wälder und stieg und stieg in immer geharnischterem Glanz, bis eine trunkene Erde, von ihm umsponnen und ganz mit ihm vermählt, mit allen Pulsen zum Himmel schlug. Voll Entzücken hatte sich die Jungfrau aufgerichtet — Mönch und Eiger an der Hand, loszutanzen bereit.
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Tags darauf fuhren San Cividale, der Longobarde und der Seidenaff die steile Höhe herauf. Von weitem schwang sie als Erkennungszeichen ihren Schirm rundum. Jungfer und Kofferbestände hatte sie unten gelassen und trug eine äußerst gerissene Sportjacke, in der ihre Figur zu zergehen schien, und eine zwischen mausgrau und mauve spielende Hemdbluse aus japanischer Seide, deren perfide kleine Männerkrawatte das ultrafeminine ihres Gesichtes zu letzter Wirkung erhob. Die gefüllten Nelkenaugen, die das alles sehr wohl wußten, blickten unbeteiligt flüchtig und beschattet. Es war nur ein kurzer Besuch. Das Bähnchen trug sie bald wieder davon. Und mit einem Male waren mir diese ewig hingerissenen Gletscher, die nie marschierten, verleidet. Herrlich in der Tat war auch der Mantel der Vorberge, der in so tiefen Falten über sie hinschlug, und herrlich war’s, wie er — von oben gesehen — den See nachschleifte, gleich einem köstlichen Saum. Beseelter aber blickte dennoch das Gebirge am Säntis, Jura oder Engadin, als in dem gewaltigen und dekorativen, aber fast überall stark abgekehrten Oberland. Ich sehnte mich nach mehr brüderlichen Weiten, und sehr plötzlich, ohne das Chalet wieder betreten zu haben, fuhr ich hinab. In Spiez schrieb ich meinen Nachruf ins reine.
An den Kreis ihrer engsten Freunde wende ich mich, sie, die zu ihr standen wie die Strahlen der Sternblume, deren Name sie trug; denn so hingen sie ihr an, und so faßt sie nunmehr die gemeinsame Klage zusammen. Wie beneidenswert sind sie gewesen! —
Nicht, als seien sie sich dessen zu spät bewußt. Hier trifft sie kein Vorwurf. Vielmehr hegten sie ihr Wissen um das Werden dieser bedeutsamen und seltenen Gestalt, die von ihrem schönen und guten Wesen so viel weniger genießen durfte, als der gleichsam von ihr ausgestrahlte Kreis, dem sie es zuwandte. Denn wieviel Sonne war in ihr verwoben, und wie beschattet ging sie doch! Unter der rhythmischen und unzerstörbaren Ruhe ihrer Bewegungen welch unaufhaltsames Vorwärtsschreiten! Wer hat sie je hastig gesehen? Und doch welch ahnungsvolle Eile, sich zu erfüllen!
Geistigen Dingen zugewandte Menschen finden sich gewiß nicht selten; der Maler und Musiker, auch der Liebhaber der Künste sind viele. Aber wie wenige gibt es, die auf das Schöne selbst Anziehungskraft besitzen, so daß es wie auf mystischen Ruderschlägen ihrer Atmosphäre zugeführt, immer mehr Natur und Element bei ihnen wird, und tatsächlich eine Art von Wechselwirkung sich ergibt.
So aber war das Schöne — wie ein Meister an seinem Marmor — bei ihr am Werk. So umhing es ihre Erscheinung, so meißelte es an ihren Zügen und hob sie zu letzter Vollkommenheit der Linien und des Ausdrucks. Unsere Herzen sind wund von der Erinnerung ihrer Hände, so schwebend, einsam und gesammelt, verklungen, auch sie mit der weiten Melodie ihres Seins.
Den wahren Hintergrund zu ihrem Bilde aber stellt einzig jene offene und merkwürdige Gegend, in der sie sich so heimisch fühlte, weil sie ihr glich. Dort, wo ihr kleiner Landsitz hart an der dunkeln Bergwand lehnte, von Mauern lang umfriedet, vor dem Tor die hohe Linde schon den Bergfluß überhing, und sein Gestein, und schon wie vor den Almen leere Bergwiesen ansteigen, auf welchen die Kühe bis hin zu den nahen Wäldern weiden; und diese sind wenig begangen, schwer verträumt und düster fast, weil hier sogleich das Hochgebirge seinen feierlichen Zug beginnt.
Doch öffnete man das Tor zum Hause, ach! Wie rauschte es da von den kunstvollen Brunnen und den Fontänen, in welcher Fülle zogen sich die Blumenreihen hochaufgerichtet durch den Garten hin! Und die Ebene ist’s, nach welcher dieser steile Garten niederfällt, und schaut: auf halber Höhe, wie zur Freude hingemalt, der Kirchturm von Murnau, links die ersten Berge, ansehnlich, aber noch vereinzelt, sanft umrissene Präludien des Gebirges. Nach Osten aber, wo sich anstatt der Mauer die lange Wandelbahn und hölzerne Gartenzimmer nachsommerlich hindehnen, wölbt sich als Abschluß der finstere Berg.
Hier waltete sie im lichten Kleide inmitten ihrer Blumen, wenn in der Ferne ein goldener Sonnenstaub den Tag begrub, oder sie sah wartend nach dem Mond, der so plötzlich hinter dem schwarzen Grat aufging und dann sogleich alle Grotten und Beete übergoß, und nur die finstere Bergwand noch finsterer beließ. Und auf erhöhtem Stande der Apfelbaum, wie sie ihn zeichnete, mit den Windlaternen bunt über dem Tische wehend!
Hier fühlte sie sich heimisch, hier drang das Lachen ihrer Kinder immer bis zu ihr, und die Schwalben zogen durch die Fenster unermüdlich ein und aus. Und drinnen der Tisch vor den breiten Scheiben, ach Freunde: vor dem sie saß — niemals müßig —, lesend oder malend, oder eine jener kunstvollen Arbeiten zur Hand, mit welchen dieses Haus geschmückt ist, dessen Bau, dessen edle Räume wie für sie erdacht, durch ihre eigene Anmut etwas so Zauberhaftes wurden, daß sie durch ihren Tod für uns verschüttet liegen. Die Türen, ach, durch die sie trat.
Doch jenseits der Vorberge, in einer versteinerten Welt, ganz klein und auf unwahrscheinlicher Höhe steht die Jagdhütte, an deren winzigen Fenstern sie die rot- und weißgewürfelten Gardinchen hing; sie liebte das Frohe. Ganz dem Schauen hingegeben, lief sie dort die Kanten der Berge entlang, denn das einzig Verweilende an ihr, von allem Persönlichen unmittelbar Losgelöste war ihr Auge. Bald lockten sie die Höhen, bald die Weite und das Moor, oder sie stellte dort ihren Malstuhl auf, wo der kleine, von der Abendsonne warm getönte Fluß so rasch den gemiedenen und immer trauernden Hügel umfließt.
Diese reichhaltige Landschaft, die sich wie ein Fächer dem Auge entfaltet und verschließt, glich ihr so ganz, daß für uns, die sie dort sahen, ihr Bild wie eingetragen bleibt in diese Gegend.
Nicht auf Festen schwebt es uns vor, deren Glanz das sanfte Feuer ihrer Schönheit so sehr erhöhte, und nicht in großen Städten, weder in Paris, dessen geistiges und künstlerisches Leben ihr so nahe ging, noch in London, wo sie gefeiert und bewundert wurde. Denn in ihr hatte Deutschland eine so liebenswürdige und seltene Vertreterin gefunden, daß die Sympathien, welche sie sich erwarb, durch die Ereignisse nur verstummten, aber nicht verloren gingen. Denn weit über die Gräben hin, welche die Nationen voneinander trennten, klang ein Echo der Trauer über die Kunde ihres Todes herüber.
Es mag ja sein, daß ihre großen Erfolge im Ausland ihr um so neidloser zugestanden wurden, als man sah, welch flüchtigen Gast sie krönten. Denn ehe man sich’s versah, lagen ihre viel bewunderten Kleider in Kisten wohlverpackt, und sie selbst stand am Perron, Sehnsucht im Auge, um nach ihrem geliebten Ohlstadt zurückzufahren. Sie erzählte noch im letzten Sommer ihres Lebens, sie habe mit Freudentränen um sich her geschaut, als sie den „Raunerhof“ zum ersten Male und zugleich als ihr Eigentum besichtigte.
So nah berührte sie der Ort.
Es waren pantheistische Anklänge in ihr, die man nicht überhören durfte, um sie zu kennen.
Denn so edler Natur war die zu weite Spannung ihres Wesens, die eine Lücke ließ zwischen dem Leben und ihr. Ein suchendes, verlorenes Etwas fand hier seine Brandung, und was Wunder, daß sich ihr Blick, allen Sicherungen zum Trotz, so häufig aus dem Alltag, wie aus einem zu engen Hause stahl.
Und kannte ihn doch kaum.
Seine immer neu sich bereitende Unsicherheit, böse und gefährlich wie die Gärungen der Gletscher, seine Verweigerungen, seine Öde erfuhr sie nicht. Ja, sie blieb von einer zu deutlichen Kenntnis dieser Welt bewahrt; ob sie es merkte oder nicht, ihr Kontakt mit ihr war immer umgeschaltet, ja sie war geschützt. Aber wir wissen heute, warum die so innig Umringte dennoch einsam und beschattet ging, als sei alles vergebens; was dies heimliche, innere Versagen und ihre unrobuste Art bedeutete. Denn wir wissen nicht, was sich in denjenigen bereitet, die inmitten ihrer Jugend von den Höhen des Lebens weg, einzeln und jäh zu den Toren des Todes hintreten und in seine Verlassenheit gehen. Keine letzte Verklärung, kein noch so sanftes Verlöschen nimmt einem solchen Los etwas von seiner Schwere.
Ach die besten Freundesherzen sind noch zu träge! Allzu leichten Sinnes nahmen wir das schöne Geschenk ihrer Gegenwart hin und bedachten die deutlichen Merkmale eines frühen Scheidens an ihr nicht. —
Wer hat nicht jene Flugzeuge gesehen, die als dünner Korb, nur durch Taue einem Riesenball verbunden, ganz ohne Geknatter vorüberschweben? Ein Windhauch streift die von ihm Getragenen. Je höher sie sich steigen sehen, desto langsamer dünkt ihnen sein Flug. Da zieht vielleicht eine Wolke vorüber, von einer schwarzen Kugel pfeilschnell durchzuckt und alsbald überflogen, die nichts anderes war, als der Schatten des Balles, der unbewegt und still wie eine Ampel in der Luft zu hängen schien.
Dies aber war bei stillem und oft schwer verträumtem Wesen das Tempo ihres inneren Werdens; mit so verzehrender Eile durchmaß sie ihre Bahn, und nur wer ganz zuletzt in ihrem Umkreis lebte, vermöchte auch das Letzte über sie zu sagen. Denn immer merkwürdiger und geschlossener wurde die Harmonie dieser, vom Dianenhaften so getragenen Gestalt. Nur tragischen Naturen aber ist es gegeben, sich zu erfüllen. Die Norm ringt sich vom Fragmentarischen nicht los.
Oh Marguerite! Daß meine Worte sich aufrichten dürften wie Säulen, und daß sie sich zusammenschlössen dir eine Stätte zu bilden des Innehaltens und der Rast, wo du — staunend vielleicht, doch ohne Gram — zurückblicktest auf dein Leben; oh daß es zwischen seinen Ufern an dir vorüberzöge und dein sinnendes Auge so darauf verweilte, wie einst in deinem Garten auf das Getürme der Wolken im verglühenden Tag.
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SEPTEMBER. Meine Zimmer waren zum Glück bis in den Oktober hinein vermietet, und ich trieb mich bald hier, bald dort herum, bald in Zürich, bald in Luzern, in Montreux oder Genf, nur nicht in Bern.
Die Ära Kühlmann war ein Grund mehr, es zu meiden. Man erinnerte sich prompt, daß ich in London in seinem Hause verkehrt hatte, und meine Stellung gestaltete sich noch um ein Stückchen schiefer. Ich hatte jetzt zu schreiben wie ein Minister, und es regnete Briefe. Sie betrafen zumeist Todesurteile, Deportationen, versprengte französische oder belgische Kinder. Dabei hielten jetzt die Zensuren meine Korrespondenz scharf im Auge; die harmloseste Post aus Deutschland erreichte mich erst in vier, Expreßbriefe erst in sechs Wochen. Um an Kühlmann zu schreiben, mußte ich schon seinetwegen den Umweg über die Gesandtschaft wählen. Meist wandte ich mich an Schreckenburg oder an den Grafen Carry. Zu Anfang ging’s. Zwei junge Belgierinnen hatten ihren eigenen Landsleuten Warnungen zukommen lassen; dafür sollte die eine erschossen werden. Kühlmann erreichte ziemlich rasch eine Rückgängigmachung des Urteils. Auch eine kranke Dame aus Cambrai brachte er noch über die Grenze. Als ich aber wegen der Familie des Professors von L.-P. bestürmt wurde, die Frau und fünf Kinder, (der älteste Sohn im deportationsfähigen Alter[1]), in die Schweiz zu retten, schickte mir Kühlmann ohne Kommentar den Zettel, auf welchem die hohe Militärbehörde eine Bewilligung seines Gesuches kurz und bündig verweigerte. Auch ohne dies — acht Tage nach seiner Ernennung — wußte ich ihn verloren.
Ich muß hier bis in den Londoner Sommer 1913 zurückgreifen, und zwar bis zu dem Abend meiner Abreise nach Irland. Kühlmann war damals jener Pläne stolz und froh, welche ein Jahr später in der von ihm inspirierten Broschüre „Weltpolitik ohne Krieg“ ihren Ausdruck fanden. Ich erinnere mich jenes Besuches noch sehr genau; die Teemaschine sang, wir besahen einige Bilder, und dann fuhr mein Zug, der um Mitternacht die Küste erreichte. Alle Kabinen des Schiffes jedoch waren besetzt, und ich hatte vergessen, eine zu reservieren. So blieb nur der große Schiffsalon, wo ein freundlicher Steward mir in den tiefen Ecken des die Wände entlanglaufenden Sofas ein herrliches Lager bereitete. Der Länge nach ausgestreckt, hatte ich auf diese Weise eine Riesenkabine für mich allein und konnte mich vor Freude gar nicht beruhigen. In meine lange Lederschaukel tief hineingebettet wie in eine Muschel, hoch hinauf und hinunter schwingend mit dem nächtlichen, heftig bewegten irischen Meer als Wiege. Wie sang, wie rauschte es mich zur Ruh! Wie segnete ich den Steward und meine eigene Vergeßlichkeit. Hin und wieder waren mir die Götter doch hold.
Doch weh, ach wie schlug ihre Gunst in die grausamste Ungnade um! Oh des zerrissenen Schiffes, das schon aufgehört hatte zu sein! In ein Rettungsboot gestoßen, auf eine Planke geworfen und nichts anderes als den Tod von den eben so gepriesenen Wellen zu gewärtigen, wühlten sie sich zu Felsen auf, hart und unbarmherzig mich zu begraben. Vor mir ruderte Kühlmann wie besinnungslos, und seine Anstrengungen angesichts eines solchen Orkanes dünkten mir lächerlich. Aber ich ruderte ja selbst mechanisch aufs Geratewohl, und dann stürzten die schwarzen Berge über das Boot.
Wieder rauschte das Meer im eintönigen Sang, über mir war schon erkennbar in der ergrauten Nacht die Decke des Schiffes, und ich lag wie zuvor in der ledernen Muschel gewiegt. Aber für kein anderes Lied als für das finstere Echo meines Traums hatte ich ein Ohr. Alle Freude war tot. Ich warf die Decken fort und saß zusammengekauert, schlaflos, verwüstet, uralt.
Durch den Krieg glaubte ich meinen Traum erfüllt. Die Ernennung Kühlmanns hatte mich zuerst gefreut. Er hatte von Jugend auf mit allen Kräften dem Krieg entgegengearbeitet, und ich hoffte, es würde ihm gelingen, sein Ende herbeizuführen.
Aber er waltete noch keine acht Tage seines Amtes — ich war in Wengen und lag in der Sonne — als im Halbschlaf das Bild eines hohen Gerüstes sich aufdrängte, ähnlich dem Eiffelturm, und auf der Spitze Kühlmann, aber schon im Begriffe kopfüber abzustürzen, so zwar, daß er sich in der Luft zu drei Malen überschlug.
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Am Tage nach seinem „Niemals“ kam Abigail mit einer stoßbereiten Miene, wie ein Widder zu mir. Zur Annahme einer schroffen Haltung Kühlmanns war ich jedoch um so weniger berechtigt, als mein frühestes Buch Aufsätze, welche auf seinen Rat den französischen Titel „L’âme aux deux patries“ führten, die Behauptung aufrechthielt (denn mit der Feder war ich von jeher sehr dreist), die Annektion Elsaß-Lothringens sei ein Fehler, den Bismarck, wenn er noch lebte, kein zweites Mal begehen würde: er hätte ein anderes Äquivalent dafür ersonnen. Dies Büchlein, das im übrigen ganz unter den Tisch fiel, fand nur durch ihn eine so kräftige Verbreitung, daß sich der Verdacht regte, er sei dessen Verfasser.
Auch zu jener Unterredung mit Zimmermann im Januar 1917, die einzig der Notwendigkeit einer Diskussion des elsaß-lothringischen Problems galt, hatte er mir verholfen, und im Nebenzimmer eine Unterhaltung geführt, damit wir ungestört blieben. Auch waren mir die Worte erinnerlich, welche er im Jahre 1915 diesbezüglich fallen ließ, zu einer Zeit, wo die Aussichten für Deutschland noch günstig erschienen. Sein „Niemals“, konnte ich daher nur als einen Brocken ansehen, den man Kläffern vorwirft, um sie von sich abzuhalten und weitergehen zu können: ein nach innen und in die Kulissen, nicht nach außen gerichtetes Wort.
OKTOBER. Statt der drei kleinen hatte ich jetzt ein einziges großes, fast saalartiges Zimmer nach Norden, auf die Lauben hinaus. Schmuck, ja zierlich stand hier der Flügel im Raum. Die Wände hatten lichte Täfelungen, und der indische Schal mit dem weißen Feld fiel von der Decke bis zum Boden und schien eine Türe. Der Toilettentisch blitzte im Schatten auf: sein Hauptschmuck waren jetzt zwei silberne Renaissanceleuchter, vom Seidenaffen beschert.
Über das Zimmer selbst ist weiter nichts zu bemerken, als daß eine Reihe von Unterredungen dort stattfanden, die alle zu nichts führten. Ein Wort über meine politische Wirksamkeit. Wir wollen sie so nennen. Eine ganze Weile brachte ich gewiß alle Spionagen und Gegenspionagen zur Verzweiflung. Scheinbar für eine jede ein kinderleichter Fang, war das Verwirrende gewiß, daß ich gleichzeitig in Diensten sämtlicher Regierungen zu stehen den Anschein haben mußte. Wenn jemand keine Parteien kannte, so war ich es. Außer Japan, China, Rußland und Marokko durften nur noch Schweden, Norwegen und Dänemark sich rühmen, daß keiner ihrer Staatsangehörigen bei mir gewesen sei. Mein Zimmer war so recht die Halle der vergeblichen Zusammenkünfte, und wenn ich auch keine einzige vom Zaune brach, schob ich doch auch keiner einzigen den Riegel vor, selbst als mir kein Zweifel über ihre Vergeblichkeiten blieb. Der „Friede“, ein Wort, das mich im Schlaf elektrisierte, war wie das große Los oder wie das Leben eines aufgegebenen Kranken immer eine Möglichkeit. Und ob ich auch anfing, dem Kopfschütteln Fortunios beizustimmen, stürzte ich doch, wie Kundry im ersten Akt, bei jeder Veranlassung nach dem Heilkraut davon, das keine Linderung mehr bringen konnte. So setzte ich mich in Bewegung, so braute ich mit Todesverachtung meine Tees, ob mich auch schon ein wahres Grauen vor all den Nieten faßte, die sich zu Bergen vor meinem Tische häuften . . . Den dümmsten und ungeschicktesten Leuten schenkte ich dennoch Gehör. Vielleicht war gerade dieser Narr der reine Tor, vielleicht hatte ich doch recht.
Meine Verständnislosigkeit für Natur und Beschaffenheit dieses Krieges ging ja so weit, daß ich vom ersten Tage seines Bestehens an von Monat zu Monat überzeugt war, länger als sechs Wochen könne er nicht mehr dauern. Immer schien mir alles sein nahes Ende zu künden. Als zum ersten Male von zahlreichen Gefangenen die Rede war, dachte ich: jetzt ist bald Schluß. Als Ruhleben entstand, dachte ich: jetzt wird man verhandeln. Wer ließe seine eigenen Leute so im Stich? Obwohl ich, was die Schlechtigkeit des einzelnen anging, einen so radikalen Standpunkt vertrat und immer darauf aufmerksam machte, daß die Larven triumphierten und der Edle geopfert würde, ja, daß es stets ein besonderer Glücksfall sei, wenn er nicht unterliege, so hatte ich den so naheliegenden Schluß von der Familie zum Staat (und was ist sie anders, wenn nicht die Welt und Geschichte im kleinen?) merkwürdigerweise noch immer nicht gemacht. Immer noch wähnend, es ginge um den Frieden, da es ja gar nicht ihn, sondern Sieg und Niederlage galt, glaubte ich, durch meine Absicht und durch meine Gesinnung alle endlich zu überzeugen und für mich zu gewinnen, bis ich mit Entsetzen merkte, daß gerade meine Naivität Bedenken erweckte. Wie hätte auch Aramis, da es mir keineswegs an Menschenkenntnis gebrach, eine so große Weltunkenntnis bei mir vermutet? Und daß ich unter Kapitalismus immer noch einige Bankiers verstand? Vielmehr war es natürlich, daß eine Gesellschaft, welche den Krieg als eine Institution begriff, an meiner Friedensmanie Ärgernis nahm. Ich hielt mich für besser als sie, während ich vor allen Dingen unwissender war. Und diese Unwissenheit stellte zu meiner Soloarie den verdrießlichen Baß.
Dennoch war, als mir endlich ein Licht über die Welt und zugleich über mich selbst aufging, die erste Folge die Furcht. Ging ich spät die Lauben entlang, so faßte mich Schrecken, wenn nur die Umrisse eines Mannes oder nur sein Schatten hinter einer Säule sichtbar wurde. Da war ja eines jener unerklärlichen und gefährlichen Wesen, die es so eingerichtet hatten, daß ihresgleichen heute vielfach auf einem Beine durch die Lande hopsten.
Meine Tätigkeit, die sich vor jeder Offensive verdoppelt hatte, war nur mehr mechanisch. Die letzte Zusammenkunft, die sich in meinem Zimmer begab, fand mit Professor H. statt. Er berief sich auf wichtige Eröffnungen auf Grund amerikanischer Aufträge, die er zu machen habe. Es erfolgte noch einmal ein Depeschenwechsel mit den Restbeständen dessen, was man noch deutsche Regierung nannte, und was längst unter den Hufen der Militärkavalla zertreten lag.
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In diesem über alle Maßen traurigen Winter strich ich eines Abends müde durch die Lauben, als Abigail an mir vorüberschoß. Busoni spielt heute Abend! rief er mir zu. Nun lief auch ich und kam noch gerade recht, bevor er eine Orchesterfantasie von Weber zu spielen anfing. Und siehe da, man lebte, war seiner Ketten ledig und richtete sich auf.
Von nun an befaßte ich mich stark mit seinen Kompositionen und fuhr nach Zürich, wenn dort ein neues Werk von ihm zur Aufführung gelangte. Eine bequeme Gabe ist es ja nicht, den Wert eines überragenden Typs zu erkennen; sie legt Verpflichtungen auf; es ist nicht, als ginge sein Wohl und Wehe uns nichts an.
Verdrießlich genug ist es ja vielfach mit seiner Anhängerschaft bestellt. Wie an den Reichen die Profiteure, so drängen sich an den Schaffenden die Parasiten des Geistes heran. Und vielleicht, wer weiß, ist ihm in mancher Feierstunde, die ohne Anregung verlief, der Chor seiner Widersacher minder fatal wie der seiner Anbeter.
Von dem Unmut des alten und stark zensurierten Wagner, von einem verzweifelten Versuch sogar, den, öden Sockel auszureißen, auf dem er sich wie ein Götze gestellt sah, drang nur durch Zufall etwas in die Außenwelt. Während seine Umgebung den ungeheuren Überdruß der nachwagnerischen Ära bereiten half, ließ er selbst seine Werke weit und ungeduldig hinter sich zurück. Lange ehe seinem Lohengrin die grausige Popularität beschieden war, hatte er „mit Ekel in die Partitur gestarrt“[2]. Später eilte er schnell mit dem Nachtzug davon, wenn eine Stadt, die er bereiste, ihm zu Ehren eine seiner Opern ansetzte. Er hatte den schönen und naiven, wenn auch natürlich vergeblichen Wunsch geäußert, seinen „Ring“ ein einziges Mal auf einer eigens errichteten Bühne in höchster Vollendung zur Aufführung zu bringen, um sodann Bretter und Partitur auf immer zusammenzuschlagen[3].
Wer ein einziges Mal Friedrichs, den unvergleichlichen Darsteller des Alberich, während seiner kurzen Laufbahn vernommen hat, der vergißt nie die unheimliche Wirkung seines plötzlichen Vortretens, als er, hart vor der Rampe, mit seinem dunklen und prachtvollen Organ den Fluchgesang erhob. Sich selbst, die ganze Welt fühlte man da bedroht, und wer die Alberiche, wer die Nibelungen sind, und welche Bewandtnis es hienieden mit ihnen hat, wurde einem in unmißverständlichster Weise gelehrt.
Was aber kann so nichtssagend gemacht werden wie das Bedeutsame?
Gerade von groß angelegter Musik gilt das Wort: „La musique doit toujours nous surprendre.“ Laßt Dezennien des Schweigens und der Vergessenheit den „Ring“ begraben, damit sich von neuem offenbaren könne, welcher Vorhang da zurückschlug vor einer bis auf den Grund durchschauten Welt . . .
Erst die Züge des späten, weltberühmten und gefeierten Wagner zeigen den trüben, resignierten und abgewandten Schein, als dünke ihm jetzt erst, da alles erreicht war, alles vergebens. Mime und Cie. rächten sich, indem sie ihn ableierten. Als Kassenstücke ausgebeutet, wurde das Wagnersche Werk zum Unding, zur Säge, zur Obstruktion . . .
„Schafft neues!“ war sein immerwährender Ruf; dafür wurde à la Wagner weiter komponiert.
Sehr wagnerisch bewegt und sehr unwagnerianisch (denn was könnte es unwagnerischeres geben als den Wagnerianer?) ging ich eines Abends, von Busonis Hause kommend, durch die nächtlichen Straßen Zürichs, wo einst Wagner gerungen hat und heute Busoni ringt, und wo beide ein Asyl gefunden hatten. Mit letzter Gewißheit wußte ich da, daß der viel mißbrauchte Meister, der sich gerade über den so weit von ihm abliegenden Mozart so begeistert äußerte, heute gerade an dem selbstherrlichen Busoni und dessen von ihm sich entfernenden Wegen sein tiefstes Gefallen fände. Weit über das Leben hin tragen sich ja die wichtigsten Gegensätze aus. Denn sachte nur beliebt es den Göttern. Einen nach dem andern nur lassen sie zu Worte kommen. Ihr Neid duldet nicht das gleichzeitige Auftreten zweier allzu interessanter Fechter. Eher hielten sie ihnen eine Binde vor die Augen, als zu gestatten, daß sie ihre Klingen kreuzten.
Höchst merkwürdig aber ist es, daß die Persönlichkeit nie wichtiger gewesen ist, als jetzt in dieser Zeit der Massenschicksale der Hungers und der Kohlennöte. Nicht nur alle Spreu sehen wir heute inmitten der Äquinoktien aufwirbeln, auch manche Gesetztafel zerschlägt aufs neue. Der Heilige des Tages sucht nicht mehr die Wüste, sondern tritt mitten unter die Menschen und fällt unter ihren Streichen, nicht weil er die Abkehr predigt von der Welt, sondern um seiner Beglückungstheorien willen.
Aber nicht lange mehr wird der Auserwählte als ein Dulder gehen. Entweder sehen wir ihn bald als eine verlorengegangene Spezies ganz um die Ecke gebracht, oder sein Reich wird kommen. Es ist eine Täuschung, zu glauben, daß eine Welt, deren Schlechtigkeit und Gewalttätigkeit sich derart nach oben kehrte, so bleiben könnte, wie sie ist.
Hier mag stehen, was ich zwei Jahre später schrieb:
Ich hörte Busoni zum ersten Male vor zwei Jahren in Bern. Er sah mit einem Blick weit hinausgerückter Vereinsamung, den man an diesem Gesicht sofort begriff, gleichsam zu sich selber auf und fing an zu spielen.
Das gibt es also noch, dachte ich nach einer Weile. Da geht man mühselig seinen Weg, und plötzlich dies — dies plötzliche Angelangtsein, diesen Schauer der Ruh, diese unvermutete Herberge.
Bei Busonis Spiel, so herrlich es ist, will ich jedoch nur kurz verweilen. Er ist wohl deshalb der größte Pianist, weil er implizite einer ist, weil unter der Zauberformel, welche seine Finger darüber sprechen, die Metamorphose eines an sich zweifelhaften Instrumentes sich ergibt.
Wir kennen so manche vorzügliche Pianisten. Aber wie wenige machten uns das Klavier vergessen! Da ist Holz, sage ich, da sind Pedale, ein schöner Anschlag vielleicht und ein großes Können dazu. Aber für den Hörer nicht eben sehr nachhaltig: Klavier. Besinnt euch. Ist es anders?
Eher ließ noch das orchestrale Klavier Illusionen zu; ich habe große Dirigenten gehört, die es zu einem prachtvollen Notbehelf gestalteten. Von solchen Vorspiegelungen jedoch kann bei Busoni nicht die Rede sein. Dazu ist er zu sehr Kenner des Instrumentes, belauschte er es in allen Fibern zu genau. Etwas ganz anderes ist hier am Werk: Mozart hatte sich eine verzauberte Flöte ausgedacht: hier nun wurde tatsächlich das „Piano enchanté“ zur Wirklichkeit. Wir brauchen dabei nur an seinen Vortrag, der an sich kaum noch erträglichen Pianofortekompositionen Liszts zu erinnern, dieses riesenhaften und vermoderten Rosenbuketts mit verschossener Bandschleife . . . statt dessen wird eine ganze Epoche, die des zweiten Kaiserreichs, vor uns lebendig: Pracht, Tand und Duft, Fächerspiel, lächelnde Augen, Krinoline, Vergessenheit; alles retrospektiv gesehen, mit magischer Schärfe aufgerufen. Daher auch die ernste Maske im Hintergrund.
Schließlich, wenn alles gesagt ist, bleibt von einem Menschen immer nur das Neue. Die Geschichte unseres Geistes sind weitergegebene Signale. Aber nicht immer das zuletzt Gegebene wird von dem Kommenden aufgegriffen. Die Schrift ist kraus. Und die, welche an ihr schreiben, haben vor allem ihr geistiges Elternpaar, ihre geistige Familie und ihre geistige Sippe. Falls wir eine neue Zeit zusammenbringen, wird auch eine neue Heraldik mit ihr aufkommen. Gar merkwürdige Erzhäuser, Dynastien und ihre Nebenlinien werden sich da herausstellen. Und kaum einen Stammbaum dürfte es heute geben, der weiter verzweigt und interessanter zu erforschen wäre, wie der des so universalen Busoni. Keine Vaterschaft, die ihm an der Wiege gesungen wurde, sondern die sich vielmehr vor ihm verbarg, ihm vielmehr auferlegte, sie zu entdecken.
Viele Jahre hindurch ist es in seinen Werken wie ein umsichblicken, ein plötzliches horchen, sichunterbrechen und stillestehen. Konzessionen kennt er nicht. Was das unvorbereitete Ohr noch grau, abstrus, bizarr anmutet, sind die Schatten des Weges, auf dem er sich entfernt. Seine Zeitgenossen verlieren ihn aus dem Gesicht. Mit dem embarras de richesse, welchen Berlioz, Liszt und Wagner in das Orchester hineingetragen haben, ließ sich ja noch lange wirtschaften. Richard Strauß buchtete das von den Vätern Erworbene noch weiter aus, erstand noch die oder jene Pagode hinzu, und zum Beweis, daß er ein Allerweltskönner sei, schuf er in seiner „Ariadne“ eine antike Seite — ich brauche sie nicht zu nennen — von ewigem Wert.
Auch bei dem feinen, wenn auch kurzatmigen Debussy horchten wir auf. Einige noch unvernommene Töne schlugen da an, wie in Farbe getaucht, morbid, verzückt, nur scheinbar dekadent, nicht dekadenter, sagte ich schon, als ein Mondreflex auf einem verrosteten Gitter. Jedoch viel zu sagen hatte er nicht; auch er fragte sich nicht, wie es weitergehen sollte, und er verstummte schnell.
Genie ist nicht nur Fleiß (neben vielem anderen), sondern auch ein heroischer Ernst. Vielleicht ist Busoni nicht der einzige, welcher erkannte, daß die Musik in die wild überwuchernde Flora der Neuromantik nicht mehr tiefer hineinführte. Aber man kutschierte fatalistisch in derselben Richtung, demselben Kreise weiter, denn das Problem schien unlöslich. Nur nicht für Busoni. Es reizte gerade den Schöpfer in ihm.
Anfangs waren es nur Anregungen, welche er bot. Turandot; immer stärkere Anregungen, wie das Licht eines wachsenden Tages, in seiner Schrift „Zur Ästhetik der Musik“, in „Arlechino“; in seinen immer erstaunlichen Klavierkompositionen, welche dem Klavier — dem einstigen Spinett — so neue Dinge entlocken: Klangeinlagen, Klangunterlagen, eingebaute, eingetönte Perspektiven (wenn ich so sagen darf!) grüßen da aus unvermuteten Tiefen, wie grünleuchtende Seen. Auch rein äußerlich genommen, verfährt Busoni als Schöpfer mit ihm; auch auf den rein äußeren Ausbau dieses Instruments (immer ist ja der Entdecker in ihm rege!) drängen seine Kompositionen hin.
Scheint dies vielleicht von mäßigem Belang?
Welche Stunden äußerster Betrübnis muß das Genie durchleben! Wie müssen ihn da die Zweifel überwältigen, ob die ewig geschäftige und ewig unachtsame Welt das Geschenk denn auch entgegennehmen wird, welches ihr zu bereiten er sein Leben widmet!
Während sie von nichts anderem widerhallte, als ihrem sinnlosen Waffengedröhn, hielt Busoni sein schweres Ziel im Auge, drang er immer weiter vor, nahm er die Kurve, legte er die Schraube an. In seiner Isolation fand er die schöpferische Kraft, das Tor zu sprengen, und die in ihrem Riesenapparat festgefahrene, ja welkende Musik für eine neue Jugend flügge zu machen. Es wurden uns bis jetzt nur Bruchstücke seines „Faust“ bekanntgegeben, aber sie künden ihn ganz. Die reine Linienführung, die tempelhaften Umrisse einer neuen Klassizität, sanft gerundet, erheben sich wieder! Ein „Faust“ um so faustischer nur durch die neuen Streiflichter, die auf ihn fallen: die holde Blässe in der Feierlichkeit, ein in der Welt noch nicht dagewesener Adel des Klanges das Sfumato in der Trauer, Leonardisches, Latinismen . . .
Wenn ich sage, daß mit diesem seinem und zugleich so sehr unserem „Faust“ das Erbe Mozarts angetreten wurde, befürchte ich kein Dementi von der Zukunft.
Darf ich (so nebenbei) in Erinnerung bringen, daß Bettina Brentano über Beethoven, daß Julie de Lespinasse über Gluck zu beider Lebzeiten das Entscheidendste sagten?
Und wenn ich mich heute so gedrängt fühle, auf die Wichtigkeit Busonis immer wieder aufmerksam zu machen, so möchte ich hinzufügen, daß es in der Kunst sowohl wie in der Politik so etwas gibt wie ein „zu spät“. Auch hier sind die Gelegenheiten dahin, die man verpaßte — auch den Herren Klavierbauern rufe ich dies heute zu.
Busoni hat ja seinen Lohn sicher nicht dahin. Auf der von ihm freigelegten Bahn geht es weiter, und der Dank der Kommenden erwartet ihn. Aber sollen wir heute, wo die Kronen zu Dutzenden auf das Pflaster rollten, sie im Staube verkommen lassen und wie im alten Regime die wahren Könige nicht ausrufen und nicht unterscheiden?
Das traurigste aller Jahre gehörte der Vergangenheit. Auch der Januar hatte ein Ende genommen. Ich war die Sklavin meines Flügels. Ihm zuliebe behielt ich das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte.
Mit England und den Vereinigten Staaten war der Briefwechsel besonders schwierig geworden. Zuletzt würde es Mühe geben, sich die Gesichter seiner Freunde zu vergegenwärtigen, deren Bild nie eine Nachricht näher brachte.
Eines Nachmittags — es fing schon an zu dämmern — und meine Gedanken zogen über unerreichbar gewordene Küsten den gewohnten Weg, als statt vertrauter Züge, die ich wachrief, ein blankes, behendes Pferd aufblitzte von intensivstem Braun. Voll Ungestüm, beredten Blickes, als hätte es etwas zu verkünden, weckte es ein Echo großer Bangigkeit und verschwand.
Dafür blieb der ganze folgende Tag unter dem Eindruck eines so beseligenden Traumes, daß es ein Frevel wäre, ihn zu schildern.
Wiederum dämmerte es, und diesmal saß Fortunio in meiner Sofaecke, und wir unterhielten uns.
Das zwiefache an den Menschen, darüber waren wir uns ja einig, betraf ihren Ursprung. Insofern hatten die Extremisten recht, als sie nicht glaubten, mit dem alten Karren ins gelobte neue Land einzufahren. Leider aber brachten sie dabei ihre eigene Anhängerschaft ganz nach der alten Manier, nicht etwa der Artung, sondern der oft so rein zufälligen Meinung nach als wildes Durcheinander unter ein und dieselbe Flagge.
„Wie wunderbar ist der Mensch!“ sagte ich plötzlich, „was für Eingebungen er hat! Auf was für Dinge er gerät! Zum Beispiel in allen Sprachen Vergleiche wie die folgenden zu ziehen: marchez comme sur des nuages; to walk on clouds; wie auf Wolken gehen.“
„Warum?“ fragte er.
„Weil es das gibt. Nicht etwa nur in euren Dichterphantasien, sondern einer höheren, höchsten Physik zufolge. Wer ist der verwirrte Tropf gewesen, der als erster Wort und Begriff des Wunders startete?“
Ich wurde jetzt der Schneereflexe immer bewußter, welche in die Mollakkorde eines unvergleichlichen Zwielichtes fuhren. Nur wenig Wintertagen eignet dieser Schein, trauter als das von Sommerlüften durchwärmte, hölzerne Gartenhäuschen. Lange schmeichelte er sich an den Fenstern hin.
„Eine gesteigerte Natur,“ fuhr ich fort, „Kontakte, es sind Füße denkbar, zu welchen die Tragfähigkeit der Wolke sich verhielte wie Steg und Brücke zu den unseren: Gewänder, die zu solchen Füßen niederflössen, würde durch die Schärfe der Emulsion der Äther zum natürlichsten Geleise: weite Geleise solchen Füßen, und so sehr ein Teil von ihnen, während sie auf ihren Wolkensohlen reisten, daß von einer zifferlosen Arithmetik beherrscht, der ganze Himmel, und nicht etwa nur ein Stück von ihm, mit in den Raum sich drängen würde, über dessen Schwelle sie zögen.“
Hier verstummte ich, und so gebieterisch schwoll die Dämmerung an, daß meine Hände, wie Orgelpunkte in der Schwebe gehalten, plötzlich niederfielen, ihrer Unzulänglichkeit und Armut zurückgegeben.
„Wollen Sie Licht machen?“ fragte ich.
Während er sich anschickte, das Zimmer der ganzen Länge nach zu durchschreiten, war ich innerlich erstaunt über die Ausführlichkeit, mit der sich das Detail eines Bildes, welches doch als Ganzes, über alle Zeitbegriffe schnell zu Häupten meines Bettes aufgeblitzt war, festhalten ließe.
Doch warum faßte mich da wieder das unerklärliche Grauen, das nicht mehr einzufangende Echo des Grams des gestrigen Nachmittags, als mir im halbwachen Zustand das Pferd beredten Auges entgegenschoß? Welche Bewandtnis — — — — —
Aber da hatte Fortunio schon geknipst, die Lampe erstrahlte, und ich atmete auf.
5. FEBRUAR. Am Morgen dieses Tages stand ich angekleidet zu Häupten des Bettes und hielt meine Post. Sie war umfangreicher als sonst. Ein Brief mit ausländischer Marke und fremder Handschrift, den ich zuerst öffnete, umfaßte nur wenig Zeilen und meldete einen Tod, der schon vier Monate zurücklag.
Der Zahnarzt erwartete mich schon sehr früh.
Ganz undeutlich, wie von einem andern Ufer herüber, so daß ich nicht daran dachte, mich zu entschuldigen, schien er mir ungeduldig über mein verspätetes Erscheinen.
Ich wollte ihn ersuchen, das graue Schmerzenslicht von der gegenüberliegenden Mauer zu entfernen. Dann besann ich mich: zeigten doch alle Dinge, das Fenster, die Instrumente auf dem Tablett dieselbe böse und stechende Schärfe.
Desgleichen die Luft, als ich nach der Sitzung unter die Lauben trat. Sollte man sich es wirklich antun, sie hinabzugehen? War nicht vielmehr die Erde, dieser schwarze und zertretene Schnee, sich in ihm einzubetten mit zugekehrtem Gesicht, die einzige und unendliche Lockung? Die wehe Fackel des Gedächtnisses zu löschen, so zu verlöschen, als sei man nie gewesen, dieses war der Himmel. Oh wer war das? Wer war die Kreatur, die diesen ganzen Tag hindurch alle Gesten des Lebens so staccato verrichtete, an den Speisen dieselbe entsetzliche und befremdende Miene wahrnahm, wie an den Pinzetten auf dem Tablett des Zahnarztes, und wohin sie sich auch wandte, die Flucht ergriff; als wäre sie die aus Hoffmanns Erzählung entronnene Olympia — die Lauben hinab, die Treppen hinauf — in ihr Zimmer zurücklief — und sich umzog! — Einen blauen Hut aufsetzte, einen blauen! — und einen blauen Schleier davorband, und in das betäubte Antlitz starrte, dem er so ungewöhnlich stand — und einen Besuch abstattete — an einem Ofen lehnte, an ein Fenster trat, und durch seine, vom leichten Druck getrübte Scheiben sah, den die Wärme des Zimmers hervorrief. Es saß einer da, der erzählte, doch nur die Türe nahm sie wahr, durch welche sie wieder entrinnen und ins Freie gelangen konnte . . .
Dort fing es an zu dunkeln. Es nahm auch dieser Tag ein Ende.
Nur auf dem freien Platz und über der Brücke war es noch hell. Rauh, grell und öde brütete ein durchnäßter Wintertag. Ungemildert fing ihn der „Gurten“ auf: eine dunkle, ansehnliche Masse, und dennoch niedrig stellte sich ihm oh, so traumlos entgegen! Tropfnaß alle Dächer, die Bäume ein wirres und aufgelöstes Haar.
Das Uhrwerk war abgelaufen, und sie stand nun endlich still, wie überwachsen von ihrer Not. Ein Martergriffel umriß für sie die ganze Stadt, die sich im Widerscheine eines Sterbetages zur Krypta schloß, das Siegel seiner Qual für immer aufgebrannt. So fiel ein Tor.
Beim ersten Laternenschein prallte sie zurück. Jedes Licht war eine Tücke. Kein Dunkel war tief und ununterbrochen genug. Und riefen ihre Wände nicht nach ihr? Zu ihnen nahm sie ihre Zuflucht, schloß ihre Türe und überließ sich der Erschöpfung. In ihren Kleidern wie auf einem Sarkophag, ohne sich zu rühren, ausgestreckt, lag sie in den Armen und am Herzen dieser Nacht.
Siehe — was tauchte da wieder vor ihr auf? — Sturmentlassen, mit verhängten Zügeln, wie einem geisterhaften Stalle zugekehrt, das entfärbte, fahlgewordene Roß, dessen Botendienst geschehen war.
Zum ersten Male entsann sie sich da auch des andern Bildes, das sich zwischen einer Kunde und ihrer Ankündigung gnädig und wie eine Gnade stellte.
* *
*
Und nun, oh Leser, fasse meine Hand, daß ich von dir selber gehalten, durch Dornen und Gestrüpp, Ziel, Sinn und Ende dieses Buches erreiche. Verlasse auf immer mit mir das Zimmer der vergeblichen Zusammenkünfte und folge mir nach Genf. Ferne dem traumlosen Berg, über der malerischen Stadt des nüchternen Lichtes, durch die Turmspitze versinnbildlicht, welche den Unterbau des Münsters niederdrückt, und seine Schönheit immerzu und immerzu verneint.
Selbst bei der schärfsten Bise leuchtete die Luft in Genf so abgetönt. Dort hauste ich nun, in einem unheizbaren Studentenstübchen im fünften Stock des hotel de Russie. Ein kleiner Balkon überhing die stets von Schwänen überzogene Insel Rousseau. Meine Taschen waren in diesen Tagen der Brotkarten mit Krumen wohlgefüllt, und mit heimlicher Befriedigung warf ich ihnen die rargewordene Speise zu. Nicht vergeblich glitten sie mir da immer sogleich, doch ohne jede unziemliche Eile entgegen. Ich sah ihnen oft lange zu. Sie standen in der Tierwelt so abseits; fast ein wenig abgerückt von der Natur. Bald würden sie zwischen ihren stolz aufgerichteten Flügeln ihre Jungen wie in einer geschlossenen Krone durchs Blaue tragen. Vielleicht gab ihnen ihre Ungefährdetheit die Muße, um den Tod zu wissen.
Die Zeiten waren derart, daß der Ortswechsel selbst einer so unwichtigen Person wie mir nicht unvermerkt blieb. Dinge aber, die mich vor kurzem in Aufruhr versetzt hätten, machten mir nicht das geringste. An der Telephonkabine war eines Morgens der Türgriff ausgekurbelt und wurde nicht wieder instand gesetzt. Dicht bei verbrachte ein dicker Herr seine Tage und rauchte Zigarren, indem er unverfroren horchte.
Indessen wurde ich von Herrn L — P. . . . dem Vater der im deportationsfähigen Alter stehenden Kinder aufs neue bestürmt. Seiner Frau blieben die Pässe verweigert. Ich schrieb jetzt auf gut Glück dem Grafen Carry, er möge mich über den Sonntag besuchen. Und richtig stand er da. Es war strahlendes Wetter, wir streunten über die Kais und aßen zusammen. An seine natürliche Güte hatte ich nie vergebens appelliert, und schließlich bildete sein Propagandawerk eine Art von Rettungsstation. An ihm klebte kein Blut. Da mir aber seine Beziehungen zur obersten Heeresleitung bekannt waren, log ich jetzt über die politische Zweckmäßigkeit einer Paßverleihung an die Familie L . . P . . . einiges Blaue vom Himmel. Wir setzten uns ins Freie. Erstaunliche Magnolien prangten schon in voller Blüte; an eine Tanne, grünblau, weiten Hauptes wie eine Pinie, und immerzu umschwirrt, preßte sich ein glückliches Vogelhaus. Carrys Augen hingen voll Entzücken daran.
„Da geht mein schlimmster Feind“, sagte er plötzlich. Klein, mit niederträchtiger Visage, kam hinter den Magnolien ein Landsmann von uns hervor. Von übelster Vergangenheit, dabei Träger eines großen Namens, für den Nachrichtendienst also wie geboren, lauerte er dem Frieden um so emsiger auf, als die Dauer des Krieges mit dem Interim seiner Rehabilitierung zusammenfiel.
„Natürlich haßt er Sie“, sagte ich zerstreut. „Was erwarten Sie sonst?“
Abends — der Graf war schon abgereist — kreuzte ich mich nochmals, über die Brücke zu den Schwänen gehend, mit der hochgeborenen Krapüle, die mit einem Basiliskenblick an mir vorüberging. Tags darauf — ich dachte gerade an das blauzerfließende Grün der Tanne und an den großen Blumenbaum, der in dieser Sonnenhelle wohl noch heller erblüht war, als ich ans Telephon gerufen wurde. Vor der Zelle saß trägen Auges der mir zugeteilte Herr mit der Nachmittagszigarre im Mund. Heute aber sollte er auf seine Kosten kommen. Denn im höchst aufgeregten Ton forderte mich eine Genfer Dame zu sofortiger Aussprache auf. Ihr Haus sei mir offengestanden, sie habe mir ihr Vertrauen geschenkt, und nun müsse sie hören, daß ich es mißbrauchte.
Ich machte mich ziemlich gemächlich auf den Weg zu ihrem Hause. Seit jenem Tage, als sich Bern für mich zur Krypta schloß, war mir erst bewußt, daß ich mit nichten ein verkannter oder verlassener, sondern einer der wenigen innerlich wirklich beschützten und durchschauten Menschen gewesen war.
Wie oft hatte — weit vorgreifend, ach! — mein Ohr das melodische Lachen zu hören geglaubt, wenn ich dereinst alles erzählen würde, alle Zwickmühlen und alle Abenteuer, in die ich geraten war.
Ein ganzer, ein wirklich unvergeßlicher Mensch, dachte ich, von Trauer niedergedrückt, ist nirgends zu Ende. Unerschöpft und ganz unausgespielt sinkt er zu Grabe. Abgerissen, doch nicht abgesponnen, ist der Faden eines solchen Lebens.
Wenn aber Kinder des Lichtes zusammentreffen, ist das schon ein Glück des Himmels. In dem hin und her ihrer Blicke und ihres erkennens liegt das Vorgefühl ihrer Macht. Zu uns komme ihr Reich.
Mit der Genfer Dame war ich schnell im reinen. Wir spielten beiderseits mit offenen Karten. Die hochgeborene Krapüle hatte verbreiten lassen, die deutsche Propaganda arbeite nunmehr mit so raffinierten Mitteln, daß sie kompromittierte Personen, wie mich, zu Werkzeugen mache. Den Beweis hielte er in der Hand. (Es war mein Frühstück mit dem Grafen Carry.) Natürlich war seine Behauptung wohl geeignet, mich in Genf unmöglich zu machen. Er hatte sich nur insofern verrechnet, als meine dortigen Freunde sich unverweilt mit mir ins Vertrauen setzten. Dieser Zwischenfall war also beigelegt.
Als ich wieder in die Allee einbog, welche von ihrem Hause bis hart an die Straße führte, drangen durch ein offengebliebenes Fenster die Worte: „Je suis bien contente de le lui avoir dit“ laut und vernehmlich ins Freie; Mir aber saß jetzt ein ödes Gefühl im Magen, ein Ekel, das würgen einer allzu krampfhaft unterdrückten Bitterkeit. Ein Durst zugleich; das lechzen des Trinkers, der nach dem Becher vergeht; es mußte etwas, das Palliativ, die Betäubung mußte her. Es war das alte Laster, hui! Und lag sie nicht dicht bei, die avenue de Florissant? wußte ich nicht, zufällig, daß sie dort wohnte, sie, die den Schlüssel zu den geheimen Toren hielt, die ich begehrte? Heute noch, nein, sogleich mußte ich hin.
Und schon betrat ich unangemeldet die großen Räume, in welchen die malerische Französin zwischen ausgehobenen Türen nach allen Seiten hin den Ausblick über Gärten und Büsche genoß. Es war eine ganze Welt von Bäumen in ihrem ersten Grün. Mademoiselle S., eine Pariserin der ernsten und wenig bekannten Art, trug einen orangefarbenen Foulard um ihren Kopf gewunden und gestand ihre Kopfschmerzen, aber nicht ihr Befremden über meinen Besuch. Wir hatten uns ein einziges Mal während des Krieges flüchtig kennengelernt, und nun lagerte ich, jedem Argwohn zuvorkommend, indem ich ihn einfach niedertrat, auf einem Diwan ihres Salons, den verwirrenden Frühlingszauber ihres Parkes vor Augen.
„Sie sind im Besitze der Adresse eines Mediums,“ sagte ich, „die ich suche.“ Und sie erhob sich, an ihnen Schreibtisch zu treten; eine hohe und dunkle Gestalt, weder so schön, noch so jung vielleicht, als sie an diesem Abend schien, den blassen und melancholischen Kopf vom seidenen Turban eng umschlossen, und all die Wipfel, die in den Rosenhimmel ragten, als Hintergrund. Sie reichte mir die Adresse, und wir sprachen von allgemeinen Dingen.
„Es muß heute doch ein eigener Segen auf allen Schlechtigkeiten ruhen,“ sagte ich, „da, was immer man Gutes und Hilfreiches unternehmen möchte, sofort in Mißlingen und Gestank aufgeht.“
„Wie könnte es anders sein?“ gab sie zurück, „das Geschwür ist noch lange nicht reif. Vorerst muß alles ihm allein zugute kommen.“
„Es gibt aber Geschwüre en permanence“, meinte ich. Doch sie schüttelte den Kopf, unbeirrbar in ihrem Glauben an eine bessere Zukunft.
Es herrschte zwischen uns die kurzbefristete Vertraulichkeit zweier Reisegefährten eines nächtlichen Zuges. Nichts ist so unverbindlich wie ihr Auseinandergehen.
Denn schon war ich wieder unterwegs, einer andern Himmelsrichtung, einem Genf, das ich nicht kannte, zugewandt, nicht wissend, daß es auch seine anonymen Viertel hatte, die scheinbar nicht zu ihm gehörten, sondern in ihrer Bedrücktheit ganz allgemein die Straßen einer größeren Stadt darstellen. Zwischen solchen Häuserreihen war ich jetzt auf der Suche, fand die Nummer, stieg vier Treppen hoch und läutete und wartete. Eine im Dunkel undefinierbare Gestalt öffnete endlich langsam die Türe.
„Wollen Sie mich melden?“ sagte ich, ohne meinen Namen anzugeben. Sie rührte sich nicht. „Wollen Sie mich melden?“ wiederholte ich. Sie schwieg. Sie war es selbst. Stumm standen wir einander gegenüber. Unsere Blicke belauerten, betasteten sich. So tauschen wohl in einer Höhle des Lasters zwei Eingeweihte zögernd ihre Erkennungszeichen: es waren die verschleppten Schatten unserer Augen und ihr matter und verlöschter Schein. Und wie loderte schon die Luft! Oh welch ein Wellengang! Welcher Sturm inmitten der Stille, die zwischen uns entstand. Ich folgte der Gestalt, die vor mir zurückwich. Sie trat, als hätte ich sie gestoßen, in die Umrahmung einer Türe, die hinter ihr nachgab, und taumelnd trat ich ein.
Dem glücklich Liebenden gleich streifte ich in jener Nacht, hingerissen, berauscht, von tröstlichen Schauern durchrieselt, die Kais entlang. Wie Antäus die Erde, hatte so mein Fuß die belebende Leere berührt? — War’s ein geistiger Aderlaß gewesen? War’s der letzten Hingabe entsetzliche Betäubung oder die eleusische Flut? Und wird sie einmal einer nennen dürfen, die einmaligen Gefilde ohne Wiederkehr und Verbieter des Wortes, die ein Blick zu ihnen ein Wenden des Kopfes nur, zu ewiger Ungewesenheit entstürzen läßt . . . .
Oh Eurydike!
Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, nahm ich das Schiff. Als es in Ouchy anlegte, zog mit einem Male Fortunio an Bord. Wir waren beide nicht wenig erstaunt. Ihn aber schien die Bläue des Tages und das in Verzückung zurücktretende Ufer von sich selbst fortgerissen zu haben, und es war ersichtlich, daß er träumte. Das Leben hielt er dann für schön, besann sich des Augenblickes und der Weltgeschichte, wie auch seines eigenen Erwachens nicht, sondern, ganz Echo, war er gefangen von ein paar Weisen, welche manchen Tages die Natur anhebt, und den verwandelt, der sie hört.
„Lassen Sie sich das Neueste erzählen“, stieß ich ihn an und gab mit allen Details die Mine zum besten, von der ich in Genf hätte auffliegen sollen. Wie ergiebig Graf Carry dabei mit „belegt“ worden war, kam erst später ans Tageslicht. Mit der Warnung an meine Schweizer Freunde nämlich, sich vor einer deutschen Agentin wie mir etwas in acht zu nehmen, erging gleichzeitig eine Meldung an deutsche Instanzen in Bern, Graf Carry wisse so wenig die Würde seines Amtes zu wahren, daß er sich nicht scheue, mit einer französischen Agentin wie mir öffentlich herumzuziehen. Aus dem Mittagessen wurde der Pikanterie halber ein trautes Souper.
„Diese Zeit“, sagte ich zu Fortunio, „hat den Untermenschen doch wirklich den Maibaum ihrer Existenzen gebracht, und es gehört mit zu den läuternden Wirkungen des Krieges, daß ihn die Krapülen überleben. Denn wenn eine, statt als sein Helfershelfer reklamiert zu werden, in die fatale Lage gerät, selbst an den Heldentod glauben zu müssen, so ist das doch ein ganz seltenes Pech.“
Fortunio fuhr mit dem Abendzug nach Bern zurück, und ich blieb in Clarens.
Um Ostern wollte ich Romain Rolland besuchen und sagte mich in Villeneuve an. Allein es war jener Karfreitagmorgen, an welchem eine oberste Heeresleitung, wie um seiner zu höhnen, die Kanonade von Paris nicht unterbrach, eine Kirche während des Kultes einstürzte und die Anwesenden unter sich begrub. Daß mein angekündeter Besuch auf das hin unterblieb, verstand sich von selbst. Für mein Gefühl war dieser Karfreitagsvolltreffer das schwarze Aß, das sich Deutschland selber ausgeworfen hatte. Eine solche Absage an die tragende Idee des Christentums war zu zynisch, um nicht ominös zu sein. Sie war — man verstehe mich recht — wüstester Protestantismus. Luther galt mir nur deshalb als einer der Ahnherren des Krieges, weil sein auftreten das Übergewicht des nördlichen über das westliche und südliche Deutschland anbahnte, und ein kahles, unkünstlerisches, unmusisches und humorloses Element in den Pulsen der Deutschen entsprang: Phantasielosigkeit und Unmusik. Wagt es vielleicht einer, Sebastian Bach einen Protestanten zu nennen? Der Protestantismus stak damals in seinen ersten Anfängen, noch belebt von der Wärme des Stammes, von dem er sich losriß: protestierender Katholizismus. Der wirklich ausgewachsene konsistorialrätliche Protestantismus gedieh erst in den letzten Dezennien zu der vollen Reife und dem gleichzeitigen Marasmus. Die fürchterlichen Lutherschen Kirchen, das toteste an Architektur, was in der Welt zu sehen ist, sind Geist von seinem Geiste. Alle unfrohe Geschmacklosigkeit, den Mangel an Grazie und Liebenswürdigkeit, das Reformkostüm, die Jägerwäsche danken wir ihm. Undenkbar, daß von München aus die Reichsbriefmarke, als die häßlichste der Welt, hinausgeflattert wäre. Nein! fürwahr, diese Germania stieg so recht als die fille ainée der protestantischen Kirche. Sie brachte den unheilbaren Riß, über den keine äußerliche Geeintheit hinweghalf. Denn ihr verdanken wir das verständnislose abrücken von der lateinischen und abendländischen Welt, das ein südliches, fränkisches und westliches Deutschland nie herbeigeführt hätte.
Statt des café du Nord wurde jetzt der Kursaal von Montreux meine Schreibstube. Den Nachmittag beschloß ich mit Vorliebe im kleinen Saal des Konservatoriums, wo ich mit einem russischen Cellisten musizierte. Aber A. H. Pax wollte wieder einen Beitrag. Es gibt heute nur ein Thema, schrieb ich ihm:
Und wir hätten alles von der Methode jener glücklichen Spekulanten zu lernen, welche sich offenkundig als die weitaus schärfsten Psychologen erwiesen, indem sie irgendein Präparat, eine Zahntinktur oder ein Extrakt dadurch zu allgemeinster Geltung verhelfen, daß sie deren Bezeichnungen in grellen Riesenbuchstaben an Mauern, Säulen und Schlöten anschlagen, sich gleichsam an die Fersen des Vorübergehenden heften, selbst auf Bergeshöhen sich zwischen ihn und die Aussicht schieben, ja von Felswänden herab ihm unerwartet Odol! Haarlin! oder Bovril! entgegenschreien.
Wäre heute nicht die Beachtung gewisser Zustände mit einer ebensolchen vorbildlichen Hartnäckigkeit zu erzwingen? Durch ein ungeheures Preisausschreiben etwa, das an alle Maler, der ältesten wie der neuesten Schule, erginge, um auf Bildern und Plakaten, mit beliebigem Raumverbrauch, die Wirklichkeit zu illustrieren, allen Brücken und Wegen entlang sie immerzu neu einer Allgemeinheit zu veranschaulichen, deren geistigen Stumpfsinn nur jene Menschenkenner von Spekulanten voll ergründeten. Daß es keine intellektuelle Notwehr gibt, und daß wir lieber untergehen als daß wir dächten, hielten wir ja nicht für möglich, bevor wir es erlebten. Wie hätte sonst über unsere Köpfe hinweg jene Phalanx der Niedrigen zustande kommen können, die sich heute mit so bewundernswerter Regie über alle Grenzen hin in die Hände arbeiten? Auf uns, die sie gewähren lassen, fällt der Fluch dieser Zeit zurück. Nicht auf die schlechten, deren Tun im Einklang steht mit ihrem Wollen; auf uns, nicht auf die Knechte, welche sich zu unseren Herren machten, sondern auf uns, die wir uns von ihnen knechten ließen. Sollte der Tag hereinbrechen, an dem es zu spät sein wird für unser zusammengehen, so werden wir, die guten Willens sind, als die Schuldigen stehen, weil uns der Mut unseres besseren Wissens gebrach, dem Genius des Krieges die Siegermaske von der gedankenlosen Stirn zu reißen. Ah! wir bedachten nicht den tiefen Sinn jener Sage, welche den Drachentöter die Sprache der Vögel verstehen ließ, als er vom Blut des erlegten Ungeheuers genoß!
Es waren stille Tage. Der Sommer reifte wie eine Frucht. Schon rissen Gewitter den Himmel auf und schlugen die Wellen bis zu den herabhängenden Blüten am Ufer. Und die Nächte verströmten betäubend und lau. Es war ein Wandeln wie im Traum, bedrückend und begeisternd zugleich. Meine Unterredung mit dem Grafen Carry datierte vom 5. Mai. Schon am 17. depeschierte er mir, die Pässe für Frau v. L . . . . und ihre fünf Kinder seien gewährt.
In den Weinbergen surrte das Licht, die goldenen Bienen waren eins mit ihm. Ob man lebte oder gestorben war oder eben geboren wurde, machte keinen Unterschied. Es war zu heiß. Den schönen Damen standen die Koffer gerüstet. Ihre neuesten Kostüme und Kleider, die seidenen Sweater und die Hüte und die Schuhe kannte man jetzt. Es war Zeit, in einem neuen Ort neu darin zu erstehen.
Für den 29. waren in Zürich Busonis Opern unter seiner Leitung angesagt. Dort sollte ich mit Fortunio zusammentreffen, und dann an den Thuner See mit ihm fahren. Aber statt seiner kam ein Brief, und meine Stirne umwölkte sich beim Anblick seiner Adresse: Es war ein Mißgriff und eine Illusion, daß er die Villa des geölten Nibelungen bezog. Kurz herausgesagt, wir beiden konnten einander nicht leiden. Ich grollte ihm nicht, weil er meine Haltung verurteilt und mir versichert hatte, wir seien immer noch zu anständig; sein plötzlicher Radikalismus, vielmehr die Art, wie er sich als unser Leithammel aufwarf, ärgerte mich. Denn er war keiner von den Unseren. Mit Lanze und Speer kam ich ins Spiezer Schloßhotel, ihn zu bekämpfen. Dort warteten A. H. Pax und seine unschätzbare Gattin seit einer Woche meiner. In der Halle stand ein Bechstein, und von Paxens tiefer Loggia aus hatte man den Blick nach Süden über die Alpen und den See. Bei ihnen waltete Überblick, Wissen und Nächstenliebe, dazu ein Aroma von Wiener Kaffee und Gemütlichkeit, die nicht zu überbieten waren.
Die Villa des Geölten lag unter den Tannen in der Tiefe, einen Kilometer entfernt und in wundervoller Lage. Ein kurzer Weg bog vom Gitter bis zum Hause, als wäre er unendlich, ein. Die veredelten Kirschbäume, die ihn beschatteten, bestahl ich, soviel ich konnte. Es verdroß Fortunio, doch ich erklärte, Kirschen nur vom Baume essen zu können, und riß im vorbeigehen immer welche herab. Es waren wirklich Kirschen für Hesperiden. Die unteren Zweige hingen schon leer.
Der geölte Nibelung gehörte dem Geschlecht derer an, die nicht nur geschäftskundig, sondern auch mit regen Sinnen für das Schöne begabt, zu überaus tüchtigen Faktoren berufen, dabei haarscharf an ihre Stelle zu verweisen, ja niederzuhalten sind. Unsachlich, ungedanklich, nur der Witterungen, aber keiner Erkenntnisse fähig, konnte er sich nach innerer Herkunft und Bestimmung höchstens zum Sklavenhalter, niemals zum Herren vermögen. Gütiger Regungen sehr wohl fähig, war der geölte Nibelung infolge seines unbändigen Ehrgeizes der glücklose Knecht, außerstande sich zu bescheiden. Über ihn wölbte sich der freie Himmel nicht unmittelbar, zwischen ihm und dem Äther, den Göttern und der Natur lastete eine trennende Kuppel. Fortunio aber, und wenn er tausendmal zerschellte, war ein Sohn des Lichts. An ihn klammerte sich der Geölte, von trüben Stacheln getrieben, und eiferte um die gleiche Stufe der Leiter mit ihm; von Eifersucht und Zuneigung gleicherweise gequält, suchte er — immer unbewußt — ihn an sich zu reißen oder ihn zu verderben. Seine Gattin liebte es, vierhändig zu spielen, ihr Anschlag war eine Pein, und ich stand sehr bald mit beiden übers Kreuz. So ging ich nicht mehr den kurzen Weg, der zwischen Gitter und Haus ins Unendliche lief, und sah von dieser Stelle aus nicht mehr den Niessen wie eine Riesenpyramide inmitten des fruchtbaren Tales stehen.
Der Himmel freilich kam hier nie zur Ruh, und die Gegend war mehr eine großartige, opernhafte Szenerie, denn eine Landschaft, das Licht ein Beleuchtungsapparat; statt der Spiegelungen hatte man Effekte. Das Schreckhorn leuchtete in der Verkürzung, der See war eine Arie.
„Komm, komme!“ schrieb der Seidenaff aus St. Moritz. „Wer weiß, was mit uns in einem Jahre geschieht.“ Und eines Morgens reiße ich aus, um den Sommer im Engadin zu beschließen.
Mein Weg führt über Bern, und ich mache bei Martin im Walde halt. Er ist schwer niedergedrückt. Das deutsche Verhängnis war für jeden, der außerhalb des Landes wohnte, unaufhaltsam. Ich schreibe eine Depesche unter seinem Diktat und renne damit zum bayrischen Gesandten. Dieser besteht darauf, Martin im Walde selber zu sprechen: ich also mit Windeseile zu ihm zurück und ihn so lange quälend, bis er mir folgt. Aber welch ein Interview! Alle heißen und kalten Wasserhähne sprühten um die Wette, daß es nur so pfiff.
Die Depesche hat er aber abgeschickt, mache ich auf dem Heimweg geltend.
Sie übermittelte jedoch diejenige Brause, die man sich auf Wochen noch verbat.
Fluchtartig verließ ich die Stadt der vergeblichen Zusammenkünfte.
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AUGUST 1918. Man hätte sich auf dem Berge Arrarat glauben können, wären unter den Geretteten nicht so viele gewesen, die mit einem Mühlstein am Halse zu tiefst der angerichteten Sintflut zu liegen verdienten. Diese Menschenmetzger, Gewinnler am Elend der Menschheit und gemästet von ihrem Blut, hier machten sie sich breit und schlemmten.
Gleich bei meiner Ankunft hatte ich den Seidenaffen besucht und war auf der Treppe gestürzt, so daß ich bleiben mußte, wo ich war. Doch inmitten des Geschwirres begann da für mich ein Leben wirklicher Beschaulichkeit. Ich kannte niemanden, mit San Cividales verkehrte ich nur in den oberen Räumen, unten mieden wir uns, denn wir waren ja Feinde. Auf den Stock gestützt, hinkte ich, wenn Sajani mit seiner kleinen Kapelle spielte, zu einem Schreibtisch in der offenen Galerie, die Berge von Pontresina vor Augen, die ekstatisch nach Süden träumten; unten der tiefgrüne Bergsee und der Waldweg seinen Ufern entlang; St. Moritzbad im Rücken, damit ich es nicht zu sehen brauchte.
Es war sehr oft „etwas los“. Alles strömte dann nach derselben Richtung, um sich im Sportkostüm zu treffen, bevor man sich im Abendkleide wieder begegnete. Dann spielte die Kapelle ins Leere, ich aber zog unter den Baldachin, die Tangonoten verschwanden, und wir spielten Trios. Es schlichen immer ein paar unbeschäftigte Kellner herein, und dies Kellnerpublikum war uns ein Sporn.
In der Umwertung der Gesellschaft selbst besteht heute die eigentliche und tiefe Revolution. Ein rein äußerlicher Staat hat merkwürdigerweise aufgehört, elegant zu sein; das Prestige einer Klasse als solcher, mag es noch einmal aufflackern und sich noch eine Weile fortläppern, ist dahin. Diejenige Klasse, die überall am Kriege die unschuldigste war, wird täglich an Interesse gewinnen und ihren Tag erleben. Der Arbeiterstand als Magnet: so schnell reiten die Toten! —
Wie faszinierend war es indes, die Herren von vorgestern zu beobachten, welche wähnten, daß sie es noch seien, und die höchstens noch der Wirt, bei dem sie abstiegen, in dem Glauben erhielt; diese Herren auf Abbruch, die nicht merkten, daß ihre Füße sich schon im Gerölle fingen. Müßigkeit und Unwissenheit hatten ihre Norm so tief herabgedrückt, daß, um ein Beispiel zu geben, edle Musik eine Zumutung für sie gewesen wäre. In der Tat, es lohnte sich, sie zu studieren. Sie machten noch die Gesten der Väter, aber schon war der Pöbel bei ihnen eingebrochen und schuf sich in diesem äußersten Rechteck der Gesellschaft ein Ventil. Nirgends vielleicht hatte sich die Achtung für inneren Wert so sehr verringert und kam innerer Adel so wenig in Betracht. Wie viel ritterlich Gesinnte zählte man unter diesen Kavalieren? Wie viel Strebende? Was die Unbildung, die zunehmende Verrohung dieser Clique betraf, so stand sie den von ihr verhöhnten nouveaux riches, welche Wurstkonserven zu Magnaten erhoben hatten, innerlich schon am nächsten, und es war rührend zu sehen, wie hier die Elite — denn auch die sogenannte Elite hat natürlich ihre Elite, und ich weiß keine liebenswertere — von ihr abrückte und sich ihrer schämte.
Auch den Trost von ein paar wirklich schönen Frauen hatte man hier. Der Seidenaff zwar verzog sich des Abends immer sehr bald. Sah man nach ihr um, war sie wie ein Vogel schon weg.
Aber die leidende Sylvia, schön wie eine gestirnte Nacht, tanzte so gern. Und ob man sich auch sagte, die Melancholie ihres Lächelns, ihres Lachens sei nur Zufall, nur der Form ihrer göttlichen Lippen, dem Licht ihrer Zähne entblüht, sie entzückte darum nicht minder.
Eine andere kam zuweilen von Suvretta herüber, ein Püppchen, so zierlich gebildet, als wäre sie in einer blitzend ausgeschlagenen Nußschale dahergefahren.
Eine vierte war noch da, von der ich noch reden werde. Aber laßt mich bei der gestirnten Nacht noch einmal verweilen. Meistens trat sie erst, nachdem der Tag zu Ende war, scheinbar ausgeruht, in ihrer düsteren Pracht hervor, blieb dann bis zum Hahnenschrei, wie die Braut von Korinth, und hielt ihre Tänzer in Atem.
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ANFANG SEPTEMBER. „Ich hörte lange nichts von euch“, schrieb ich an Fortunio. „Was Sie nur treiben?“
Mein Fuß war endlich hergestellt und einer längeren Fußtour gewachsen. Eines Morgens verließ ich früh das Palace Hotel in Bluse und Rock, einen Sack umgeschnallt, in dem ich eine ganze Reisetasche leerte, und einen eigens dafür erstandenen Strohhut, der so tief hereinfiel, als man wollte. Also ausgerüstet, zog ich nach Maloja, schlug aber bald den Waldweg ein, denn die zahlreich einherrollenden Wagen hüllten die Straße in Staub. Frech auf den Polstern ausgebreitet, mit befriedigten Mundwinkeln, fuhr ein Schieber nach dem andern froh zu Tale, oder dem Julier entgegen; ein feister und wohlgemuter Korso: der Krieg durfte noch dauern.
Am andern Ufer der Seen jedoch wand sich ein stiller Weg um jede Bucht, nimmermüde, sie zu umschreiben, leis umplätschert, geduldig und verliebt.
Ich riß den Hut vom Kopfe, steckte ihn in den Sack, und ließ die Stirne frei von den Gletscherwinden umwehen. Es war so schön, wieder schnellen und gesunden Fußes durch die Wälder zu gehen, die bis in ihren tiefsten Schatten von Licht und Hitze durchhaucht, statt des Staubes einen Geschmack von Harz und Erdbeeren auf die Zunge trieben. Ganz plötzlich wurde es kalt. Hoch am Himmel hielten die Wolken Rat, ob sie sich zusammenballen und den Herbst eröffnen sollten. Dann zerstreuten sie sich wieder und ließen die Sonne durch. Aber es war ganz deutlich, daß sie sich nur vertagten.
Spät am Nachmittag saß ich in der berühmten Konditorei von Sils Maria, als ein Wagen vorfuhr, dem die vierte Schöne des Palace Hotels in Begleitung ihres Liebhabers entstieg. Es war die notorische liaison des diesjährigen Sommers. Er, so stolz auf seine Figur, daß er Modell stand, sowie man nur hinsah, aber dabei das Entzücken seines Schneiders mit dem des Malers verwechselte; die Stirn niedrig und leer, wie die eines Stallbediensteten, und einen der Anlage nach gewiß nicht groben, aber schon stark vergröberten Kopf. Bald, sehr bald würde von dem ganzen Zauber nur noch die Hengstallüre übrigbleiben.
Die Schöne hatte am nächsten Tische Platz genommen, so daß ich ihre kühle und strahlende Erscheinung mit Muße betrachten konnte. Der Schmelz, die Zeichnung der Brauen und des Ovals, die Augen, wie große, kostbare Edelsteine eingesetzt, waren die eines vollendeten Renaissancegesichtes. Man konnte sich kein typischeres denken. Ihr Lächeln beunruhigte. Und doch war sie so jung! Jugend hielt noch, wie die Staubfäden einer Blüte, Fesseln und Gelenke zusammen. Sie hatte sich erst ihres Schleiers entledigt, nun folgte der Hut. Sie legte ihn neben sich hin. Ihr Haar, mit unerhört raffinierter Schlichtheit getragen, umschmeichelte nur die Schläfen mit seinem Gold und ließ die Stirne frei, jetzt wandte sie den Kopf. Da aber kam ein platter Hinterkopf zum Vorschein, der Kopf der Viper, da woben schon unendlich leise Fäden an ihrer künftigen Häßlichkeit, und da kündete sich von fern der nach außen gerichtete, erinnerungslose Blick der Vierzigerin, ohne Rückwärtsschauen . . . Lange blieben die beiden nicht, stand doch die lange Fahrt noch aus, und mußte sie doch ruhen, bevor sie sich langsam wieder schmückte zum spätesten aller Diners. Nicht nur mit ihren Abendkleidern, auch durch spätes Erscheinen wetteiferten nämlich die Damen im Palace. Konnte auf der Welt etwas ordinäreres sein, als schon um neun zu Nacht zu essen? Und war dies nicht der Gipfel?
Ihr Geliebter legte ihr jetzt den Umhang über, mit jener tiefen Ehrerbietung, die ein solcher Mann einer solchen Dame gegenüber, die solche Perlen mit in die liaison brachte, empfinden mußte. Auf seine Hand gestützt und von den Kindern des Dorfes umstaunt, schwang sie sich auf das Gefährt und griff in die Zügel.
War es Einbildung? Hatte der Jammer des Krieges meine Augen geschärft? In dieser zarten und köstlichen Gestalt hatte ich deutlich den Brustkasten der Kindsmißhandlerin gesehen. Welch ein Scheinleben kutschierte da dahin? Das leichte Getrapp ihrer Pferde, dann das Echo ihres Getrappes hallte noch lange von den Felsen herüber.
Was war es, das mich so feierlich stimmte?
In den Gasthäusern und Hotels ging jetzt überall ein Klappern von Tellern und Bestecken los. Es wurde geläutet und gegongt, und wer nicht im Restaurant aß, der mußte sich bescheiden, vorgekochtes der Reihe nach zu essen; ein Zwang wie ein anderer. Da war es schöner, noch etwas zu streunen.
Ein ungewöhnlich starker Mond stand in seiner ganzen Fülle; es wuchsen die Berge unter seinem Hauch, das Dorf erblaßte wunderbar, eine graue Bank ward ganz sie selbst. Die Funksprüche der sich bereitenden Nacht liefen wie toll alle Täler entlang, und schon waren alle Täler berauscht. Auf dem Platze hielt ein Gespann, die Gäule hielten die Köpfe gesenkt, als ob sie träumten. Ich lief hinzu. Es war die Post, die nach Maloja fuhr. Es gab noch einen Platz. Ich sprang hinein. Die Pferde zogen an. Bevor wir noch das Ufer erreichten, stieg ein Reisender aus. Außer mir blieb nur ein Liebespaar, das sich an den Händen hielt. Es war sich Mondschein genug.
Den Kopf hinausgestreckt, trank ich diese Nacht, und hatte sie für mich allein. Nichts war mehr, wie es war. Der See lag im Silberschleier regungslos wie eine Tote, und der Mond goß Myrthensträuße über sie herab. Nur das Gras des Ufers erhob sich in gespenstiger Lebendigkeit. Sicher war es nur ein Spiel der Luft, daß die Berge hier zerfielen. Blöcke sich lösten, als sei die Welt zu Ende; Felsensäle bauten sich in die Klüfte ein, Riesengemächer warfen sich dazwischen. Es konnte nicht sein, und so sah die Welt nicht aus. Auch die Liebesleute waren anders wie zuvor. Dieser edle Pensieroso stieg als ein unscheinbarer Tourist in Sils Maria ein, und sie hatte weder dieses Haar, noch diese Lippen gehabt. Morgen würde hier die Sonne auf ödes Schilf vielleicht hinbrüten und das Paar nicht zu erkennen sein.
Als um ein Uhr morgens der Wagen mitten in Maloja hielt, stieg es wortlos aus. Ich hatte kein Quartier bestellt und kam nicht unter. Außerhalb des Ortes lag noch ein Hotel. So marschierte ich jetzt allein die taghelle Straße weiter, geradeswegs auf einen neuen Absturz zu. Dort stand das Haus. Ein junges und verschlafenes Mädchen führte mich über manche Treppe hinauf: zufällig stünde das einzige Zimmer frei, das für Gäste reserviert blieb. Alle andern hielt während des Krieges die Militärbehörde in Beschlag. Die nächste Poststation sei italienisch.
Sie reichte mir eine Petroleumlampe und verschwand. Die Stube hatte zwei Fenster und war schneeweiß. Ich warf den Kopf weit auf die mondbeschienenen Kissen zurück. So angelangt!
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Aber nicht lange, und der einsetzende Kampf zwischen dieser Mondnacht und der Dämmerung weckte mich aus dem Schlaf, Nebel mischten sich hinein und wollten alles für sich. Endlich ragten Tannenspitzen ins Leere; der Absturz war kein olympischer; eine Straße schwang sich, breite Kurven nehmend, in die Tiefe.
Gedulde dich, Leser, auch dies Buch geht jäh zu Ende. Folge mir noch. Hoch steht schon die Sonne über das Bergland, ein anderes freilich als der vergangenen Nacht. Von ihrem Spiel erholt, verströmt der See sein Blau, nach allen Seiten, ganz verbuhlt. Myrthensträuße und Schleier sind vergessen und hängen als weiße Fäden im Gesträuch.
Wie seltsam ist die innere Stimme in uns! Welcher Stachel hatte mich zu dem hart an der Schwelle des aufgerissenen Gebirges und kaum, daß es tagte, hinauf, hinab und wieder emporgetrieben, wo sich zu höchst der Wälder und noch in ihrer Mitte der See entzieht, verborgener Tränen zerflossener Kristall, ohne Kahn und ohne Erdenstaub; und dann wieder zurück in die Gaststube, um zu zahlen, und dann wieder aufzubrechen, mit der umgehängten Tasche und dem lächerlichen Hut, an der Waldseite des Sees den Weg einzuschlagen, den ich jetzt lief. Es war ein Notbehelf! Ich lief, um nicht zu tanzen. Denn ich war inmitten eines Festes. Umgeben und geborgen, als sollte die Gehobenheit nicht wieder von mir weichen, erreichte ich ein Dorf, das als Landzunge weit in den See hinausstieß und jenseits der Zeiten zu liegen schien. Eine alte Frau saß auf einer Bank vor ihrem Hause, und ich bat sie, mich drinnen ausruhen zu dürfen. Wir verstanden einander nicht, aber die Müdigkeit spricht ihre eigene Sprache zwischen Frauen. In einer Stube des Erdgeschosses, die durch ihre edle Sauberkeit den Eindruck des Luxus erweckte, stand eine schmale, gepolsterte Bank. Dort schlief ich auf der Stelle ein.
Als ich erwachte, war der Tag noch hell, aber schon gebräunt vom Golde des Abends, und ich mußte eilen, um vor Anbruch der Dunkelheit in Sils zu sein. Auch für mein Herz ging jetzt die Sonne unter, und das Fest verklang. Von den Strapazen ausgeruht, war es zugleich, als sei mir durch den kräftigenden Schlaf, wie ein Alltagszwilch, ein gröberes Ich übergeworfen als das, welches seit gestern das meine gewesen war. Ob wohl mein Koffer eingetroffen sei, wo meine Brotkarte stecken konnte, wo ich absteigen sollte, derartiges beschäftigte mich wieder. Aber ich spreche von verloschenen Kronleuchtern, oh Leser, und du weißt noch nicht, warum sie brannten?
Aber vielleicht hast du erfahren, daß es Träume gibt, deren Nachhall, statt zu verklingen, sich bleibend, wie ein Echo zwischen Klüften, in unserem Innern fängt. — Solcher Art war der durchdringende Ton der Mondnacht in Maloja.
Es ist nicht gleich und nicht vergänglich, wie sich die Kurve eines Fußes, der Umriß einer Schulter anläßt, wie ein Knie sich rundet, wie eine Hüfte fällt. Es ist das Flüchtigste nicht gleich. Und ganz und gar nicht gleich, noch zufällig ist es, welchen Ganges wir den Hügel abwärtsgehen. Hochzeitlich können solche bald versenkten Dinge unverloren weiterschwingen.
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Die Wolkenversammlung war noch immer nicht anberaumt; vielmehr vertiefte sich am nächsten Tage das weiß des Himmels und musizierte mit dem Himmelsblau über das Fextal, das bewegteste der Erde, auf und nieder schwingend wie eine Schaukel. Ragte, von unten gesehen, ein Kirchlein zu oberster Schneide für sich allein, so stand es, war man oben, ganz unsensationell in einem Wiesenviereck, und sein rostiges Gitter knarrte im Winde, und nur die Berge rückten verändert und entschlossener zusammen. Wieder in der Tiefe und weit hinausgeschoben, richtete ein Gasthaus seine Glasveranda dem Gletscher entgegen. Auf ihn ging ich jetzt zu. Doch mit dem Lichte wandelte sich mein Gemüt. Es brütete milchweiß von einem hohen, aber sich überziehenden Himmel. Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen her. Darin saßen zwei Herren, die angeregt mit einer noch jungen Dame plauderten. Aber der Weg hörte bald auf, fahrbar zu sein, und ich verlor sie aus den Augen, graugrünes Nadelgehölz war um mich her und der entfärbte Fluß zu meinen Füßen. Stolperte ich jetzt und stürzte ich hinab, wer würde mich vermissen? In welchem Hause entstand eine Lücke, wenn ich nicht wiederkam?
Kein Dach, kein Herd, kein Wesen; überall zu Gaste! keinem Menschen ungeteilt und wirklich zugehörig; als immer wiederkehrenden Gefährten die entsetzliche, gefürchtete Melancholie, die ich so feige, so vergeblich floh. Nun stellte sie mich angesichts dieses Tales der Verlassenheit. Wozu bist du hier? herrschte mich seine Stille an.
Der sonnenlose Himmel über dem Nadelgehölz, mehr noch der Fluß, dem Gletscher hier entlassen, und seinen Lauf so blaß beginnend, griff ans Herz.
Plötzlich stand die noch junge Dame vor mir und sprach mich bei meinem Namen an. Nun war stets meine erste Sorge, daß er in keine Hotelliste kam. „Woher wissen Sie, wie ich heiße?“ fragte ich und wollte die Spröde spielen; aber da gab sie mir zu wissen, daß sie meine Bücher kenne. Sie lebte in Genf und war Amerikanerin. Wir wechselten einige Worte, dann stieg sie wieder hinab. Gleich darauf rollte das Wägelchen mühsam aufwärts, in dem die noch junge Dame mit ihren Freunden plauderte. Gewiß — man sah es ihr an — standen, wenn sie nach Hause kam, ihre Abendschuhe bereit, und ein freundliches, ihr ergebenes Zöfchen half ihr, sie anzulegen. Wie verwahrlost ich war!
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Als ich am Morgen darauf erwachte, lag weithin Schnee. Ich klingelte entsetzt. Der erste Postwagen brachte mich ans andere Ende des Tales, zum Zuge, und schnell in eine vom Winter noch nicht heimgesuchte Welt hinab, wo Zürich einer entbrannten Ebene zulief, die von der Glut des Sommers weiterträumte. Hier reißt der See ein weites Fenster nach dem Himmel auf: es ist die hellste Stadt der Welt.
Aber von hier aus jagte mich eine dringende Depesche Fortunios fort, der mich bat, sofort nach Spiez zu kommen, mit dem Zusatz: „Besitzer auf zwei Tage verreist.“
So war ich abends unterwegs zur Villa des Geölten, die ich nicht wieder zu betreten glaubte. Da war das Gitter, der Kiesweg, der sich so schnell verlor. Man sah das Haus erst, wenn man davor stand.
Fortunio aber war schwer krank. Verfallen, zerfurcht, zerwühlt. Wir aßen im Schloßhotel zur Nacht und besprachen die Abreise für den morgigen Tag. Ich fühlte meine Arme erstarken, in dem Wunsch, ihm zu helfen, und unser schier geisterhaft geschwisterlicher Bund war durch die Trennung neu erhellt. Am nächsten Tage aber lag er zerrüttet, ohne Energie.
„Morgen, morgen“, sagte er. Ich reiste ab, nach Bern, Fortunia zu alarmieren. Ihr Gesicht erinnerte an ein von schwerem Regen heimgesuchtes Land. Ohne Schonung schilderte ich seinen Zustand und ließ dann die Sache bei ihr. Um nicht in Bern zu bleiben, fuhr ich abends nach Montreux.
Nur lachenden Auges werden hier die Zeitungen gekauft. Der Belgier und sein Kind waren ohne Schadenfreude. Die Filme arbeiten schon stark mit elsässischen Hauben. Sie werden lebhaft beklatscht, in der Voraussetzung, daß sie nicht mehr lange deutsch bleiben. Schließlich ein begreiflicher Jubel. Entsetzlich ist nur der Applaus, als englische Munitionskammern aufziehen, emsig mit Granatendrehen beschäftigte Frauen und Geschosse in unabsehbaren Reihen. „Gehen wir!“ rufe ich, und wir verlassen das Haus. Süß schlagen die Wellen ans Land. Die Berge des andern Ufers erheben sich unmittelbar, als gründeten sie in den Tiefen des Sees. Sie sind kahl und scheinen dennoch weich, selbst im Dunkel der Nacht; wie Gesänge abgestuft, steigen und fallen und treten zurück und verhallen die Berge Savoyens.
5. OKTOBER. Glasenfrosts in Villeneuve geben mir die Nachricht, daß Deutschland um einen Waffenstillstand nachgekommen ist: Mein einziger Wunsch ist, es möge die Welt, die es als Sieger verloren hatte, als Besiegter wieder für sich gewinnen. Die In-die-Knie-Zwinger Britanniens, die ohne Briey nicht leben konnten, sind mit einem Male still.
Fortunios sind angekommen, sie wohnen in Vevey, und er erholt sich. Zum ersten Male bildete sich unser Zusammensein als heller Punkt und geordnete Fläche heraus. Augenmerk und Sorge sind durch die Ereignisse zu sehr in Anspruch genommen, um uns bewußt zu werden, wie sehr es einem bekränzten Floß inmitten schwarzer und gestoßener Fluten glich; Und wie hätten wir da anders als in der Erinnerung wahrgenommen, daß wir schöne Tage verlebten?
A. H. Pax ist aus Bern gekommen. Der Belgier und sein Kind finden sich regelmäßig ein.
Dabei wütete die Grippe. Viele Särge harrten der Bestellung. In den Blumenläden häuften sich die Kränze, Halbgenesene, in tiefer Trauer, traten leichenblaß das erstemal vors Haus.
Doch die Zärtlichkeit des Herbstes, seine Zärtlichkeit und sein Verweilen, seine Glorie ward unendlich.
Eines Nachmittags strichen wir in den Höhen des Weinberges entlang. Unter einem silbern aufgerollten Himmel dehnte sich der See, schimmernd, unbewegt, ein wenig müde . . .
Plötzlich, mit einem Ruck, fuhr der Wind weit und durchdringend auf, als stöhne er die ganze Erdkugel entlang das Ende der schönen Jahreszeit hinaus.
Im Nu schlugen die Wolken über die Sonne hin. Fortunio hatte den Kragen aufgesteckt, sein Hut rollte den Berg hinab. Wir lachten. Doch der Weg war weit. Schon wußte der See nichts mehr von seinen Ufern. Unter Nebelschauern waren alle Berge, ja wir selbst, unsichtbar.
Am nächsten Morgen war für jedes Kind ersichtlich, daß Fortunio die Grippe hatte, aber wir taten nicht dergleichen. Statt im freien, versammelten wir uns an seinem Lager. Man hielt es in jenen Tagen allein nicht aus. Bang und fröstelnd rückte man zusammen. Denn auf dem Streitroß, dessen Nüstern von Hoffart, Haß und Vergeltung sprühten, und wie ein Sturmgott kam ja der Friede heran. Wehe, es war jener Gewaltfriede, jener Macht- und Siegfriede, von dem in Deutschland so viel geredet worden war, und den abwehren zu wollen, den zu fürchten, als ein Verbrechen galt.
Und indessen lösten sich in unserer kleinen Gruppe hineingetragene Dissonanzen weiter aus, und statt der chronischen Trübungen stimmten sich ganz ohne unser Zutun unsere Gemüter wie Instrumente zu täglicher, reinerer Melodie. Fortunias Gesicht glättete sich und erlangte seine Pinturichiotöne wieder, und während der Aufruhr stieg, bildeten wir eine uns selbst unvergeßlich gewordene Insel des Friedens.
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Als sich die Sonne nach einer Regenwoche wieder zeigte, war die Welt eine andere. Das Renommierboot mit seinem rostbraunen Segel zog wieder auf, aber es blähte sich über ein gesteiftes und gepeitschtes Blau; die weißgeharnischten Berge waren näher gerückt, und wo das Laub noch grün geblieben war, hatte es ausgeträumt, hing ohne Illusion, des Todes gewärtig, und daß es fallen würde. Im Hotel spielte die Heizung, und ein von sich überzeugtes Ehepaar: le Vicomte Edmond de la Province, einem Roman von Claude de Bernard entlaufen: Madame korrekt bis ins Grab hinter der vorangetragenen Corsage, Monsieur im Bart, Schloßbesitzer, zogen schweigend über Flur und Treppe, und faszinierten durch ihre abgründige Zurückgebliebenheit.
Unsere Gruppe indessen hatte sich verkleinert. Erst war der Belgier und dann sein Kind erkrankt. A. H. Pax saß wieder in der Choisystraße. Das alte Deutschland stürzte wie eine Kulisse zusammen, und Trümmer waren fürs erste der einzige Ausblick. Fortunio, von Ungeduld verzehrt, erklärte aufstehen und nach Berlin reisen zu wollen. Fortunia fuhr nach Bern, das Haus für die Abwesenheit zu bestellen, und ich folgte mit ihm den Morgen darauf. Wir saßen einander im Zuge gegenüber, sein Husten war ein Gebell. Am selben Nachmittage brachten wir Fortunios mit Pax an der Spitze, zur Bahn und ließen sie, wie Flammen über das Moor, ins Weglose ziehen. Denn schon fluteten die aufgelösten Heere in unbeschreiblicher Verwirrung aus den besetzten Gebieten ins Land zurück. Die Lauben hinabsehend, unschlüssig wo ich absteigen sollte, versagten mir plötzlich die Knie, Fröste wie graue Blitze durchfuhren mich, und mein Husten war ein Gebell. Diese nicht zu verkennenden Symptome jagten mich wieder an die Station, um mit dem letzten Zuge nach Montreux zurückzufahren. Denn lieber, als angesichts des Gurten wollte ich dort erkranken, wo im Hotel Suisse als chefesse de réception eine so angenehme Erscheinung waltete, und ich den Nachtportier zum Freund besaß, ein komischer, alter Schwabe, den ich deutsch ansprach, sowie der Lift ohne Insassen und in der Schwebe war.
Nun war es Sonntag. Das heiße Wasser also lief. Vielleicht vertrieb mir eine heiße Dusche den Frost. Aber das Wasser war schon lau. Dafür gerieten die grauen Zickzackblitze in Brand und drückten mir eine Feuermütze ins Genick. Da ließ ich mich denn grippekrank melden und stellte anheim, mich aus dem Hause zu schaffen. Aber die angenehme Erscheinung aus dem Bureau kam herauf, mich zu beruhigen. Dann äußerte sie einige unverständliche Dinge und verschwand. Bald darauf trat ein Mann herein, den ich für einen Raubmörder hielt, gefolgt von einem fürchterlichen und handfesten Weib ohne Kopf, seiner Helfershelferin. Ich wollte rufen, da hatten sie mich schon gepackt. Jetzt, dachte ich, ist doch alles eins.
Eine Stunde später lag ich mit aufgerissenem Rücken, geschröpft wie ein Hengst. Ich erzähle dies nur, weil ich dank dieser so immediaten und buchstäblichen Roßkur schon nach zehn Tagen, statt vielleicht nach Wochen, die Grippe spurlos überwand.
Mittlerweile erdröhnte dem so glücklich gewesenen Deutschland die im Lauf seiner Geschichte noch immer zurückgekehrte Stunde seines Unheils. Es war der eine Gedanke meiner leeren Tage und langen Nächte; ihn auszuschlagen war unmöglich.
Im ersten Stadium meines Fiebers fiel mir an dem Stubenmädchen, das hin und wieder in mein Zimmer trat, nichts bemerkenswertes auf, als daß sie mir sehr einsilbig und nicht freundlich vorkam. Pech! dachte ich.
Am dritten Morgen aber, als sie das Zimmer räumte, folgte ich ihr mit den Augen, während sie wähnte, daß ich schlief, und das Herz stand mir still. Hermione! wollte ich rufen. Nein, Andromache im Palast des Priamus, ob ihrer Anmut erstaunt, und der leichteste aller Tanagra zugleich! So stand sie, den Besen führend, in der Mitte des Zimmers. War ich im Delirium gelegen, daß ich sie nicht gesehen hatte? Sie kam auf mich zu: „êtes-vous plus mal?“ Aber ich wehrte ihr mit beiden Händen ab. „Cela m’est égal“, sagte sie, „de prendre la grippe.“ Was war melodischer, dieser Mund, diese Lippen oder diese Stimme? — Und ein solches Geschöpf umgab mich mit ihrer Pflege. Welch unerhörter Luxus! Die Sonne ging vor meinem Fenster auf, alles Leben im Geleite, und lachte des Todes bis zum Mittag. Pauline Glasenfrost kam täglich aus Villeneuve, brachte die Zeitungen, beschenkte mich und spottete der Ansteckung. Knirschend las ich alle Noten und Appelle an die Großmut der Sieger. Welche Verkennung der Situation! Aber was bedeutete dieses Versagen angesichts der Würde, welche ein solches Unglück gab? Und wiederum würden nur die Unschuldigen leiden. Die Taktik der Sieger würde es den Schuldigen ermöglichen, sich herauszureden. Schon damals sah man es kommen. — Ich läutete und bat Hermione, mir von sich zu erzählen. Sie stammte aus dem Wadtlande. Ihre Heimat lag hoch über den Weinbergen und hatte die Gletscher im Auge. Ich bat sie, einen hellen Mantel von mir anzulegen. Wie er ihr stand!
8. NOVEMBER. Bevor mein Freund, der Nachtportier, zur Ruhe ging, brachte er noch die erste Post. An diesem Morgen trat er ein, reichte mir ein Extrablatt und verkündete lakonisch: „In Bayern ist Republik.“ Mein erstes Gefühl war kein gelinder Schrecken. „Es mußte kommen“, sagte ich dann. Der Portier war Demokrat. „’s isch recht. Runter mit dem Zeug“, sagte er und ging. — So war also Bayern Republik. Das Extrablatt war nur ein kurzer Wisch; eins aber wußte man sofort: daß dieser so wenig ästhetische König nie wiederkehren würde. Die Wittelsbacher waren stets Liebhaber des Schönen gewesen, und in ihrer natürlichen Diskretion eines der sympathischsten Fürstenhäuser der Welt. Daß er aber auch nicht eine einzige ihrer typischen Eigenschaften besaß, sondern durch eine sture Haltung während des Krieges, sowohl in der elsaß-lothringischen, wie in allen politischen Fragen statt vermittelnd zu wirken, überall nur Unheil anrichtete, flößte die geradezu unwiderstehliche Abneigung für ihn ein.
Plötzlich blieben Briefe und Zeitungen ganz aus, und die Spannung wurde unerträglich. Es wehte eine scharfe Bise, doch ich fuhr nach Villeneuve. Vielleicht hatten Glasenfrosts etwas gehört. Sie waren von den rührend beseelten Manifesten Eisners sehr eingenommen, und wirklich hatte man in diesen Tagen die Illusion, am Anfange einer besseren Zeit zu stehen, ob es sich auch nur um eine einzige, schnell aufgehaltene Stunde handeln sollte. Und nicht einmal ihr ließ man Zeit. „Man verlange von uns nicht,“ beeilte sich die die Politik Clemenceaus vertretende Freie Zeitung zu schreiben, „daß wir uns mit dieser Sache da, genannt deutsche Revolution, ernstlich befassen.“ Und man eiferte um die Wette, sie zu „dieser Sache da“ zu machen. Sie hatte es schwer, alle Konjunkturen dafür um so leichter. Schon war sie wie eine Decke, um deren Enden sich die Schuldigen, die Unlauteren, die Banditen rissen, und alle Karrierejäger gerieten wieder ins Laufen. Wer hätte gedacht, daß alle die dienstbeflissenen jungen Herren, die mit umgeschnallter Seitentasche so flink und so stramm ins Hauptquartier Meldungen überbrachten und entgegennahmen, überglücklich, bis zu Ludendorff in Person vordringen zu dürfen, daß sie im Grunde ihres Herzens solche Feinde des Systems und so demokratisch waren? Nie sah die Welt ein vom alten Regime so gut besuchtes nouveau régime!
Suchte man im eigenen Garten das scheue Pflänzchen, das mitten im Sturme Morgenluft witterte, von allen Seiten an beliebige Stakete zu biegen, und sah es das Ausland mit begreiflichem Mißtrauen keimen, so erfuhr man in der Schweiz infolge des gerade in diesen Tagen einsetzenden Generalstreikes überhaupt nichts davon: er stand allein im Vordergrund und beschäftigte alle Gemüter. So wurde hier, gerade in ihrer kurzen Glanzzeit, die deutsche Revolution unterschlagen.
In jenen aufregenden Wochen kam ich wieder mit Romain Rolland zusammen. Mehr als je zeigte er sich jetzt als der Mann ohne Illusion, was Wilson, ob er auch dessen guten Willen nicht in Frage stellte, und was die Entwicklung der Dinge betraf. Ich fand ihn viel zu skeptisch.
Im selben Hotel, wie Glasenfrosts und Rolland, wohnte auch eine Schweizer Familie, die sich sehr für ihn interessierte, durch seine große Zurückhaltung aber in Schach gehalten fühlte. Eines Mittags, da ich bei ihr zu Gaste war, bat ich ihn, ein übriges zu tun, und sich zu uns zu gesellen.
Ich sehe ihn so deutlich vor mir, wie er an jenem Tage, seine alte Mutter am Arme führend, in seiner ruhigen und ein wenig geheimnisvollen Art zu uns stieß. Das Gespräch drehte sich natürlich um den Generalstreik und dann um den Bolschewismus; für die Westschweiz hätte man zum Glück ein treffendes Agitationsmittel gegen ihn, da er deutscher Import sei. Rolland schwieg.
„Der hat der Welt gerade noch gefehlt“, sagte ich, und sah einladend zu ihm hinüber, damit er sich äußere. Vergebens. Er erwiderte nur auf direkte Anfragen und ohne eine Meinung abzugeben. So sprachen halt in Gottes Namen nur wir. Ich ging dann zu Glasenfrosts hinüber und schilderte das mißglückte Beisammensein, bei dem ich zuletzt als verzweifelte Wortführerin die Grippe, die Witterung und endlich die Tatsache erörtert hatte, daß jede Stadt, ja jeder Ort ein anderes Modell für seine Leichenwagen besäße. Aber auch diese originelle Wendung fiel unter den Tisch.
Es hatten Regenschauer eingesetzt, und Glasenfrosts hielten mich noch eine Weile zurück. Wir waren uns in diesen Tagen noch sehr einig, und er hielt sich bereit, nach München zu fahren und Eisner bei Seite zu stehen. Vielleicht hatte doch die Geburtsstunde des tausendjährigen Reiches geschlagen, und die Gefallenen waren nicht umsonst an seiner Schwelle geblieben. Waren sie nicht schon ein einziges Heer?
Aber Rollands rätselhafte Haltung ließ mir keine Ruh, und als ich endlich aufbrach und die langen, klosterähnlichen Gänge des Hotels entlangging, machte ich plötzlich kehrt und klopfte, ohne mich zu besinnen, an seine Türe. Es war ein kleines Durchgangszimmer, mit einem bescheidenen Pianino, auf dem sich Musikalien häuften. Rolland stand in Hut und Mantel, im Begriffe auszugehen, und sah mich erstaunt an. „Es tut mir sehr leid,“ sagte ich, „Sie so zu überfallen. Aber ich möchte wissen, was Sie eigentlich denken. Sie schweigen sich aus, Sie lächeln ein wenig hämisch, und das ist alles. Wer soll da klug daraus werden? — Ich frage Sie nicht aus Neugier.“
Rolland legte seinen Hut auf das Klavier.
„Sie sind so ahnungslos,“ sagte er, „Sie wissen so wenig, was sich bereitet.“
„Aber doch nicht der Bolschewismus“, rief ich. „Das ist doch nicht Ihr Ernst! Und Sie sind doch kein Bolschewik.“
„Nein,“ sagte er, „aber ich habe nicht Ihre summarische Auffassung des Problems.“
„Das neuerwachte Deutschland“, sagte ich, „wird die Welt davor retten.“
Rollands Züge nahmen einen müden Ausdruck an.
„Ich bin voll guten Mutes“, fuhr ich fort. „Haben Sie die letzten Aufrufe gelesen? Diese Absage an jegliche Gewalt? Eine neue Ära hat ihren Anfang genommen. Wir haben unseren Militarismus zum Teufel gejagt. Endlich schlägt die Stunde, wo man sich angesichts eines wahren, befreiten und sympathischen Deutschlands auch seiner unsäglichen Leiden entsinnen wird.“
„Kommen Sie,“ lächelte Rolland, „welches Interesse haben heute die Sieger an einem sympathischen Deutschland?“
„Aber nicht nur die Sieger“, versicherte ich. „Die ganze Welt hat ein Interesse daran, daß die deutsche Revolution aus den Verirrungen der französischen wie der russischen lerne und endlich jene vorbildliche und maßvolle sei, welche die Menschheit ihrem Glücke näherbringt. Und alle Anzeichen sprechen dafür: Hören Sie doch, mit welch reinen Glockentönen sie sich kündet. Oh sie wird schön!“ Rolland lächelte nicht mehr. „Sie wird furchtbar!“ sagte er. „Morgen schon wird Eisner sich überrannt sehen und seine Gegner zu beiden Seiten haben. Der Bolschewismus ist in Rußland nicht nur durch die Stoßkraft der Linken, sondern mehr noch durch den Gegendruck der Rechten das geworden, was er heute ist. Man kann die Deutschen nicht genug verwarnen. Wenn auch bei ihnen die Reaktion eine Bewegung zu unterdrücken unternimmt, die wie ein ausgetretener Strom heranbricht, so werden sie ganz ähnliche Zustände herbeiführen. Es ist absurd, seiner elementaren Gewalt morsche Dämme entgegenzustellen, statt sich seinem Lauf anzupassen, und was er lebendiges heranträgt, zu vertreten. Unsere Gesellschaft hat ihre Berechtigung gehabt, aber sie hat versagt, und ihre Zeit ist um. Mögen wir es noch so sehr bedauern, mag viel Schönes mit ihr untergehen, die Reihe ist nicht mehr an uns, sondern an den anderen. Nichts kann diese Tatsache aus der Welt schaffen. Wir müssen uns zu ihr stellen.“
„Sollen wir denn alle Holzhacker werden?“ fragte ich betreten.
„Der Typ des Literaten,“ entgegnete Rolland, „dem wir seit einigen Dezennien so vielfach begegnen, wird jedenfalls verschwinden, und ich weine ihm nicht nach. Ein Gespräch mit nach Bildung strebenden Handwerkern ist mir heute schon viel genußreicher und interessanter. Was der Literat mir sagen wird, weiß ich von vornherein.“
„Mein Gott,“ seufzte ich, „es pflegen nicht einmal die Könige freiwillig abzutreten, viel weniger ganze Kasten. Sie werden den Kampf aufnehmen und uns eine blutige Morgenröte bescheren. Was ist zu hoffen?“
„Nichts für die Gegenwart, sie ist zu korrupt“, sagte er. „Aber alles für die Zukunft. Ich bin kein Pessimist.“
Rollands Worte, die ich auf dem Heimweg überdachte, waren viel reichhaltiger und prägnanter, als ich sie hier aus dem Gedächtnis wiedergebe. Wenn aber eine neue Klasse zur Herrschaft gelangte, würde sie weniger versagen, als alle anderen, und war anzunehmen, daß ohne furchtbare Erschütterungen die frühere Gewalt sich von der neuen aus dem Sattel heben ließe und etwa mit Rolland eingestehen würde, „ihre Zeit sei um?“
Meine Eindrücke von St. Moritz schwebten mir vor, und ich dachte an Hermione, wie edel sie war. Aber war nicht alles erlesene prozentual? Was also stand von den Massen zu gewärtigen? Die Macht selbst mußte abwirtschaften und sich auf neuer Basis konsolidieren. War nicht allem Anschein nach die Ära der schlechten Päpste geschlossen, weil sie verhältnismäßig machtlos geworden waren? Anderseits hätte der Papst die Rolle Wilsons mit mehr Glück, mehr Einblick in die europäischen Verhältnisse übernehmen können, wäre er so mächtig gewesen wie er. Macht also war und blieb die Losung. Eine Macht jedoch, die keine Lockung dem Gemeinen böte, ganz auf Erprobung ihrer Träger begründet, ohne Vorteile für ihn, ohne Befriedigung des Ehrgeizes, anonym vielmehr, Verzicht und Selbstentäußerung bedingend, als Stein des Weisen der Weise selbst. Oh Zarastro, Herr der weltabgewandten, namenlosen Gewalt!
Schwer und langwierig, immer wieder aufgehalten und die Anspannung von Generationen erfordernd, aber nicht unmöglicher als die endlich geglückte Beherrschung der Luft, wäre die gleichsam auf immer luftigeren Pfeilern emporgehobene, in sich selbst beruhende Macht.
Ich ging, vom Winde förmlich vorangetragen, den Weg nach Montreux. Die Wellen zogen in finsteren Reihen zum Angriff, und war dort nicht die Weide von Territet, sie, die im Frühling in den Schleiern ihres jungen Grüns vor Entzücken über sich selbst zerfloß? Nun aber schlug der See mit großem Getöse bis zu ihnen auf, die müde niederhingen bis zu ihm; Und dort hinter seinem Gatter hatte angesichts der Ufer ein Tulpenbeet geblüht. Die stillsten aller Blumen standen dort so sanft und so gerade! oh Weide von Territet! Oh stille Tulpen, mit denen ich gewesen war! Was blieb ich am Gitter hängen, die Hände an die Schläfen gepreßt, der Knecht mit dem Talent des einzigen Gedankens? Törichte Hoffnungen hatten mich schon wieder hingerissen, denn der Winter unserer Leiden stand noch aus. Der Stein aber, mit dem ich mich schleppe, zermalmt mir das Hirn. Wer legt das Fundament des sich immer schroffer nach innen ziehenden Baues, mit den immer abweisender sich schließenden immer geheimeren Pforten, durch keine andere Gewalt zu sprengen, als jene, welche der Himmel leidet.
Die Theorie einer immer strengeren Auslese — der Natur selber entnommen —, weit entfernt, eine hochfahrende zu sein, ist ja die demütigste der Welt. Keine führt so tief in unser Inneres hinab, um aufs neue dasselbe Schauspiel wie nach außen zu enthüllen. Denn hier sieht sich der Berufene noch einmal einem ganz ähnlichen Kampfe überwiesen. Wie unbegreiflich sind oft seine Schwächen! ebensovielen untergeordneten Wesen vergleichbar sind sie gegen ihn in Aufruhr und sind beständig die Schlingen gelegt. Daß der Gerechte siebenmal des Tages fällt, konnte nur ein Gerechter äußern. Zwar ist sein Merkmal, sich immer wieder aufzurichten und einzuholen. Aber jedes versagen läßt an Boden verlieren, die Gelegenheiten sind gezählt, und eines Tages ist man hinter sich zurückgeblieben. Keiner ist auserwählt, der sich nicht durch eigene Kraft dazu vermochte. Berufener und Auserwählter, wie gefährdet sind beide! Denn so manchen, der seinen behielt, stürzte ein Laster von seiner Höhe.
* *
*
Und nun kam ein Tag, an dem Montreux, bunt wie ein Jahrmarkt, den tollsten Anblick bot, seitdem es stand. Alle Länder der Erde — bis auf die paar niedergerungenen — beflaggten das Ende des Krieges. Und nicht nur an den Dächern und von den Fenstern, den Mauern und Toren, sogar an den Menschen selbst schlugen Fahnen hin und her; von den Jacken, den Hüten, ja den Händen der Kinder zogen Fähnchen auf. Schon sprangen die internierten Offiziere mit sehr deutlicher Siegermiene (kannte man die nicht von Potsdam her?) von den Autos ab. Es war ein allgemeiner Jubel, von Hohn und Verwünschungen untermischt. Wer diesen Tag hier erleben mußte, der erwartete nichts. Dem kündete sich der Geist des Friedens von Versailles und Saint Germain. Das jubelnde Gewoge, die Saturnalien von Fahnen raubte mir die Fassung. Ich lief meinen hervorbrechenden Tränen davon, die Häuser entlang, am Bureau des Hotels vorbei, in mein Zimmer hinauf, wo ich mir den Schleier vom Gesicht riß: ein Klageweib! — Prophetin meines eigenen Schicksals, als ich zu Anfang dieses Krieges schrieb: „Leute wie wir, werden am Tage des Sieges sich verkriechen müssen, denn immer wird es Jerusalem und seine Kinder sein, um die wir weinen werden.“
Die Hungerblockade blieb von den Siegern, die für Recht und Menschlichkeit gekämpft hatten, über den erdrückten Gegner, auch nach Einstellung der Feindseligkeiten, verhängt. Und es lag, wie Rolland mir vorhergesagt hatte, nicht im Interesse der Sieger, die edle und gepeinigte Opposition in Deutschland zu stützen. Eine unsympathische Regierung als Aushängeschild des deutschen Volkes aufrechtzuerhalten, gehörte vielmehr zu den strategischen Notwendigkeiten dieses Winters der Friedenspräliminarien von Versailles. Da ich kein Kriegsbuch schreibe, seien die nächsten Monate überschlagen.
Während dieser Zeit fuhren die Militaristen aller Länder fort, sich wacker in die Hände zu arbeiten, und über jede Härte und Unmenschlichkeit der Alliierten triumphierten die Anstifter der Verwüstungen und Deportationen. Denn so kam doch ihre Mühle wieder ins klappern, und das Wort von der „erdolchten Front“ schnupperte aushorchend in der Luft. Damals wurde ich aufgefordert, so manchen ganz vergeblichen und würdelosen Appell zu unterzeichnen, mit dem Hinweise, früher hätte ich zu protestieren gewußt, jetzt, wo die Untaten von der andern Seite geschähen, schwiege ich mich aus. Ich zog es aber vor, auch hier meine Kundgebung solo zu verfassen; sie erschien in der Neuen Zürcher Zeitung.
Denn sie hatten ja recht: es galt zu sagen, daß diese ganze Welt ununterschiedlich des Teufels war. Traurig stimmte es nur, daß all die Mahnrufe und das viele Aufbegehren aus den Reihen derer stammten, die vielfach kein Recht dazu besaßen, während sie schwiegen, die wirklich Unschuldigen, abscheulich in Stich gelassenen, Betrogenen, die während des Krieges auf Gefahr ihres Lebens ungenannt und langen Mutes vor Gottes Angesicht das wahre Deutschtum vertraten.
In der Opposition entdeckten sie jetzt alle ihr Herz. Mit welch herrlichem Gefühl und welch aufrichtendem Stolze stand Heinrich Mann der Republik zu Pate! dort riß nicht ein einziger aus; bei dem vielverfolgten Lichnowsky, laut des Friedensvertrages tschechisch gewordenen Magnaten, angefangen, der sich als Deutscher erklärte; was ich wirklich nicht erwähnen würde, hätten nicht so viele Patrioten aus ihren Papieren fremdländische Patente herausgeklügelt und sich mit einem Male als Schweden, Schweizer, Holländer, sogar als Engländer präsentiert. Die beste Illustration für den Nationalismus, die es geben kann.
Jenes Wort, welches mir seinerzeit so verübelt wurde, daß es Boches in jedem Lande gäbe, sollte sich übrigens nur zu sehr bewahrheiten. Jeder Militarist, gleichviel welcher Staatsangehörigkeit, ist ein Boche. Und wenn er Schimpanse zu Aufsehern eines Volkes bestellte, das der Welt einen Grünwald geschenkt hat, so wäre er eben ein Boche; jener Grünwald aber, ob er sich ihn noch so oft holte, ei, der bleibt deutsch.
Als ich um die Blütezeit zum ersten Male wieder das deutsche Ufer des Bodensees sah, war ich von der Pracht seiner Bäume bewegt. Diese wenigstens konnten dem armen und geschlagenen Lande nicht genommen werden. — Und diese eben hatte es dem andern mit großer Genugtuung meilenweit abgehackt. Es ist ja das typische Merkmal des Militaristen, zu glauben, daß er den andern trifft, wo er sich selber entehrt.
Mit dem Berner Internationalen Sozialistenkongreß, dem seit August 1914 einzigen Ereignis von wahrhaftem Sein, das mitzuerleben mir vergönnt war, schließt dieses Buch.
Hoch über den Bernina-Alpen und dem Julier türmten sich die Wolken zu goldenen Toren und zu glühenden Rossen. Phaeton, wieder erstanden, lenkte sie wieder, die italische Ebene im Angesicht. Die Spuren der Räder, waren sie nicht der Rauch, der am Himmel verflog, während nach Norden hin das Gebirge zu Tod erblaßte? Auch der nach Süden gerichtete Wald starrte unter der Last des Schnees. Doch die Luft wehte so befiedert leicht über ihn hin, und es herrschte ein Licht wie über Palmen. Man hatte Glatteis unter den Füßen und war dem Winter entronnen.
Aber Fortunios Gesicht war wie zerhöhlt von Ungeduld. „Haase ist schon in Bern,“ sagte er, „der Kongreß ist im Gang. Wir müssen hinab.“
Da es der erste war, dem ich beiwohnen sollte, verband ich weiter keine Vorstellung mit ihm, als die mehr oder minder langweiliger Reden, und ohne sonderliche Erwartungen betrat ich zum ersten Male den Saal. Kein Delegierter aber drängte von nun an eiliger zu ihm zurück. Oft war er in der Mittagspause noch geschlossen, als ich schon davor wartete.
Zu den Morgensitzungen ging Frau v. Schreckenburg mit mir. Nachmittags saß ich am Tische mit Fortunios, vor uns die Franzosen. Da waren Renaudel, Cachin, Longuet, Rappaport, Loriot, Faure, dann kam der englische Tisch mit Henderson, Macdonald, Norman Angel. Von dort leuchtete das leichte Gold von Mrs. Snowdens Haar. Sie trug keinen Hut. Der schöne, zarte und energische Kopf war der Lichtpunkt des Hauses. Die Deutschen und Österreicher saßen ganz vorn, zu weit entfernt, um sie zu unterscheiden, es sei denn, daß sie sich erhoben.
Bleich, abgezehrt, den schmalen und ehrwürdigen Kopf ein wenig seitwärts, stahl sich im fahlen Schein des Wintervormittags der, eben von der Bahn gekommene Eduard Bernstein bescheiden herein. Die französischen Sozialisten sahen ihn zuerst, eilten auf ihn zu und begrüßten ihn stürmisch. Daraufhin erhob sich der ganze Saal zu einer Ovation. Wie frohlockte da mein undemokratisches Herz!
Als Viktor Adler auf das Podium trat, gaben wiederum die Franzosen das Zeichen zu einem lang andauernden Applaus. Adler war der Motor des Kongresses. Unerbittlich die Mitte einhaltend, wies er jede Parteilichkeit schroff zurück, von welcher Seite sie auch stammte; ihm war das gleich. Sein blasser Löwenkopf tauchte dann zum Angriff auf: „Un homme politique, mais pas de bonne politique“, forderte er Renaudel heraus. Seine Stimme klang wie Erz. Aber allen Differenzen, Vorwürfen, Ausreden, Angriffen zum Trotz fing eine Einigkeit sich herauszuschweißen an, und wie unter einem glühenden Hammer stoben Funken zu einer Garbe auf. Haß schmolz zu Mitgefühl. — Zwar wurde jenen deutschen Delegierten, welche die Politik ihres Landes zu verteidigen suchten, prompt die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zu Gemüte geführt, stellten aber dann ihre Angreifer den deutschen Militarismus immer wieder allein an den Pranger, so wurden sie regelmäßig von Zwischenrufen wie: „Et le militarisme français! et le nôtre! et tous les militarismes!“ von der französischen Linken unterbrochen.
Überhaupt war dieser französische Block der beste, der wärmste. Von ihm ging das Unbehagen aus, wenn ausschließlich das deutsche Sündenregister stieg. Scheu, Zartgefühl, Respekt (ja Respekt!) vor dem Geschlagenen (weil geschlagen), sie stammten von dort. Und schon gärte die Atmosphäre wie ein starker Wein. Klug wie ein Erzengel ließ der hochaufgerichtete Huysmans mit dem schönen Donatellokopf bei den Reden, die er französisch und englisch übersetzte, alles Unwesentliche fallen. Oft waren sie lebendiger als im Original. Behender löst kein Eichkätzchen die Haselnuß aus ihrer Schale.
Ach, so viele gute Menschen waren hier! Unbeweglich, als wäre er nur eine Zimmerpalme, hielt sich unser aller A. H. Pax im Hintergrund; und wie Kerzenlicht im Mittagsscheine tauchte bald hier, bald dort Fortunio unauffällig auf.
Hin und wieder kam in Frack und weißer Binde, pour finir sa soirée, ein Attaché gegangen und wirkte in dieser so weit vorgreifenden Luft wie eine Varieténummer aus einer veralteten und komisch gewordenen Welt. Der eine oder andere blieb gebannt, und die Geschniegeltheit fiel von ihm ab.
Die Fürstin Patschouli aber war sehr ungehalten, was sie nicht hinderte, mir zwischen zwei Sitzungen ihren stärkenden Kaffee zu brauen. Sie wollte wissen, wer mich denn so interessierte. Ich nannte einige. „Quels noms!“ sagte sie, zum Himmel emporblickend.
Als Partei interessierte mich ja der Sozialismus so wenig wie jede andere. Aber das Ergebnis der kapitalistischen Ära war ein wirrer Knäuel ineinander verbissener Verbrecher, und es war eine Welt, welche der Sozialismus jedenfalls nicht bereiten half. Er hatte keinen Teil an ihr. Deshalb nur gab es keine andere Brücke als ihn, denn er war nur ein Weg, der weiterführt, indem er zurückgelegt und überwunden wird, niemals ein Ziel.
Woher kam es aber, daß er, der angeblich auf rein materialistischer Grundlage beruhte, er allein unter allen Parteien, ohne Anstoß zu erregen, christliche Gleichnisse anführen durfte. Warum, statt Schamröte in die Stirn zu treiben, war es so rührend, wenn der geistvolle Longuet, der auf dem Podium auf und ab zu gehen pflegte, während er sprach, ein Zitat aus den Evangelien gebrauchte, oder wenn Mrs. Snowden eine Rede mit den Worten schloß: denn wir sind Brüder?
Nach ein paar Tagen kannten wir einander fast alle. Einmal fielen wir an eine Tafel aus im geschlossenen Raum; eine unbändige Heiterkeit bemächtigte sich unser, aber wir blieben sitzen. Ich spielte mich auf die Wirtin auf und machte die Tischordnung, als sei das Essen von mir, A. H. Pax vermißte die Schnäpse, und wir kamen nicht aus dem Gelächter. Etwas in unserer Befreitheit erinnerte dabei ganz deutlich an jenes Gastmahl im Neuen Testament, von welchem der nicht im Feierkleide erschienene Eindringling in die äußerste Finsternis zurückgewiesen wurde. So hatten auch wir keine unsicheren Gestalten hereingelassen.
Ich werde mich schwer hüten zu sagen, wer meine Tischnachbarn gewesen sind. In streng geschiedenen Gruppen, die einander nicht mehr kannten, fanden wir uns im Saale wieder ein. Denn wie der Chor der Gefangenen in „Fidelio“ wußte man sich belauscht mit Aug’ und Ohr, und vermied es, von Lager zu Lager sich zu grüßen.
Er bildete die große Orgelpause des Kongresses. Um so lebhafter war in der Stadt das hin und her. Als ich die Treppe des Hotels Bellevue hinabging stieß ich mit Kurt Eisner zusammen. Er war schwarz und ganz neu angezogen. Auch der schwarze Schlapphut war neu. Wir wechselten ein paar Worte. Ich kannte ihn zwar noch nicht, aber so hielt man es in jenen Tagen.
Leider war mein Zimmer winzig klein. Um Raum für den Kaffeetisch zu schaffen, mußte das Bett zum Sofa werden, und ich schüttete Kissen gegen die Wand. Um fünf Uhr erschien Haase. Der niedere Kragen, Kleidung, Struktur waren die eines Mannes aus dem Volk. Dabei lag in der Haltung des Rückens und der Schultern eine ungemeine Würde. Aber wenn sie Widerstand und Energie ausdrückten, so sprachen sie auch von rücksichtslosem Verbrauch sich verzehrender Kräfte.
Auf dieser Figur eines Arbeiters saß ein Kopf, ganz beherrscht von stark auseinanderliegenden, majestätisch geweiteten Augen. Psychologisch viel zu neu, um an einen Rembrandt zu erinnern, schien er zugleich durch die Straffheit der bis zum Reißen gespannten Züge und ihr tragisches Kolorit nach begeisterten Evokationen seines Pinsels zu rufen. Wie der Ratsherr einer noch nicht errichteten Stadt — die Leidenswerkzeuge unsichtbar im Wappen eingetragen —, so blickte, so ging, so bewegte sich Haase, so saß er jetzt in unserer Mitte, die Zeit besprechend und die Gefahren des revolutionären Deutschlands. Wir hörten zu. Es wäre falsch, von Ahnungen zu reden. Die Bangigkeit um einen Mann von Haases Edelsinn und Güte war ganz instinktiv.
Plötzlich klopfte es. Die Stimmung und Geborgenheit unseres Zusammenseins war mit großem Geklirre dahin. Bestürzt sah ich Eisner eintreten, den ich doch gebeten hatte. Aber eine so andere Zone des Geistes brach mit ihm ein. Er trug sich wie am Morgen komplett in Schwarz, kein Stäubchen, vom schwarzen Schlapphut bis zu den Stiefeln (wie um die Reporter lügen zu strafen, die seine nachlässige Kleidung verkündet hatten). Halb Wotan, halb Konfirmand — grau, nur der schüttere Bart und die müde Farbe des Gesichtes. — Fortunios und ich saßen jetzt zu dritt auf dem Bett, und alle allgemeineren Themen traten vor dem besonderen der bayrischen Revolution zurück.
Eisners romantische Schwäche für Bayern verriet sich sogar in einem hin und wieder freiwillig angeschlagenen Dialekt, dessen Unnatur etwas rührendes hatte. Und so war es mit der Revolution; sie war das Abenteuer seines Herzens, sein Geniestreich; was aber an dem Bilde fehlte, war die Kenntnis Bayerns: die Bayern, die sich hinreißen lassen, sind nicht dieselben, die sich wieder eines anderen besinnen . . .
Etwas an München wird vielleicht noch lange bewirken, daß neue Sterne darüber aufgehen, etwas bewirkt aber, daß sie schnell wieder zu verlöschen drohen, günstige Konstellationen geraten dort sogleich mit entgegengesetzten in Brand. Eisner erzählte wie ein Rhapsode und besaß kein Ohr für das vielfältige Rauschen der mitten im Sturm entrissenen Meeresmuschel. Dies gab seinem Liede den schrillen und beängstigenden Ton. Haase das Wort abschneidend, erzählte er von dieser und jener Episode, die alles verderben sollte, und wider erwarten alles gelingen machte. Und Haase ließ ihn, wie ein älterer Bruder gewähren. Bei ihm war die Basis viel breiter; er wirkte harmonisch wie eine Orgel, die Macht war die Sache für ihn, für Eisner dagegen war sie die Arie, seine Bravourarie, an die sein Ohr sich fing. Nur wer näher zusah, gewahrte inmitten der scheinbar selbstgefälligen Glorie den erloschenen, weltabgewandten Blick und die bereite, heroische Absage an das Leben. Zu Haase gewendet: „Das wäre der Gipfel meiner Laufbahn,“ sagte er, „mit blauweißen Fahnen gegen Preußen zu ziehen.“
Aber „Fahnen“ hatte er gesagt. Fahnen, Feste, Ansprachen, solcher Art waren die sündenlosen Waffen, zu welchen er griff. Für so ehrwürdige Ansichten belehrte ihn die rohe Kugel eines besseren, und schlug sich dies musische Haupt gegen das Pflaster zu Tode.
Spät verließen wir an jenem aufregenden Abend meine Zelle: die beiden Delegierten gingen noch zu einer Ausschußsitzung; viel zu erschöpft und aufgewühlt, um allein zurückzubleiben, aß ich mit Fortunio zu Nacht. Lange sprachen wir noch von den beiden. Er meinte, Eisner sei viel zu feinfühlig, als daß ihm entgangen wäre, wie sehr wir Haase vorgezogen hatten. Nun hatte ich einen neuen Grund, bedrückt zu sein.
Leider reiste Haase schon am nächsten Morgen ab, und wir andern saßen wie gewöhnlich im „Volkshause“, als, eine große Stille entstand, weil Eisner das Podium betrat. Es war aber der Morgen jenes Tages, an dem er seine denkwürdige und verhängnisvolle Rede zugunsten der Gefangenen hielt. Sie begann mit einer schonungslosen Preisgabe der deutschen Kriegführung, deren Verbrechen er nicht beschönigte, deren Recht, etwas zu fordern, er vielmehr verneinte. Dann eine abrupte Wendung nehmend, stellte er fest, daß in keinem Lande die Gegner des Krieges so tief gelitten hätten wie die deutschen, und mit jedem Worte wurde sein tonloses und dabei scharfes Organ gebieterischer. Es war unerhört, wie Eisner jetzt über sich selbst hinauswuchs. So buchstäblich war der Geist über ihn, daß seine Person nur mehr wie ein von ihm verlassener und vergessener Schatten die Tribüne behauptete. Was nun verlautete, war ein Plädoyer für Deutschland, wie es niemals ergreifender formuliert wurde. Seine kalte Stimme beibehaltend, die in die Gemüter schnitt, enthüllte er die ganze Tragik seines unglückseligen Volkes. „Die Stimmen derer, welche im Kampf um die Ideen einer besseren Welt namenlos in den Kerkern verblichen,“ rief er schneidend den fremden Delegierten zu, „drangen nicht bis zu euch! Stumm verbluteten sie.“
Im Namen jener neuen und besseren Welt verlangte er die Freigabe der zurückgehaltenen Gefangenen.
Man hielt den Atem an.
Da stand ein Entronnener aus eben jener Schar stummer Blutzeugen für die Ideen der Gewaltlosigkeit der Wahrheit und der Menschenliebe. Dies war ihr Los wie vor 2000 Jahren!
In Eisner hatte der Kongreß wohl seine eindrücklichste Figur. Mochte er durch seine Parteilichkeit für Renaudel bei den Radikalen einigen Widerspruch erregen, so stellte sich bald heraus, daß er gerade dadurch seine Vorschläge durchzudrücken verstand, wie überhaupt die Taktik eine große Rolle bei ihm spielte.
Als ich das Haus verließ, standen Fortunios unten an der Treppe und schienen auf jemanden zu warten. Ich wandte mich um; Eisner ging langsam, allein und vollkommen versonnen die Treppe herab. Er hielt eine rote Nelke mit etwas abstehender Geste, wie um sie zu schützen, daß sie nicht zu Schaden komme. Steif, fast geziert, die Schultern mit barocker Würde tragend, bot er einen wahrhaft phantastischen Anblick. Wir begrüßten ihn. Er sah uns erloschenen Auges an und erwiderte kein Wort. Hätten aber urplötzlich die Türen sich geteilt und Teppiche unter den Füßen der mit großem Zeremoniell vorgeführten Esther entrollt, ich wäre nicht erstaunt gewesen. Assuerus! dachte ich. Ein fast gespensterhaft abstrakter, beschämend unverjudeter, rein biblischer Jude stand da vor uns. Und siehe! — Hier war zum ersten Male wieder dasjenige Israel, aus welchem merkwürdigerweise der Begriff des Christentums mit der Gestalt seines Stifters, der Begriff des unjüdischen also, die Welt der Mystik, des erblassens, der Gotik hervorging. So dachte ich, stockenden Herzens . . .
Ich sah Eisner noch einmal, als er im Begriffe stand, mit Renaudel nach Basel zu fahren. „Wenn ich stürze,“ sagte er, „ist in München der Bolschewismus unvermeidlich. Die geistige Verwirrung der Jugend ist zu groß.“ Überhaupt sprach er sehr oft von seinem Sturz. Ich glaube, die Entfernung ließ ihn die allgemeine, wie seine besondere Situation sehr scharf und nüchtern übersehen.
Gerade die Illusionen, die phantastischen Züge in diesem bedeutenden Menschen, die springenden Schatten machten ihn zu der Shakespeareschen Gestalt, als die wir ihn heute sehen. Wir aber, die in Bern Zeugen der ungeheuren Wirkung seines Auftretens waren, welche Werbekraft für Deutschland er dort entfaltete, welch stürmische Sympathien für Deutschland er dort erweckte, oh welch bitterlichen Eindruck machte es auf uns, in München nicht etwa die Züge dieses heldenhaften Vorläufers, nein, das unbesonnene Leutnantsgesicht seines Mörders in den Auslagen vorzufinden, dessen hirnloses und unheilvollstes Verbrechen die Schrecken der Räteregierung und alle Greuel, die von links, und dann von rechts daraus erfolgten, verursachte. Mag ein Herr Studiosus die Frei(spruch)kugel gegen mich drehen, dafür, daß in diesem wahrscheinlich vielgelesenen Buche diese Wahrheit steht.
Für den letzten Tag war eine Rede Macdonalds über den Bolschewismus angesagt; aber der Tag verging, ohne daß er hervortrat. Die Lichter brannten schon lange, und es war Abend geworden, als man ihn endlich erblickte. Es sprachen viele, deren Organ im Halse stecken und auf die langweiligste Weise eins mit demselben blieb. Der deutsche Dolmetsch ging deshalb schwer auf die Nerven. Bei jenen Delegierten hingegen, welche die Rednergabe besaßen, hob sich nach wenigen Minuten die Stimme von ihnen fort, um wie ein Albatroß ganz für sich allein die gewichtigen Schwingen auszubreiten. Dieser Prozeß vollzog sich auch bei Macdonald. Sein Organ erfüllte den Saal mit Wohllaut, als käme es gar nicht von ihm, sondern hinge nur infolge eines rhythmischen Gesetzes mit seiner Miene und den Bewegungen seiner Arme zusammen. Die Rede war ein Warnungsruf an den hohen Rat in Versailles, die Zeichen der Zeit zu verstehen, und sie verglich den Bolschewismus mit einem Brande, der, hier halb erstickt, dort scheinbar gelöscht, immer wieder hervorbrechend und unter der Asche weiterglimmend, an der Verblendung des Imperialismus seine Nahrung fand.
Da ich kein Wort verlieren wollte, schlängelte ich mich langsam durch die Zuhörer, hart bis zur Rampe vor, und hatte so zum ersten Male den ganzen Zuschauerraum vor Augen. Der Saal verlor auch bei Lampenschein nichts von seiner Schmucklosigkeit. Unschön war er und kahl. Sein Glanz, seine Erlesenheit waren rein innerlich. Sie gingen von den Menschen aus, welche hier tagten. Nicht die Zartheit freilich, noch der Reiz eines seit Generationen vor rauhen Kontakten geschützten Lebens, sondern Anstrengung, Leidenschaft und Begeisterung durchleuchtete sie so stark, daß jenseits dieses alltäglichen Raumes alle Alltäglichkeit, jenseits seines nüchternen Scheines alle Nüchternheit zu liegen schien. Der Winter der Menschheit sank hier zu Grabe. Von Feuerzungen war die Luft durchbebt, und eine Pfingstatmosphäre brauste durch die Türen über die Treppen dahin, bis hinab in die Gassen des nächtlichen Bern. Und sie würde, ob auch der kommende Morgen diesem Fest das Ende bereitete, nach allen Himmelsrichtungen wehen. Ich zweifelte daran nicht. Ich hoffte schon wieder!
Natürlich waren auch geringere zugegen. Aber nicht sie gaben den Ausschlag. Hier herrschte der Wert. Rang und Vortritt waren hier durch das Talent, das Verdienst, die Lauterkeit bestimmt, und ein Wille zur Güte hatte sich durchgerungen.
Mit einem Blick des Hohnes war ich vorhin an Telramund vorbeigegangen, alle Krallen gezückt, weil er sich vermessen wollte, mich zu grüßen, und fast wäre ich dabei über seine Bocksfüße gestolpert. Nein! Hier richtete der nichts aus. Hier war er schachmatt. Warum kam er denn her? — — Auch er — zum ersten Male fiel es mir auf — hatte allen Sitzungen beigewohnt und war einer der regelmäßigsten Besucher gewesen. Oh, nicht nur er! — Die ganze Rotte saß ja hier! — und die Kontrolle war doch so streng! Aber die Rotte war vollzählig hier! — Durch die Ritzen der Türe hätte sie noch einzudringen gewußt. Wo hatte ich die Augen gehabt all die Tage hindurch, ich Verblendete! Im Ernst wähnend, hier würde die Schwelle zu einer neuen Welt gelegt, derweil sie täglich zerfiel.
Die Schützlinge der Militärspionagen, von welchen erst die eine, dann die andere den Verständigungsfrieden hintertrieben hatte, tagten hier als Delegierte des Teufels, den verschiedensten Nationen entspieen. Wie emsig sie notierten! — Oh wie fleißig sie die niedrigen Stirnen gesenkt hielten, um alles zu nichte zu schreiben, was hier von Völkerversöhnung gesprochen wurde! Und wie gesittet sie dasaßen, diese Wölfe im Schafpelz, die sich innerlich eins lachten über den sabotierten Kongreß. Und sie waren geduldet! — selbst hier! — Die Spreu durfte auch hier, ungesichtet, den Weizen verderben. Ach, es gehört zu den Merkmalen dieser Zeit, daß die Dinge noch schlimmer zu kommen pflegen, als die Schwarzseher sie künden, und noch heißer gegessen werden, als gekocht.
So ahnte ich noch nicht, daß die verstümmelten Berichte der Eisnerschen Rede, deren erster Teil einfach unterschlagen wurde, schon munter unterwegs waren, und seine anonymen Mordanstifter, wohlgeschützt unter der Flagge einer Zeitung, sich für die furchtbaren Wahrheiten und Anschuldigungen, die er in diesem Hause der Presse aller Länder ins Gesicht zu schleudern wagte, ein für alle Male gerächt hatten.
Die Stimme Macdonalds drang nur mehr undeutlich zu mir. Es war doch jedes Wort vergebens. Mochte er den Bolschewismus an die Wand malen! Mit ihm stand es gewiß, wie Rolland sagte. Bot nicht jede Partei genau dasselbe Bild von ein paar ehrlichen und ehrenwerten Männern, die ein fürchterlicher Zulauf überschwemmt? jene paar Vortrefflichen, deren Kampf allein ersprießlich und von Interesse wäre, tragen ihre Gegensätze abseits voneinander aus. Sie sind nicht so zahlreich, Europa nicht zu groß für eine einzige Arena. In Wirklichkeit ist der Klassenhaß (statt des Klassenkampfes) ein ebensolcher Humbug wie der Haß der nur nach Frieden lechzenden Völker. Wer aber diesen Saal mit den angeblich so scharf bewachten Toren näher ins Auge faßte, ließ alle Hoffnung fahren. Den Schleier Penelopens woben sie hier! Es gab ja keine gute Sache, solange der Nichtswürdige sich zu ihr bekennen durfte und statt der Gesinnung die Meinung den Ausschlag gab. Freie Bahn den Tüchtigen! oh nein! Erst geschlossene Bahn den Unwürdigen! Die andere Parole bleibt so lang die leereste der Phrasen! Hatte nicht Telramund in seinem eigensten Blatt eine „Partei der anständigen Leute“ beantragt, wie um diesem Gedanken den Fluch der Lächerlichkeit auf immer anzuhaften. Oh Zarastro! Herr des Tempels mit den unauffindbaren Toren, der nur den Geprüften mit Macht belieh! Von allen, die heute leben, wird keiner den Bau betreten, zu dessen Grundlegung ich Steine herbeischleppen möchte. — Das Gerüst allein dürfte die Arbeit von Generationen sein, sein Ausbau die von Jahrhunderten vielleicht. Vielleicht sind die ewig unvollendet gebliebenen Kathedralen sein Symbol. Aber worauf es, wie gesagt, ankommt: er ist möglich.
Die richtige Einsicht, daß es (merkwürdigerweise) niedrige und hohe Menschen gibt, führte folgerichtig zu Rang- und Standesunterschieden. Bei ihrer Aufrechthaltung aber gerieten jene Ungleichheiten, welche doch erst die Berechtigung solcher Klassifikationen bilden, immer mehr außer acht, und bei dem Schrittmachen, das im Schwunge blieb, mischte sich in immer gemeinerer Weise das Bestreben über jene Distanzen, welche der Wert zwischen den einzelnen liegt, hinwegzusehen. Das Mißverständnis artete immer wilder aus: der königliche Mozart speiste mit dem Gesinde, und ein lakaienhafter Kavalier warf ihn mit einem Fußtritt ohne weiteres vor die Türe. In der Tat, wir wissen alle, was wir der französischen Revolution verdanken. Doch, als sie das falsche Spiegelbild in edler Empörung zerschlug, wurde mit diesem drastischen Vorgehen leider erst recht nur eine halbe Maßnahme getroffen.
Kein Mißbrauch wurde an der Wurzel gefaßt, vielmehr entrann der Missetäter froh durch die Türe. So brach die französische Revolution wie das Christentum, dem sie entsprang, in sich selber zusammen, und wir sind heute wie bankrotte Leute, die von vorn anfangen müssen. Wir stehen wieder am Anfang aller Tage: das heißt am Ende. Denn für das erkennende Auge sind ja die Menschen längst in jene zwei Lager zerfallen, von welchen geschrieben steht. Freilich ist vorläufig erst der Aufmarsch der Böcke geglückt. Unsere Absicht, ihrem Konsortium entgegenzutreten, dürfte ein frommer Wunsch verbleiben, solange wir jene geheimnisvolle Tatsache nicht ergründeten, daß die von schlechten Instinkten Gemeisterten so viel deutlicher die Hochgesinnten herausspüren, als diese sich unter sich erkennen. Diese dunkle und rätselhafte Tatsache birgt Perspektiven, die sich wie weite Zimmerflüchte nach allen Richtungen, reich an Verborgenheiten, ziehen.
Um Machtfragen werden sich nach wie vor die Dinge drehen, und nach wie vor wird sich herausstellen, daß es nichts neues unter der Sonne gibt. Macht wird vor Recht gehen, denn Macht geht vor Recht. Es ist Sache des Rechts, die Macht an sich zu reißen, eine neue Realpolitik zu ermöglichen, nicht ausdrückbar durch Lüge, Feuer und Mord; eine Exekutive zu befestigen, welche die aus Lüge, Feuer und Mord errungenen Vorteile verachten, und Lüge, Feuer und Mord nicht ausspielen würde gegen Lüge, Feuer und Mord. Sache des Rechts ist es, die Bahn solcher Gewalthaber zu bereiten. Ach die Heftigkeit, mit welcher wir unsere Notsignale abgeben, hindert nicht, daß sie unter dem Druck grauser Langeweile aufziehen, und unser eigner Pathos lastet mit der ganzen Öde eines Frondienstes auf uns. Denn es sind zukünftige, für ein feineres Ohr heute schon monströse Gemeinplätze, die wir hier äußern.
Ende
Von
Annette Kolb
erschien im gleichen Verlag:
DAS EXEMPLAR
Roman. 5. Auflage.
Man hat durchaus das Gefühl, daß dieses Buch zu jenen gehört, die unter einem starken inneren Drange, einem unwiderstehlichen, geschrieben werden. Ein Bekenntnis. Aber eins von solcher Keuschheit, solcher Verhülltheit, trotz aller Enthüllung subtilster seelischer Vorgänge, wie es uns nur zu selten gemacht wird. Gerade diese Schilderungen erweisen die hohe Vollendung von Annette Kolbs sprachlichem Ausdrucksvermögen, das ihr jedoch nie zum Selbstzweck wird.
B. Z. am Mittag.
Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen Seiten, ist Kultur. Es gibt wenig Bücher, die so scharf wie dieses die Zeitseele enthüllen. Und im übrigen ist das Buch reich an allerlei entzückenden Dingen. Man wird in ihm sehr heimisch in London und auf den Landsitzen der Gesellschaft. Denn das Buch vereint wirklich zwei selten verträgliche Eigenschaften: geistige Tiefe und Charme. Es ist nicht nur ein bedeutendes, sondern auch ein liebenswürdiges Buch.
Die Zeit, Essen.
Ein feines, stilles Buch von einer romantischen Dichterin über eine romantische Frau. Es wird in diesem Buch von den letzten Dingen gesprochen.
Berliner Tageblatt.
Druck von Frankenstein & Wagner, Leipzig.
Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):